Du bist so alt, wie du dich denkst - Warum positive Glaubenssätze beeinflussen, wie lange und gut wir leben - Wie Ageismus unserer Gesellschaft schadet

Du bist so alt, wie du dich denkst - Warum positive Glaubenssätze beeinflussen, wie lange und gut wir leben - Wie Ageismus unserer Gesellschaft schadet

von: Rebecca Levy

Mosaik bei Goldmann, 2023

ISBN: 9783641271381

Sprache: Deutsch

352 Seiten, Download: 2393 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Du bist so alt, wie du dich denkst - Warum positive Glaubenssätze beeinflussen, wie lange und gut wir leben - Wie Ageismus unserer Gesellschaft schadet



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Die Bilder in unseren Köpfen


Jeden Herbst bitte ich meine Studenten an der Yale University zu Beginn meines Kurses über Altern und Gesundheit an einen alten Menschen zu denken und die ersten fünf Wörter oder Floskeln zu notieren, die ihnen zu der oder dem Betreffenden einfallen. Es kann eine Person aus dem wirklichen Leben sein oder jemand, den sie sich ausgedacht haben. »Denken Sie nicht zu lange nach«, sage ich immer, »es gibt keine richtigen oder falschen Antworten. Schreiben Sie einfach die Assoziationen auf, die Ihnen in den Kopf kommen.«

Probieren Sie es an dieser Stelle auch einmal. Denken Sie an die ersten fünf Wörter, die Ihnen beim Gedanken an einen alten Menschen in den Sinn kommen. Schreiben Sie sie auf.

Wenn Sie damit fertig sind, schauen Sie sich die Liste an. Wie viele davon sind positiv, wie viele negativ?

Wenn Sie so veranlagt sind wie die meisten Menschen, stehen die Chancen gut, dass Ihre Liste mindestens einige negative Einträge enthält. Nehmen Sie die Antwort von Ron, einem neunundsiebzigjährigen Geigenbauer aus der Nähe von Boston: »Senil, langsam, schlecht gelaunt, dickköpfig.« Und nun dagegen die Antwort einer zweiundachtzigjährigen Frau namens Biyu aus China, die befragt wurde, als sie bei ihrem früheren Arbeitgeber, einer Bleistiftfabrik, ihren Rentenscheck abholte: »Weise, liebt die Peking-Oper, liest ihren Enkeln vor, läuft viel, freundlich.«

Diese beiden so gegensätzlichen Ansichten spiegeln das ungeheure Spektrum an Altersbildern, die in den verschiedenen Kulturen vorherrschen – Bilder, die Einfluss darauf haben, wie wir uns unseren älteren Angehörigen gegenüber verhalten, unsere Lebensräume gestalten, die Gesundheitsfürsorge organisieren und unser Gemeinwesen gestalten. In letzter Konsequenz bestimmen diese Bilder, wie alte Menschen sich selbst sehen, und auch, wie gut sie hören, sich erinnern und wie lange sie leben.

Den meisten Menschen ist nicht klar, dass sie eine vorgefasste Meinung über das Altwerden hegen, dennoch tut es jeder, wo auch immer er zu Hause ist. Unglücklicherweise sind die meisten der vorherrschenden kulturellen Altersbilder heutzutage negativ.1 Indem wir diese Überzeugungen untersuchen, ihren Ursprüngen nachgehen und herausfinden, wie sie wirken, schaffen wir uns die Basis, nicht nur das Narrativ des Altwerdens zu verändern, sondern selbst die Art und Weise, wie wir altern.

Was sind Altersbilder?


Altersbilder sind mentale Gefüge, die abbilden, was wir von älteren Menschen aufgrund ihres Alters erwarten. Diese mentalen Zuschreibungen, zu denen oft Bilder in unseren Köpfen gehören, werden aktiviert, wenn wir Angehörige der fraglichen Altersgruppe wahrnehmen.

