Was uns durch die Krise trägt - Ein Generationengespräch

Was uns durch die Krise trägt - Ein Generationengespräch

von: Frido Mann, Marina Weisband

Theiss in der Verlag Herder GmbH, 2023

ISBN: 9783806245936

Sprache: Deutsch

176 Seiten, Download: 1157 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Was uns durch die Krise trägt - Ein Generationengespräch



Frido Mann: Wenn ich die Lage der Demokratie in Deutschland beschreiben soll, die Gefährdungen unserer Demokratie, möchte ich zunächst auf die Weimarer Republik zurückblicken, auf ihr Verhaftetsein in einer autoritären Denkweise. Der Rahmen war ja wunderbar – die Gesetzgebung und die ganzen Strukturen, die geschaffen worden waren –, aber die Menschen, die dann Projekte wie z. B. das Frauenstimmrecht umsetzen sollten, waren noch nicht so weit. In Verwaltung, Militär, Gerichten saßen Altjunker aus der Kaiserzeit, die noch darunter litten, dass Deutschland den Krieg verloren hatte, denken Sie an die Dolchstoßlegende. An dieser Inkompatibilität zwischen Strukturen und der vorherrschenden Mentalität ist das Ganze gescheitert.

Was unsere Bundesrepublik betrifft, so habe ich vor vielleicht zehn Jahren mit einem Germanisten gesprochen, der war damals schon sehr alt und konnte sich noch an die Nazi-Zeit erinnern, die er als Kind erlebt hatte. Der sagte, er würde immer noch zusammenzucken, wenn er irgendeinen Beamten in Uniform sähe, und wenn es nur ein Postbote sei – eben weil Uniformierte in der Nazizeit eine Gefahr waren.

Ich glaube, das ist immer noch ein bisschen so. Auch Menschen, die sich als Demokraten verstehen, die sich in einem demokratischen System gut fühlen und sich damit identifizieren, kleben immer noch an einem hierarchischen Denken. Diese Tendenz zur Unterwürfigkeit gegenüber Höherstehenden ist immer noch nicht überwunden. In der Schweiz ist das anders. Da gibt es andere Probleme, aber das nicht. Auch Titel sind dort nicht so wichtig wie in Deutschland. Das hat immer noch etwas zu tun mit dem Verhaftetsein in Strukturen, die nicht demokratisch sind – ohne dass die Menschen sich dessen bewusst sind.

Das sind also unterschwellige Dinge, die Deutschland immer in einer gewissen Weise prägen. Und es ist auch ein Generationenproblem, die älteren Leute haben das stärker in den Knochen. Ich frage mich, wie man dagegen vorgehen könnte.

Marina Weisband: Wir haben viel Untertanendenken überwunden über die Generationen. Aber wir schaffen gleichzeitig neue Untertanenbedingungen. Es ist schwer, diese größere Gleichheit und Selbstwirksamkeit zu erreichen, wenn man in unterbezahlter Arbeit feststeckt, wenn man sich völlig machtlos und überflüssig fühlt. Darum ist eine der großen Gefahren für die Demokratie auch immer die größer werdende Schere zwischen Arm und Reich.

Das ist eine Frage von Sozialpolitik, und das ist eine ganz knallharte politische Frage, da reicht Nachbarschaftshilfe nicht aus. Direkte Hilfe ist super und notwendig, aber gleichzeitig darf man nicht die große Politik aus den Augen verlieren, darf man nicht aufhören zu kämpfen für soziale Gerechtigkeit.

FM: Das Verschwinden des Mittelstandes ist ein Problem.

MW: Zeiten des Umsturzes und Zeiten von Verschwörungstheorien sehen wir historisch ja immer dann aufflammen, wenn großer Reichtum sehr sichtbar, aber gleichzeitig unerreichbar ist. In solchen Zeiten leben wir gerade.

Dieses Ungleichgewicht ist auf mehreren Ebenen schrecklich. Erstens verstärkt es sich selbst, weil Geld mehr Geld schafft. Zweitens schafft es diesen sozialen Neid und das Gefühl von »ich bin nichts wert«. Und drittens sind natürlich die reichen Leute auch diejenigen, die sich völlig unproportional planetare Ressourcen nehmen, die dann einem anderen fehlen und die uns eine Zukunft des Friedens und des Wohlstands verunmöglichen.

FM: Wir reden derzeit viel über Oligarchen, aber wir reden nicht so sehr über andere Superreiche, die genauso oder anders ebenfalls eine Gefahr darstellen, weil sie häufig Absichten gegen den Staat haben, gegen die Sozialpolitik.

MW: Natürlich haben die allerreichsten internationalen Unternehmen Absichten gegen den Staat, denn sie sind mächtiger als der Staat, und wenn der Staat ihnen nicht in die Quere kommt, könnten sie noch mächtiger werden. Also handeln sie quasi aus Eigeninteresse antidemokratisch.

Gerade im deutschen Kontext gibt es da einen wichtigen Faktor. Wenn ich mir so die reichsten Familien anschaue, woher die ihr Geld haben, denke ich: Auch meine Familie hätte ein Erbe haben können. Aber Familien wie meine haben oft für die reichsten deutschen Familien Zwangsarbeit geleistet. Meine Mutter sieht einfach der Altersarmut entgegen, wie die meisten Kontingentflüchtlinge in Deutschland. Das ist die bittere Realität: Die meisten Juden in Deutschland sehen einer Altersarmut entgegen. Ungerechtigkeit vererbt sich mit Gelderbe. Das sind diese Ungerechtigkeiten, die viel schwerer zu beheben sind als durch das Niederlegen von Blumenkränzen. Das ist die knallharte Realität.

