Herausforderung angenommen! - Unser neues Leben mit Demenz

Herausforderung angenommen! - Unser neues Leben mit Demenz

von: Peter Wissmann, Leo Beni Steinauer, Rolf Könemann

Hogrefe AG, 2021

ISBN: 9783456761664

Sprache: Deutsch

176 Seiten, Download: 9364 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Herausforderung angenommen! - Unser neues Leben mit Demenz



|18|3.  Die Herausforderung beginnt – Wenn beim Kopfrechnen das Gehirn plötzlich streikt


Jeder Krise kann man nur mit absoluter Ehrlichkeit entgegentreten.

(Franz Schmidberger)

Irgendwann ist für Beni alles schwieriger geworden. Nicht nur für ihn, auch für die große Schuhhandelsfirma, bei der er nach wie vor als Filialleiter tätig ist. Neue Computersysteme und eine neue Software halten Einzug in den Verkaufsalltag. Seinen Beruf liebt er nach wie vor. Und nach wie vor gilt Benis Bestreben dem Wunsch, jeder Kundin und jedem Kunden den Schuh zu verkaufen, der haargenau zu dieser Person passt. Aber Computer und Beni, das will eher nicht so recht zusammenpassen. „Ich bin noch nie ein Computerfreund gewesen. Ich habe einfach keine Beziehung zu diesen Apparaten. Das war bis dahin auch kein Problem gewesen. Aber damals, das muss so um 2015 oder 2016 gewesen sein, ist ein Problem daraus für mich entstanden. Die Neuerungen in unserem Laden haben mich ins Schlingern gebracht.“

Rolf beobachtet das mit zunehmender Sorge. „Wir haben in unserer Branche ja immer schon lange Arbeitszeiten gehabt. Aber dass Beni nun oft auch an den Samstagen bis acht oder neun Uhr abends im Betrieb war, weil er jetzt immer viel am Computer nachzuarbeiten hatte, das hat mir gar nicht gefallen.“

Beni versucht, sich derweil tapfer zu schlagen. Er scheut sich nicht, Kolleginnen um Nachhilfe zu bitten. Die meisten zeigen ihm auch gern, wie er diese und jene Aufgabe am Computer bewältigen kann. Aber nach zwei oder drei Wochen hat Beni das Gezeigte auch wieder vergessen. Und es sollte noch schlimmer kommen. „Ich war im Rechnen, besonders im Kopfrechnen, immer richtig gut gewe|19|sen. Die Buchhaltung im Betrieb, das war gar kein Problem für mich. Und dann stehe ich eines Tages da, will wie in all den Jahren meine Buchhaltungsaufgaben erledigen und stelle plötzlich fest: Ich weiß nicht mehr, wie es geht! Alles weg! Von heute auf morgen! Was für ein schreckliches Gefühl!“

Beni spricht seine Stellvertreterin an. „Kannst du das bitte heute mal für mich übernehmen?“ Die springt gerne für ihn ein. Vermutlich denkt sie, dass jeder einmal einen schlechten Tag haben kann. Auch ein paar Tage später, als Beni sie wieder um Hilfe bitten muss, denkt sie das noch, auch wenn sie fragt: „Hast du Alzheimer oder was ist eigentlich los?“ Sie fragt es lachend. Ihre Frage soll ein Spaß sein.

Beni mag sich jedoch nicht darauf verlassen, dass alles nur ein harmloses Phänomen ist. „Ich dachte mir: da stimmt doch etwas nicht! Das kann doch nicht sein! Was ist nur los in meinem Kopf?“ Er will es genau wissen und begibt sich in ärztliche Behandlung. Über mehrere Wochen lässt er medizinische Untersuchungen über sich ergehen. Rolf unterstützt ihn dabei. Und dann kommt der Tag, an dem ihnen eine Ärztin das Ergebnis mitteilt. „Wir beide haben diesem Moment natürlich mit großem Bangen entgegengesehen“, erinnert sich Rolf. „Beni hat die Ärztin voller Sorge gefragt, ob er Alzheimer hat.“ Doch die Ärztin kann den beiden diese Sorge nehmen, obwohl das, was sie zu verkünden hat, auch nicht ohne Brisanz ist. Bei Beni wurde eine Herzrhythmusstörung festgestellt, die zu einem Schlaganfall führen kann. In einem anderen Zusammenhang hätte diese Ankündigung die beiden wohl in große Aufregung versetzt. Aber weil die ganze Zeit über die Angst vor einer Alzheimerdiagnose im Raum gestanden hatte, waren sie in gewisser Weise sogar erleichtert. Von einer kleinen Veränderung im Gehirn hatte die Ärztin zwar berichtet, aber auf die müsse man jetzt nicht reagieren.

