Selbstbestimmt bis zuletzt - Sterbehilfe in der Schweiz. Vom Tabu zum Modell für Europa. Mit 36 Porträts

Selbstbestimmt bis zuletzt - Sterbehilfe in der Schweiz. Vom Tabu zum Modell für Europa. Mit 36 Porträts

von: Karl Lüönd

NZZ Libro, 2022

ISBN: 9783907291702

Sprache: Deutsch

320 Seiten, Download: 4067 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Selbstbestimmt bis zuletzt - Sterbehilfe in der Schweiz. Vom Tabu zum Modell für Europa. Mit 36 Porträts



1
Polizeieinsatz im Morgengrauen:
«Mitkommen, Herr Professor!»


Der Fall Haemmerli: Beginn einer grossen Debatte


Unterengstringen, Büelstrasse 30, ein Hochhaus, neun Geschosse. Es ist Montag, der 15. Januar 1975, 6 Uhr früh. Das Wetter ist ungewöhnlich mild an diesem Wintertag, es herrscht Föhn. In seiner Attikawohnung schläft Urs Peter Haemmerli (49) noch. Bald wird er sich bereit machen für einen langen Arbeitstag.

Da läutet die Türglocke. Von aussen ruft eine herrische Stimme: «Kantonspolizei! Aufmachen! Sofort!»

Damit beginnt eine der aufwühlendsten Affären im Schweizer Gesundheitswesen der Nachkriegszeit. Es geht im wahrsten Sinn des Worts um Leben und Tod. Haemmerli öffnet die Tür. Bewaffnete Polizisten in kugelsicheren Westen stürmen in die gepflegte Wohnung und halten den Hausherrn fest. Andere suchen nach Waffen und nehmen diese mit, darunter Haemmerlis Prachts- und Sammlerstück, eine Barockflinte mit Elfenbeinintarsien. Sie hängt, längst nicht mehr schussbereit, als Schmuck an der Wand.

«Mitkommen!» Nochmals dieser scharfe Befehlston! Haemmerli zieht sich an. In beschleunigtem Tempo, aber sorgfältig wie jeden Morgen bindet er die Krawatte.

Im Haftbefehl, den der Kommandoführer dem hochgewachsenen Endvierziger unter die Nase hält, steht «vorsätzliche Tötung».

Haemmerli ist Überraschungen und Stresssituationen gewohnt. Er bleibt ruhig, obwohl ihn der Vorwurf «wie ein Blitz» getroffen hat, wie er später berichtet. Wenigstens bleiben ihm die Handschellen erspart, und er darf noch sein Büro anrufen, wo er schon lange erwartet wird. Professor Dr. Urs Peter Haemmerli ist der Chefarzt der Medizinischen Klinik am Stadtspital Triemli, eines der grössten Krankenhäuser der Schweiz.

Der Tross setzt sich stadtwärts in Bewegung. Der Verhaftete steuert seinen silbergrauen Ford Mustang selber. Zwei Polizisten haben sich zu ihm ins Auto gesetzt. Haemmerli hat sich nur für den Vormittag abgemeldet, denn er rechnet mit einer schnellen Aufklärung.

Später berichtet der Arzt im privaten Kreis, er sei völlig überrumpelt worden und habe keine Ahnung gehabt, worum es überhaupt gehen könnte. Er habe an ein Missverständnis geglaubt.

Spezialist für schwierige Fälle


Urs Peter Haemmerli, geschieden, Workaholic, Sammler von Ikonen, Sporttaucher und Flugwildjäger, gilt als internationale Kapazität für schwierige Fälle in seinem Spezialgebiet, der Gastroenterologie. Zugleich ist er bekannt für seine direkte, manchmal schroffe Ausdrucksweise. Die hat er sich in langen Fortbildungsjahren in Amerika angeeignet. Leute wie ihn nennt man dort «outspoken».

