Spiritual Care statt Seelsorge?

Spiritual Care statt Seelsorge?

von: Doris Nauer

Kohlhammer Verlag, 2015

ISBN: 9783170289079

Sprache: Deutsch

240 Seiten, Download: 4125 KB

 
Format:  EPUB, PDF, auch als Online-Lesen

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Spiritual Care statt Seelsorge?



Teil 2


Entstehungs- und Expansionsgeschichte von Spiritual Care


1.         Wurzelgrund Hospizbewegung


„Das aktuelle Konzept von Spiritual Care ist weder in den Theologien noch in der Religionswissenschaft entstanden, sondern in den Gesundheitswissenschaften, v.a. in der Palliativmedizin… und Psychoonkologie.“1 Eine These des Mediziners Eckhard Frick, der zwar prinzipiell zuzustimmen, die aber dennoch entscheidend zu modifizieren ist. Obgleich das theologie-verdächtige Wort ‚Spiritual‘ als Leitbegriff fungiert, entstammt Spiritual Care tatsächlich keinem theologischen oder religionswissenschaftlichen Kontext. Dass Spiritual Care jedoch als ein Produkt moderner Medizin zu begreifen ist, wie Frick suggeriert, indem er auf die medizinischen Fachdisziplinen Palliativmedizin und Psychoonkologie verweist, entspricht nur insofern der Realität, als eine der wichtigsten WegbereiterInnen von Spiritual Care nicht nur als Krankenschwester und Sozialarbeiterin, sondern eben auch als Ärztin tätig war.2

Die Rede ist von der Engländerin Cicely Saunders (1918-2005), die als Pionierin der modernen Hospiz- und Palliativbewegung gilt, weshalb Martina Holder-Franz, die sich intensiv mit Saunders beschäftigt hat, kommentiert: „Sie hat in mehr als vier Jahrzehnten einen internationalen Einfluss auf die Entwicklung der palliativen Arbeit ausgeübt. Noch heute inspiriert sie Menschen auf allen Kontinenten und in verschiedenen Kulturen, sich für die verbesserte Pflege und Begleitung von Menschen am Lebensende einzusetzen.“3 Saunders, die sich auf Schmerztherapie spezialisiert hatte, führte im Hospital Neuerungen wie die regelmäßige Abgabe von Schmerzmitteln, das Führen detaillierter Krankengeschichten und die Einbeziehung von Angehörigen/ehrenamtlich Tätigen in die professionelle Begleitung von PatientInnen ein. Ermutigt und finanziell unterstützt durch PatientInnen, die sie in engem persönlichen Kontakt begleitete, fasste sie den Plan, eine spezielle Einrichtung für todkranke Menschen aufzubauen: St. Christopher’s Hospice, dessen Gründung im Jahr 1967 den offiziellen Beginn der Hospizbewegung markiert. Erklärtes Ziel von Saunders war es, Sterbenden einen wortwörtlichen Schutz-Raum zu eröffnen, in dem sie nicht nur auf dem neuesten Stand von Medizin und Pflege versorgt, sondern auch spirituell von hauptberuflich und ehrenamtlich Engagierten aktiv begleitet mit ihrer Verzweiflung, ihren Fragen, Sorgen, Ängsten und Hoffnungen am Ende ihres Lebens nicht alleingelassen werden. Niemand soll das Gefühl vermittelt bekommen, für Angehörige und Betreuer nur noch eine Last zu sein. Jedem soll die Möglichkeit eröffnet werden, möglichst schmerzfrei seine letzte Lebensphase als geschenkte Lebenszeit in einer mit-menschlichen Atmosphäre bewusst erleben zu dürfen. Aufgabe des Hospiz-Teams und der Angehörigen ist es, den sterbenden Menschen behutsam zu um-sorgen und ihn entgegen damals gesellschaftlich vorherrschenden Tabuisierungs- und Verdrängungstendenzen dazu zu ermutigen, nicht nur über den eigenen Tod sprechen, sondern ihn auch annehmen zu können.