Wenn ich übrigens von »älteren Menschen« spreche, meine ich in der Regel jemanden, der mindestens in seinen Fünfzigern ist, aber es gibt hier wirklich kein festes Altersfenster. Wie »alt« wir uns fühlen, hängt nicht so sehr von der tatsächlichen Anzahl an Jahren ab, die wir auf dem Buckel haben, sondern vielmehr von kulturellen Auslösern, wie dem Anspruch auf »Seniorenermäßigungen« oder dem Zwang, in Rente zu gehen. Es gibt tatsächlich keinen einzigen biologischen Marker, der anzeigt, wann jemand alt geworden ist, das heißt, Alter ist ein fließendes gesellschaftliches Konstrukt. Das ist einer der Gründe dafür, dass Altersbilder samt den mit ihnen verknüpften Erwartungen so machtvoll sind: Sie definieren, wie wir unsere späten Jahre erleben.

Erwartungen sind in vielerlei Situationen höchst nützlich. Wenn wir auf eine geschlossene Tür zulaufen, können wir aufgrund früherer Erfahrungen davon ausgehen, dass sie entweder verschlossen oder aber unverschlossen ist. Wir müssen im Allgemeinen nicht damit rechnen, dass sie aus den Angeln fällt oder in Flammen aufgeht, wenn wir den Türgriff herunterdrücken. Wir können unserem Gehirn dankbar sein für diese Fähigkeit, Situationen blitzschnell, oft automatisch, visuell zu verarbeiten, sodass wir nicht ständig neu lernen müssen, wie eine Tür funktioniert. Wir können uns vielmehr auf das stützen, was uns bereits vertraut ist. Ziemlich genauso kommen wir tagtäglich durch diese Welt: Wir verallgemeinern und verlassen uns dann auf unsere Erwartungen.

Altersbilder sind natürlich Erwartungen im Zusammenhang mit Menschen und nicht mit Türen, aber sie funktionieren ganz ähnlich. Wie die meisten Stereotype oder mentalen Abkürzungen sind sie das Ergebnis natürlicher innerer Prozesse, die bereits bei Babys zu greifen beginnen und dazu beitragen, die überwältigende Masse an Reizen in der Welt zu sortieren und zu vereinfachen. Aber sie sind eben auch Produkte äußerer Quellen in unserer Umgebung wie Schulen, Filmen und sozialen Medien und der Voreingenommenheit in puncto Alter, die dort herrscht.

Strukturelle und implizite Altersfeindlichkeit zusammendenken


Stereotypisierungen laufen häufig unbewusst ab. Unsere Gehirne treffen ihre Entscheidungen bis zu zehn Sekunden, bevor wir uns dessen bewusst werden.2 Der Neurowissenschaftler und Nobelpreisträger Eric Kandel hat festgestellt, dass unser Verstand zu ungefähr 80 Prozent unbewusst arbeitet.3 Das alles ist gut und schön beim Griff zur Türklinke, aber wenn es um das Entstehen von Eindrücken oder um Entscheidungen in Bezug auf andere Menschen geht, sieht die Sache anders aus.

Stereotype sind Werkzeuge, derer wir uns bedienen – häufig ohne, dass es uns bewusst wird –, um unsere Mitmenschen rasch einzuschätzen. Einen Großteil der Zeit aber gründen sich diese Bilder nicht auf Beobachtungen oder gelebte Erfahrung, sondern werden unkritisch von unserem äußeren Umfeld übernommen.

Die meisten von uns denken gern von sich, sie seien imstande, andere Menschen einigermaßen fair zu beurteilen. In Wahrheit aber sind wir soziale Wesen, die unbewusste soziale Überzeugungen mit sich herumschleppen, die oft so tief in unserem Geist verwurzelt sind, dass wir normalerweise nicht merken, dass sie uns fest im Griff haben. Das kann bis zu einem Phänomen gehen, das man als »implizite Stereotype« oder »implizite Vorurteile« bezeichnet und das uns dazu bringt, bestimmte Gruppen von Menschen ohne adäquate Informationen zu mögen oder abzulehnen. Implizite Vorurteile sind schwer in den Griff zu bekommen und überhaupt erst zu akzeptieren, weil sie so häufig gegen das verstoßen, was wir im Kern eigentlich glauben wollen. Hinzu kommt, dass implizite Vorurteile sehr häufig Ausdruck von systemischer/institutioneller und struktureller Voreingenommenheit sind.