Das Stadtspital Triemli gibt es erst seit fünf Jahren, aber seine Medizinische Klinik hat sich bereits einen internationalen Ruf erworben. In der Privatabteilung von Prof. Haemmerli liegt gerade eine Multimillionärin aus Brasilien mit einer noch ungeklärten, aber schweren und schmerzhaften Erkrankung. Nach einer Irrfahrt durch europäische Klinken hat ihr ein deutscher Professor den Rat gegeben: Wenn jemand helfen kann, dann ist es Haemmerli in Zürich. Der gilt als Spezialist für seltene innere Erkrankungen. Die Frau sagt später zu Journalisten, ihr gehe es in Zürich zum ersten Mal seit Monaten wieder besser.

Stundenlang verhört Bezirksanwalt (Untersuchungsrichter) Hans-Ruedi Müller den Chefarzt; dann nimmt er sich Oberärzte, Assistenten und Pflegefachfrauen vor. Alle erhalten von der Spitalleitung ein strenges Redeverbot gegenüber Aussenstehenden, insbesondere den Medien. Bei Zuwiderhandlung wird mit Entlassung gedroht. Auf Müllers Liste stehen über 100 Namen. Von Montagmorgen bis Freitagmittag muss der Professor in Haft bleiben.

Unter den Augen der Polizisten darf Haemmerli kurz sein Büro aufräumen, sich aber nicht von seinen Mitarbeitenden verabschieden. Ein Oberarzt erinnert sich: «Als ich ihm im Korridor begegnete, sagte er mir nur: ‹Kämpfen, kämpfen!›»

Am Mittwochnachmittag, 36 Stunden nach der Verhaftung des Chefarzts, tritt Stadträtin Regula Pestalozzi vor den Gemeinderat der Stadt Zürich, das Gemeindeparlament, das sich jeweils an diesem Wochentag im historischen Rathaus an der Limmat zur Sitzung trifft. Sie ist verantwortlich für das Gesundheitswesen und gibt bekannt, Chefarzt Prof. Haemmerli sei in seinem Amt eingestellt worden. Die Gemeinderäte von links bis rechts sind fassungslos.

Zur selben Stunde lässt die Bezirksanwaltschaft (Untersuchungsrichteramt) Zürich im Büro 7 verlauten, dass auf eine Anzeige der Vorsteherin des Gesundheitsamts Pestalozzi hin eine Strafuntersuchung wegen des Verdachts auf vorsätzliche Tötung eingeleitet worden sei. «Es besteht der Verdacht, dass durch das inkriminierte Vorgehen der Tod dieser Patienten beschleunigt werden sollte.»

Die Patienten, die gemeint sind, sind seit Monaten gelähmt und bewusstlos; es besteht keinerlei Aussicht auf Heilung. Wochen zuvor hat Prof. Haemmerli in einem Gespräch mit Stadträtin Pestalozzi eindringlich reklamiert, es herrsche in seiner Abteilung alarmierender Platzmangel. Zeitweise stünden die Betten mit Schwerkranken auf den Korridoren, weil alle Zimmer belegt seien. Der Chefarzt will gehörig Druck machen, damit die Politikerin die Platzverhältnisse in der Klinik überprüft. Und wie immer nimmt er kein Blatt vor den Mund. Seiner Vorgesetzten sagt er, er sei nun dazu übergegangen, hoffnungslos kranken Patienten im letzten Stadium nur noch «leeres Wasser» zuzuführen. Damit wollte er sagen: kalorienfreie Flüssigkeit.

Hat er sich zu direkt ausgedrückt, sodass die Politikerin Angst bekommen hat?

In der Tat: Frau Pestalozzi erschrickt. Sie bespricht sich mit dem Staatsanwalt und erstattet schliesslich Anzeige, allerdings erst mehrere Wochen nach dem Gespräch mit dem Chefarzt. Dabei beruft sie sich auf eine Bestimmung im kantonalen Beamtengesetz, wonach eine Amtsperson, die in ihrer amtlichen Funktion Kenntnis von einer Straftat erhält, zur Anzeige verpflichtet ist.