In einem 1979 erschienen Aufsatz schrieb Saunders, dass sich ihr Verständnis von Terminal Care einem ganzheitlichen philosophischen Ansatz verdankt. Alle von ihr favorisierten Theorien und Praxisformen leiten sich aus der Grundüberzeugung ab, dass Menschen am Ende ihres Lebens einen tiefgehenden Schmerz empfinden, der alle Dimensionen ihrer Existenz in Mitleidenschaft zieht. Total Pain umfasst demnach sowohl eine körperliche (physical), psychische (mental), soziale (social) und spirituelle (spirtual) Dimension. Soll der sterbende Mensch in seiner Ganzheit wahr- und ernstgenommen werden, dann gilt es, keine der genannten Dimensionen im Umgang mit ihm zu vernachlässigen.4 Dementsprechend plädierte Saunders für eine Form von Total Care bzw. Rounded Care, wobei sie ausdrücklich darauf hinwies, dass gerade spirituelle Nöte oftmals die tiefste Ursache von Schmerzerfahrungen aller Art sein können. Ob Saunders den Terminus Spiritual Care zur Bezeichnung der spirituellen Begleitung Sterbender bereits in den Anfangszeiten der Hospizbewegung benutzt hat, ist gegenwärtig umstritten. Während für Martina Holder-Franz außer Frage steht, dass Saunders nicht nur ein Spiritual-Care-Konzept entwickelte, sondern sich auch „von Anfang an für den Terminus Spiritual Care entschied“5, weshalb sie ihn zumindest in Gesprächen oftmals benutzte, resümiert der Palliativmediziner Gian D. Borasio: „Ihre Arbeit mit den Patienten war, ohne dass sie es explizit so bezeichnete, im weitesten Sinne Spiritual Care, wie wir es heute nennen.“6 Fakt ist, dass Saunders als weltoffene anglikanische Christin zutiefst christlich inspiriert handelte: „Wer die Biographie von Cicley Saunders (1999) liest, erahnt, dass die Hospizbewegung tiefe religiös-christliche Wurzeln hat. Saunders betrachtete das Hospiz als christliche Institution fernab von missionarischen Absichten. Für sie stellten Achtung vor der Integrität der Sterbenden, empathische Zuwendung und spirituelle Begleitung christliche Werte dar, die auf der Liebe Gottes zum Nächsten basieren.“7 Die Verankerung ihres Care-Konzeptes im christlichen Gottes-, Nächsten- und Selbstliebe Ethos verlangt entgegen damals vorherrschenden gesellschaftlichen Vorstellungen keine Ausrichtung an einem gefühlsaufgeladenen, romantischen Liebes-Ideal, das alle Beteiligten unter Druck setzt und/oder überfordert, sondern stellt die Voraussetzung dafür dar, sich allen Sicht- und Glaubensweisen vorbehaltlos zu öffnen, den Blick nicht nur auf leidende Menschen, sondern auch auf un-christliche Umgangsweisen und Strukturen zu lenken, weshalb Martina Holder-Franz folgenden Schluss zieht: „Die christliche Spiritualität, die in der Liebe gründet, führt bei Saunders somit weder in eine Beliebigkeit, noch in einen Fundamentalismus…“8

Mit ihrem Care-Concept war Saunders ihrer Zeit – d.h. sowohl den damaligen medizinischen, als auch den damaligen theologisch-seelsorglichen Standards – weit voraus:

 Ihr öffentlichkeitswirksames Votum, sterbende Menschen nicht als medizinisch ‚austherapierte Fälle‘ zu betrachten, ihnen nicht unnötige Schmerzen zuzumuten, sie nicht zum Sterben in Abstell- und Badezimmer zu verfrachten und alles, was mit Tod und Sterben zu tun hat, nicht länger zu tabuisieren, war zugleich ein Votum gegen den vorherrschenden Medizinbetrieb der 6oiger Jahre, der trotz aller unbestreitbaren medizinischen Erfolge von vielen Menschen als un-menschlich erlebt wurde.

 Ihr Votum für Spirituelle Begleitung als integralem Bestandteil christlich inspirierter ganzheitlicher Sterbebegleitung war nicht trotz, sondern gerade wegen ihres persönlichen christlichen Hintergrundes zugleich ein Votum dafür, weder missionarische Zielsetzungen verfolgen, noch die Zugehörigkeit Sterbender und deren Angehörigen zu einer bestimmten Religions-, Konfessions- oder Kirchenzugehörigkeit voraussetzen zu dürfen.

Während sich das Hospiz-Konzept Cicley Saunders sowohl in Europa (v.a. in den skandinavischen Ländern) als auch in Übersee (v.a. in den Vereinigten Staaten, Kanada und Australien) schon Mitte der 70iger Jahre rasch ausbreitete,9 stieß es ausgerechnet in Deutschland bis Anfang der 90iger Jahre auf erbitterten Widerstand. Warum aber war dies der Fall? Zum einen, weil Themen wie Sterben und Tod infolge des Zweiten Weltkrieges gerade in Deutschland oftmals verdrängt wurden. Zum anderen, weil Hospize fälschlicher Weise als Sterbekliniken diffamiert wurden und neugegründete Euthanasiegesellschaften für ein selbstbestimmtes Sterben plädierten, was angesichts der Euthanasie-Verbrechen im Dritten Reich starke Abwehrmechanismen hervorrief: „Noch in den 70iger Jahren sprachen sich die Kirchen dezidiert gegen den Bau von ‚Sterbekliniken‘ aus… Als das Bundesministerium für Jugend, Gesundheit und Familie im Jahr 1978 eine Anfrage nach einer Befürwortung des Baus von Sterbekliniken in Deutschland durchführte, waren die Stellungnahmen der befragten Kirchen, Wohlfahrtsverbände, Krankenhausgesellschaften und Einzelpersonen ablehnend.“10 Es dauerte daher noch Jahre, bis das erste Hospiz in Aachen seine Arbeit 1986 aufnehmen und noch weitere zehn Jahre, bis ein Gesetz zur Förderung stationärer Hospize erlassen werden konnte.

Seither ist die Hospizbewegung als eine Art Menschenrechtsbewegung „zu einer der bedeutendsten Bürgerbewegungen Deutschlands avanciert.“11 Eine sowohl von ExpertInnen als auch von Laien getragene Bewegung, die nicht nur gesellschaftlich verdrängte Themen auf die öffentliche...

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