Versorgt und vergessen - Ehemalige Verdingkinder erzählen

Versorgt und vergessen - Ehemalige Verdingkinder erzählen

von: Marco Leuenberger, Loretta Seglias

Rotpunktverlag, 2013

ISBN: 9783858695727

Sprache: Deutsch

340 Seiten, Download: 1323 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Versorgt und vergessen - Ehemalige Verdingkinder erzählen



Armut und Kinderarbeit in der Schweiz


Marco Leuenberger


Zeiten der Not

Das Verdingkinderwesen in der Schweiz ist eng mit dem Begriff der Armut verknüpft. Im Kontext der Zeit ist damit die ungenügende Versorgung mit lebenswichtigen Gütern wie Essen, Obdach oder Kleidung zu verstehen, im Gegensatz zur neuen Armut, worunter Mangel an Lebensqualität verstanden wird.

Tatsächlich führten viele Menschen in der Schweiz auch im 20. Jahrhundert ein sehr kärgliches und entbehrungsreiches Leben. Die Furcht vor elementarem Mangel prägte das Lebensgefühl weiter Bevölkerungskreise in der Stadt und auf dem Land.1 Während des Ersten Weltkrieges und speziell in den beiden letzten Kriegsjahren 1917/18 führten durch Militärdienst bedingte Erwerbsausfälle sowie Teuerung und Inflation zu großer Not. So mussten im Juni 1918 über fünfzehn Prozent der Schweizer Bevölkerung behördlich unterstützt werden.2 Der Strukturwandel in der Landwirtschaft, die großen Wirtschaftskrisen der Zwischenkriegszeit (1921/22 und 1932 bis 1939) sowie der Zweite Weltkrieg ließen in breiten Kreisen der Bevölkerung Not und Armut anwachsen.

Ärmere Handwerker-, Arbeiter- und Bauernfamilien lebten in bescheidenen Verhältnissen. Elektrizität oder fließendes Wasser wurden in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erst nach und nach installiert. Der Wohnraum war bei den oft vielköpfigen Familien knapp, und nicht selten schliefen die Kinder zu zweit oder zu dritt im selben Bett in ungeheizten Zimmern. Die Möglichkeiten bezüglich Ernährung, Bildung oder Hygiene waren eingeschränkt. Kinder armer Eltern blieben häufig von bestimmten sozialen Aktivitäten ausgeschlossen und konnten kaum am öffentlichen Leben teilnehmen. Die Verarmung war bisweilen derart gravierend, dass selbst die Grundbedürfnisse knapp befriedigt werden konnten.3 Tausende bewegten sich an der Grenze des Existenzminimums oder sogar darunter. So erstaunt es nicht, dass es Lebensberichte von Zeitzeugen gibt, die in den Krisenjahren der 1920er- und 1930er-Jahre von ihren Eltern zum Betteln ausgeschickt wurden oder wie Ernst Wessner, Werner Bieri und Armin Stutz zuhause Hunger litten.

Gelegenheiten, um Rücklagen für Notzeiten zu machen, gab es angesichts der knappen Ressourcen selten. Eine Krankheit, ein Unfall oder ein anderes unerwartetes finanziell belastendes Ereignis konnten das fragile ökonomische Gleichgewicht einer Familie schnell aus dem Lot bringen. Deshalb wurde beispielsweise ein Arztbesuch manchmal möglichst hinausgezögert, bis es zuweilen zu spät war oder ein lebenslanges Leiden resultierte. Verschärfend kam für Bedürftige hinzu, dass einzelne Armutsrisiken wie Krankheit, Unfall oder auch Arbeitslosigkeit noch kaum mit Versicherungen minimiert waren und namentlich die Alters- und Hinterbliebenenversicherung (AHV/IV) erst 1948 eingeführt wurde. Nicht von ungefähr führten Unfall oder Tod eines oder beider Elternteile – neben der unehelichen Geburt zwei der Hauptgründe für die Verdingung von Kindern – regelmäßig zum Auseinanderbrechen der Familiengemeinschaft. Die bürgerliche Familie mit dem Familienvater als alleinigem Ernährer war das Ideal einer oberen Mittelschicht, welches für einen Großteil der Bevölkerung nicht zutraf.

Die Familie als Arbeitsgemeinschaft

Vergleichbar mit heutigen Entwicklungsländern, zwang unsagbare Not auch in der Schweiz viele Eltern, ihre Kinder frühzeitig in den Arbeitsprozess einzugliedern. Die Kinder waren für das Funktionieren der familiären Produktionsgemeinschaft unentbehrlich. Die Arbeit wurde je nach Alter und Stärke zugeteilt. Die Kinder ermöglichten damit der Familie ein zusätzliches und oft dringend notwendiges Einkommen. Kinder armer Familien wurden auch häufig tagsüber auf Bauernhöfen beschäftigt, um sie zumindest »ab der Kost« zu haben. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein hatten daher Kinder aus bedürftigen Familien »mit vier, fünf Jahren bei den Feldarbeiten mitzuhelfen«4.