Darum bin ich auch so skeptisch bei der Frage: Könnten Unternehmen nicht auch moralisch handeln? Ich glaube, nicht, ich glaube, da darf man nicht naiv sein. Die Anreizstrukturen sind so, dass Unternehmen nicht moralisch können.

FM: Da muss man sie vielleicht umwandeln. Man sieht ja z. B. bei Wohnungsbaugenossenschaften, die wirklich Genossenschaften sind, dass eben nicht die Ansage kommt: Wir erhöhen jetzt die Mieten. Es gibt ja die Möglichkeit zum Genossenschaftstum und so einen Gründungsboom auf kleinerer Ebene – aber das ist halt nicht da, wo das Kapital ist.

MW: Viele Themen wirken riesig und unüberwindbar, und sie erzeugen bei Menschen wie mir extremen Frust. Es gibt Jugendliche, die kämpfen gegen den Klimawandel, andere gegen steigende Mietpreise, wieder andere gegen ein ungerechtes Steuersystem. Und man hat das Gefühl, gegen Windmühlen zu kämpfen, man hat das Gefühl, einem völlig übermächtigen Feind gegenüberzustehen und gar nichts ausrichten zu können. Es sind so viele Baustellen, es gibt so viel, was so falsch läuft in der Welt.

Darüber verliert man dann oft das Große. Aber mein Plädoyer, Blumen zu pflanzen oder öffentliche Räume zu schaffen oder in der Schule mitzubestimmen, darf auf gar keinen Fall gewertet werden als ein Rückzug in diese Themen. Sondern ich glaube, dass auch die großen politischen Themen klein anfangen, und ich glaube, es sollte die Aufgabe von jedem von uns sein, ein Projekt rauszusuchen, ein Thema: ein Wald, der stehen bleiben muss, eine Enteignungs-Demo einer großen Immobiliengesellschaft, ja, ein Ding, nur eins. Man tut sich mit anderen Menschen zusammen, die an dieser einen Sache arbeiten. Man muss klein anfangen, um nicht desillusioniert zu werden, und es ist die Beständigkeit, die wichtig ist – nicht, dass man mit großer Kraft rangeht und alles umschmeißt, was gewesen ist.

Wie beim Kampf für Bürgerrechte, wie bei der Aufklärung, wie beim Kampf um die Demokratie an sich. Es gab so viele Rückschläge, und es gab so viele Menschen, die dagegen waren, scharfes Interesse hatten, dagegen zu sein. Wichtig ist die ständige gemeinsame Arbeit, ständiges Einanderwieder-Aufbauen, Einander-Heilen, Einander-Mut-Machen, auch durch die Kunst, die dabei produziert wurde, die Musik, die dabei produziert wurde, den Glauben, den es dazu gab. Es ist so wichtig, immer weiterzumachen, auch wenn man scheitert, und noch mal anzufangen und noch mal, bis man entweder Erfolg hat oder stirbt.

FM: Eine Person, die ich menschlich überaus schätze, hat ihren Job gewechselt und ist, angesichts des sehr anderen Geisteshintergrunds ihrer vorherigen Arbeitsstelle für mich etwas erstaunlich, in die Krupp-Stiftung eingestiegen, an hoher Stelle. Sicher gibt es in der Stiftung Menschen, die es gut meinen, aber ein Unternehmer mit besten Beziehungen zum NS-Staat, der von Zwangsarbeit profitiert hat, der sogar nach dem Krieg inhaftiert war, der Verbrechen begangen hat – dann eine Stiftung zu gründen? Was kann denn da noch Gutes dran sein?

MW: Gib dein Geld ab!

FM: Gerade Krupp! Ich denke an ein Stück Mann’sche Familiengeschichte: Die Familie Krupp, die hatte das Gefühl, man muss Alfried von Krupp ein bisschen reinwaschen, da muss man doch irgendjemanden finden, der die Geschichte etwas beschönigt. Mein Onkel Golo erzählte mir, dass die Familie Krupp bei ihm eine Biografie in Auftrag gegeben hatte, und da hat er eine geschrieben. Und als er die abgegeben hatte, haben die ein Haar in der Suppe gefunden, irgendeine Stelle, wo er gewagt hatte, ein bisschen Kritik zu üben. Ich weiß nicht, was er da gesagt hat, es muss aber sehr klein und unwichtig gewesen sein. Aber die Familie wollte nicht, dass das an die Öffentlichkeit kommt, sie haben Golo fürstlich ausbezahlt, damit er still bleibt – und weg, das Buch ist verschwunden. Das war in den 1980er-Jahren. Fast vierzig Jahre später hat sich die Krupp-Stiftung zusammen mit dem Auswärtigen Amt und anderen namhaften deutschen Stiftungen am Stipendiatenprogramm in dem 2016 von der deutschen Bundesregierung erworbenen Thomas Mann House in Kalifornien umfangreich finanziell beteiligt. Ich selbst habe als Honorary Fellow und auf meiner Lesereise durch die USA davon profitiert.

wbg: Zum Glück haben wir heute etwas andere Zeiten. Aber auch wenn die Aufarbeitung vielleicht ein bisschen besser ist, bleibt das Grundproblem.

MW: Aufarbeitung hin oder her, Bücher hin oder her – letzten Endes: Erbe vererbt...

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