Schlagzeilen in ganz Europa: der Beginn einer grossen Debatte


«Tausende von Anrufern blockierten gestern die Telefonzentrale des Triemli-Spitals», berichtete die Boulevardzeitung Blick am 17. Januar 1975. «Die Mehrzahl wollte ihre Sympathien für Prof. Haemmerli zum Ausdruck bringen.» In Haemmerlis Büro trafen in den folgenden Tagen Hunderte von unterstützenden Briefen ein. Reporter aus halb Europa drängten auf Interviews. Medizinische Fachgesellschaften im In- und Ausland nahmen Stellung, am deutlichsten der Ehrenrat der Ärztegesellschaft des Kantons Zürich. Dessen Präsident, Dr. Felix Fierz, liess sich wie folgt zitieren: «Wenn das wirklich so passiert ist, wie es von Frau Dr. Pestalozzi dargestellt wird, müssen viele Leute im Spital davon gewusst haben, und zwar über längere Zeit. Der Chef allein kann das nicht machen. Was da geschehen ist, ist Ausdruck eines echten, tiefgehenden Problems.»

Dr. Fierz widersprach ausserdem der Auffassung, der Fall Haemmerli sei etwas Aussergewöhnliches. Er sagte, dass wahrscheinlich auch in vielen anderen Kliniken der Schweiz ähnlich verfahren werde. Bei der von Haemmerli angewandten «Null-Kalorien-Ernährung» würden die Lebensfunktionen langsam abgeschwächt; der Patient sei dann «wie eine verlöschende Flamme». Er spüre kaum Beschwerden.

Auch als er wieder ein freier Mann war, hielt sich Haemmerli zunächst, wohl auf Rat seines Anwalts, mit öffentlichen Äusserungen zurück. Er sagte, er wolle die Aussagen seiner Untergebenen vor dem Untersuchungsrichter nicht beeinflussen und erklärte nur: «Ich stehe voll und ganz zu dem, was ich getan habe, und ich habe nichts getan, was ich nicht auch bei meiner Mutter oder meinem Vater getan hätte, wenn es richtig und nötig gewesen wäre.» Später betonte er: «Ich habe nie aktive Sterbehilfe betrieben.»

Stadträtin Pestalozzi geriet unter Druck. Ihre Erklärungen wirkten schwach und formalistisch: «Ich hatte keine politischen Beweggründe ausser dem einzigen, dass in einem öffentlichen Spital nichts vorkommen darf, was verboten ist. In dieser Frage gehen eben die Ethik des Arztes und die Ethik der Juristen weit auseinander. Ich bin Juristin, war lange Zeit Anwältin und kann diesen Fall nur juristisch sehen.»

Zehn Tage nach seiner Verhaftung, am 25. Januar 1975 gab Prof. Haemmerli seine Zurückhaltung auf und erklärte:

«Ich bin überwältigt. Sehr viele alte Leute haben mir geschrieben, auch Verwandte von Patienten, die ich einmal behandelt habe und natürlich auch Kollegen aus dem In- und Ausland. Eine 74-jährige Frau, die nach eigener Aussage nicht mehr lange zu leben hat, schrieb: ‹Ich wünsche mir vor meinem Tod nur noch, dass ich in den letzten Tagen meines Daseins von Ihnen oder einem gleichgesinnten Arzt behandelt werde.›»

Die geschickte Verknüpfung von Problem und Einzelschicksal, die rührende Erwähnung von Vater und Mutter: Auf einmal präsentierte sich der in der Öffentlichkeit zuvor unbekannte, in der Klinik für seine Direktheit gefürchtete Professor als einfühlender Arzt, als nahbarer Mensch, als guter Sohn.

Diese Vertiefung der Problemgeschichte zur menschlichen Seite hin entstand unter der Regie der politisch versierten PR-Agentur Farner, die von Freunden Haemmerlis mobilisiert worden war. Und sein Anwalt war nicht irgendeiner, sondern der berühmte Walter Baechi, der den Migros-Gründer Gottlieb Duttweiler in Dutzenden von Verfahren vertreten hatte und der sieben Jahre später als Mitgründer und erster Präsident der Vereinigung Exit für humanes Sterben hervortreten sollte. Der damalige Mandatsleiter bei Farner erinnert sich, Haemmerli sei vom Andrang der Medien überfordert gewesen und habe nicht nur Beratung, sondern auch Zuspruch gebraucht.

Legalisierung der aktiven...


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