Kinderarbeit war somit nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Eine Alternative gab es nicht. Symptomatisch lautet denn auch eine immer wiederkehrende Aussage: »Es isch früecher haut eifach e so gsi!« (Es war früher eben einfach so). So war es durchaus nichts Außergewöhnliches, wenn – Ernst Wessner und Hans Unglück bringen es ebenfalls zum Ausdruck – die Kinder ohne Lehre gleich nach der obligatorischen Schulpflicht in der Landwirtschaft oder in einer Fabrik eine Stelle antraten und ihre Einkünfte bis zur Volljährigkeit (mehr oder weniger freiwillig) ihren Eltern überließen. Je ärmer die Familie war, umso größer und wichtiger war der Beitrag der eigenen Kinder.

Daraus darf indessen nicht automatisch der Schluss gezogen werden, dass alle in solchen Verhältnissen aufgewachsenen Kinder unglücklich waren. Eltern konnten durch Zuwendung, Wärme und durch die Vermittlung eines Zusammengehörigkeitsgefühls gewisse Aspekte der Armut durchaus kompensieren. Viele Betroffene erinnern sich trotz aller Armut an eine glückliche Kindheit.

Unzureichende Vorschriften

Das im Jahr 1877 erlassene eidgenössische Fabrikgesetz brachte zwar unter anderem das generelle Verbot von Kinderarbeit unter vierzehn Jahren in der Industrie. In der Landwirtschaft hingegen, wo eine Großzahl der Verdingkinder und Kinder bedürftiger Eltern eingesetzt wurden, wurde die Arbeit nie gesetzlich geregelt. Erst mit der Revision des Kindesrechts von 1978 hätte der gesetzliche Schutz auch für die Verdingkinder gegolten. (Siehe auch »Gesetzliche Entwicklung«, S. 81.)

Beschwerden über allzu lange Arbeitszeiten für Kinder waren zwar häufig: Immer wieder wurde geklagt, dass die im Vergleich zur Fabrikarbeit prinzipiell gesündere Beschäftigung in der Landwirtschaft durch die lange Arbeitszeit gerade ins Gegenteil verkehrt werde.5 Bestrebungen zur Arbeitszeitregelung in der Landwirtschaft setzten indessen erst spät ein.6 All die Vorstöße blieben Makulatur, zu verschieden waren die Interessen, zu groß war der Widerstand in landwirtschaftlichen und hausindustriellen Kreisen gegen einen solchen Eingriff in ihre persönliche Freiheit. Eine Regelung scheiterte nicht zuletzt auch an der föderalistischen Einrichtung der obligatorischen Schulpflicht.

Erschwerend kam für Verdingkinder hinzu, dass Fürsorgekreise seit der Reformation harte Arbeit für arme Kinder propagierten. Nicht das Wohlergehen des Kindes, des Individuums, stand im Vordergrund, sondern das Wohlergehen des Staates. Arbeitsamkeit, Fleiß und Tüchtigkeit galten bis ins 20. Jahrhundert als erstrebenswerte Erziehungsziele, insbesondere für fremdplatzierte Kinder. Die im 19. Jahrhundert gängige Vorstellung der selbstverschuldeten, genetischen oder durch Faulheit bedingten Armut ist auch im 20. Jahrhundert im Umgang mit Verdingkindern noch stark spürbar.7 Fürsorgekreise sahen in der Sozialdisziplinierung ein Mittel, um bei Unterschichten bürgerliche Verhaltensweisen und Arbeitsdisziplin durchzusetzen.8 Die Arbeit war das Mittel, mit dem sich das arme Kind in die bürgerliche Gesellschaft integrieren sollte. Man ging vom Grundsatz aus, dass die Kinder so viel wie möglich zu ihrem Unterhalt beitragen sollten. Mit seiner Arbeitsleistung erbrachte es einen aktiven Beitrag zum Funktionieren dieser Gesellschaft, es zahlte der Gesellschaft gleichsam die Aufwendungen zurück, die sie für seine Ausbildung leisten musste. Viele Pflegeverhältnisse waren daher von rückständigen Erziehungs-, Moral- und Strafvorstellungen geprägt.

Während heutzutage bei der Bekämpfung der Armut sogenannte kompensatorische Maßnahmen ins Auge gefasst werden, indem zum Beispiel die schulische Leistung der in Armut aufwachsenden Kinder gefördert wird, trat dieser Aspekt bei den Verdingkindern klar in den Hintergrund. Erst im Laufe des 20. Jahrhunderts standen nicht mehr nur rein finanzielle Aspekte im Blickfeld, sondern man begann sich zunehmend um das leibliche und geistige Wohl des Kindes zu kümmern.

Der Arbeitseinsatz in der Landwirtschaft von Kindern im Allgemeinen und von Verdingkindern im Besondern scheint erst dann bedrohliche Formen angenommen zu haben, als die Landwirtschaft durch die Abwanderung von Arbeitskräften unter dem zunehmenden Dienstbotenmangel zu leiden begann.9 Wiederkehrende Klagen lassen darauf schließen, dass mit der Verknappung von Arbeitskräften in der Landwirtschaft bereits seit anfangs des 19. Jahrhunderts die Anforderungen an die Kinder stiegen und die Kinderarbeit in diesem Erwerbszweig ein nie erreichtes Ausmaß annahm. Die Schicht der Verdingkinder stellte dabei seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sowohl für die Behörden als auch für landwirtschaftliche Kreise jenes Reservoir dar, aus dem die Lücken im Dienstbotenstand aufgefüllt werden sollten....

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