Von institutioneller Voreingenommenheit spricht man, wenn Politik und Praktiken gesellschaftlicher Akteure bestimmte Gruppen von Menschen benachteiligen, zum Beispiel wenn in Unternehmen bestimmte Gruppen von Arbeitern diskriminiert werden oder in Krankenhäusern gewisse Patiententypen aus dem Raster fallen. Vielfach ist strukturelle Voreingenommenheit mit impliziten Vorurteilen verquickt. Denn in Institutionen greift Diskriminierung vielfach, ohne dass Manager oder Ärzte sich ihrer bewusst sind, weshalb man sie als implizit betrachten kann. Gleichzeitig ist sie oftmals strukturell, da sie die Macht derjenigen stärkt, die die Autorität innehaben, und den jeweils Marginalisierten Macht vorenthält.

Um diese beiden Arten von Vorurteilen zu untersuchen, baten Wissenschaftler Kollegen – Leute, die sich in der Regel für objektiv und unparteiisch halten –, die Lebensläufe von männlichen und weiblichen Bewerbern auf eine Stelle zu bewerten. In nahezu allen Fällen fiel die Wahl auf Männer, denen überdies ein deutlich höheres Gehalt angeboten wurde als ihren weiblichen Mitbewerberinnen, obwohl die Lebensläufe mit Ausnahme typisch weiblicher beziehungsweise typisch männlicher Vornamen in jeder Hinsicht identisch waren.4 Ganz ähnlich verhält es sich mit kulturell bedingter rassistischer Voreingenommenheit: Studien zeigen, dass Bewerber, die typisch »weiße« Chiffren in ihre Lebensläufe integrierten, signifikant mehr Einladungen zu Bewerbungsgesprächen bekamen als solche ohne diese Schlüsselkennungen.5

Dieselbe strukturelle und implizite Voreingenommenheit manifestiert sich gegenüber älteren Job-Bewerbern als Diskriminierung qua Alter, im englischen Sprachgebrauch spricht man in diesem Falle auch von Ageismus. Einer Studie zufolge neigen Arbeitgeber bei anderweitig deckungsgleichen Lebensläufen dazu, die Stelle an den jüngeren Bewerber zu vergeben.6 Dieses Muster bei der Stellenvergabe zeigt sich immer wieder, obwohl Untersuchungen zuhauf demonstrieren, dass ältere Arbeitnehmer in der Regel verlässlicher und sachkundiger sind als jüngere.7 Ganz ähnlich neigen Ärzte, denen man identische Krankenberichte von Patienten mit gleichen Symptomen und gleicher Genesungsprognose vorlegt, dazu, bei älteren Patienten sehr viel seltener eine Behandlung zu empfehlen als bei jüngeren.8

Die Grenze zwischen struktureller und impliziter Voreingenommenheit ist schmal und ziemlich durchlässig. Kulturell bedingte Vorurteile infiltrieren unsere Überzeugungen und werden oft aktiviert, ohne dass wir es merken. Infolgedessen haben zahlreiche Studien ergeben, dass wir alle, egal, welche Einstellungen wir bewusst vertreten, unbewusste Voreingenommenheit hegen.

Gedankenlos laufen


Als jemand, der sich von Berufs wegen mit der Untersuchung von Stereotypen befasst, hielt ich mich für diesbezüglich wenig anfällig, aber natürlich gibt es einen Unterschied zwischen dem, was man zu wissen glaubt, und dem,...

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