Die Diagnose Herzrhythmusstörung hat für Beni Konsequenzen. „Ich musste dann ein halbes Jahr lang Tabletten einnehmen. Als sich dadurch keine Besserung einstellte, ging es ins Spital. Ich habe dort eine Art Stromstoßtherapie erhalten. Auch wenn das jetzt sicherlich nicht die richtige Bezeichnung für die Behandlung ist, die ich erhalten habe, sie hat doch gewirkt. Am Ende habe ich die Ärzte gefragt, ob ich nun wieder gesund sei. Und die haben geantwortet: ‚Ja, jetzt sind sie wieder gesund!‘“

Rolf ist ebenso erleichtert wie Beni. „Für uns war die erfolgreiche Behandlung der Herzrhythmusstörung wichtig. Schließlich drohte ja sogar ein Schlaganfall. Das Thema Demenz, diese seinerzeit kurzzeitig im Raum stehende Befürchtung, das war dann für uns erledigt und wir haben keinen Gedanken mehr daran verschwendet. Und dann herrschte bis 2017 auch erst einmal Ruhe.“ Die Ruhe sollte aber nicht von Dauer sein. Weder für den Arbeitgeber von Beni noch für ihn |20|selbst. Auch die Einführung neuer Computersoftware und Technik hatte den Betrieb nicht vor einem wirtschaftlichen Niedergang bewahren können. Die Ertragszahlen entwickelten sich immer schlechter, am Ende stand ein Insolvenzverfahren und 2018 wurden alle Filialen in der Schweiz geschlossen. Beni war zwar einer der Letzten, die entlassen wurden, am Ende verlor aber auch er seinen geliebten Arbeitsplatz.

Rolf erinnert sich: „Erst einmal ging es für Beni dennoch einigermaßen glimpflich aus. Der Konzern, der den insolventen Schuhbetrieb übernahm, übernahm gleich auch das Personal und deshalb hatte Beni schnell wieder neue Arbeit.“

„Ja, aber das war jetzt nicht mehr im Schuhverkauf. Im Prinzip hatte ich jetzt einen ganz normalen Verkäuferjob und musste Lebensmittel an den Mann bringen. Der Laden hatte täglich von morgens um fünf bis nachts um vierundzwanzig Uhr geöffnet. Für mich Morgenmuffel hieß das, morgens um drei Uhr aufzustehen, weil ich meist in der Frühschicht eingesetzt war. Es gab viel Laufkundschaft, da war schnelles Arbeiten gefordert.“ Das alles tut Beni nicht gut. Die schon vergessen geglaubten Merkprobleme treten wieder verstärkt auf. Es kommt zu demütigenden Situationen. „Von meiner neuen Chefin wurde ich rundgemacht: ‚Mein Gott, sie vergessen ja alles! Ich habe Ihnen doch nun oft genug erklärt, wo das Brot hingehört. Und Sie waren einmal Filialleiter im Schuheinzelhandel? Kaum zu glauben! Also wirklich, wen hat man mir da nur empfohlen!‘“

Beni und Rolf leiden unter der Situation. Und dann kommt die jährliche Umstellung von Winter- auf Sommerzeit. „Ich wollte meine Uhr umstellen, aber ich wusste in dem Moment überhaupt nicht mehr, wie das geht. Rolf und ich haben nicht nur eine Uhr, wir haben da einen kleinen Tick. Meine Uhr und die anderen habe ich immer umgestellt. Und nun hatte ich keine Vorstellung mehr davon, wie ich das bewerkstelligen sollte. Rolf habe ich erst einmal nichts davon gesagt. Aber mir war klar, dass ich etwas unternehmen musste.“ Natürlich entgehen dem Partner solche Situationen nicht. Aber Rolf misst dem Ganzen keine große Bedeutung bei. „Ich habe Beni zu beruhigen versucht und gesagt, dass mir so etwas auch passieren könnte, wenn ich jeden Morgen um drei Uhr aus den Federn müsste. Und eigentlich haben wir, wie viele andere auch, jedes Jahr aufs Neue erst einmal überlegen müssen, wie so eine Umstellung vonstattengeht. Muss man nun die Uhr eine Stunde vorstellen oder gehts in die umgekehrte Richtung? Nein, dafür, dass sich da etwas in Richtung auf eine Demenz entwickelte, war ich damals völlig blind.“ Meistens sind es ja nahestehende Personen, die ungewohnte Fehlleistungen oder verwirrende Vorkommnisse bemerken und die beobachtete Person daraufhin drängen, der Sache nachzugehen. Und sehr oft sind die Menschen, denen diese Widrigkeiten unterlaufen, gar nicht davon begeistert, sich nun medizini|21|schen oder neuropsychologischen Untersuchungen zu unterziehen. Bei Beni und Rolf ist das anders. „Beni war auch jetzt wieder derjenige, der sich nicht mit gutgemeinten, aber allzu einfachen Erklärungen für das, was ihm widerfuhr, abgeben wollte. Also ist er zum Arzt gegangen.“

„Ja, mir war klar, dass bei mir etwas nicht stimmte. Das habe ich auch meinem Arzt so gesagt. Der meinte, er würde jeden anderen in meinem Alter, der ihm etwas von einer Demenz erzählt, wieder nach Hause schicken. Bei dem Wort Demenz denkt ja jeder erst mal an ganz alte Menschen. Aber weil er mich seit mehr als zwanzig Jahren kannte, hat er das ernst genommen und mich in so eine Röhre geschickt. Und was er dort gesehen hat, fand er alarmierend. Jedenfalls hat er mich sofort zur näheren Untersuchung ins Spital überwiesen.“ Bis zur Aufnahme dauert es noch einige Wochen, aber dann ist es soweit und Beni wird im Basler Universitätsspital von...

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