Psychosen im Alter - Empfehlungen zur Prävention, Diagnostik und Therapie

Psychosen im Alter - Empfehlungen zur Prävention, Diagnostik und Therapie

von: Egemen Savaskan, Stefan Klöppel

Hogrefe AG, 2021

ISBN: 9783456761039

Sprache: Deutsch

256 Seiten, Download: 6823 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Psychosen im Alter - Empfehlungen zur Prävention, Diagnostik und Therapie



|11|Einleitung


Stefan Klöppel

Psychotische Erkrankungen im Alter umfassen ein großes Spektrum hinsichtlich der klinischen Manifestation und des Schweregrads und damit verbunden auch der Krankheitsrelevanz. Psychosen sind Erkrankungen mit phasenweisem Verlust des Bezugs zur Realität, die mit ausgeprägten Störungen des Denkens (z. B. Wahn), der Perzeption (z. B. Halluzinationen) und der Emotionen (z. B. Affektverflachung) einhergeht. Weiter unterteilt werden kann nach Positiv-Symptomen (Wahn, Halluzinationen, Denkstörungen, Gefühl kontrolliert zu werden) sowie Negativ-Symptomen (z. B. Affektverflachung). Psychosen können in allen Lebensabschnitten auftreten. Sie können in der Folge von Intoxikationen oder organischen Störungen entstehen, sich jedoch auch spontan manifestieren.

Ähnlich wie bei der Depression ist es sinnvoll, bei der Psychose zwischen einer früh und einer spät beginnenden Erkrankung zu unterscheiden. Psychotische Symptome bei älteren Patientinnen1 sind mit einer Reihe von Besonderheiten verbunden. Diese machen spezifische Empfehlungen für Therapie und Diagnostik erforderlich. Wie in den weiteren Kapiteln im Detail ausgeführt, zählen zu diesen Besonderheiten z. B. die zusätzlich vorhandenen Komorbiditäten sowie kognitive Einschränkungen und generell eine höhere Gefährdung durch unerwünschte Arzneimittelwirkungen. Aus dieser Gefährdung resultiert auch die besondere Bedeutung psychosozialer Interventionen, die oft ein hohes Maß an multi-/interprofessioneller Zusammenarbeit erfordern. Zu den alterstypischen Besonderheiten zählen auch angepasste Therapieziele.

Klinisches Bild im Alter

Das klinische Bild von Psychosen ändert sich nicht grundsätzlich mit dem Alter. Das Vollbild der paranoiden Schizophrenie ist jedoch typisch für jüngere Menschen. Diese typische Early-Onset-Schizophrenie (EOS) beginnt definitionsgemäß vor dem 40. Lebensjahr. Demgegenüber beginnt die Late-onset-Schizophrenie (LOS) zwischen dem 40. und dem 60. Lebensjahr. Noch später beginnende Schizophre|12|nien (Very-late-onset-Schizophrenie; VLOS) sind sehr selten. Typisch für das Alter sind die isolierte wahnhafte Störung (Altersparanoia) und ebenso das Delir mit den typischen Störungen der Aufmerksamkeit und optischen Halluzinationen.

Psychotische Störungen im Alter sind seltener mit formalen Denkstörungen verbunden, dafür häufiger mit optischen Halluzinationen. Die Studienlage ist uneinheitlich bei der Frage, ob Positiv-Symptome bei der früh beginnenden Schizophrenie häufiger sind als bei der spät beginnenden. Vermutlich ist im Alter die kognitive Leistungsfähigkeit besser, wenn eine Schizophrenie erst im Alter begonnen hat und nicht schon seit Jahrzehnten existiert. Diese Aussagen lassen sich noch weiter differenzieren: Exekutivfunktionen scheinen bei der LOS weniger betroffen zu sein im Vergleich zur EOS und zur VLOSLP (Very-late-onset-Schizophrenia-like-Psychose). Des Weiteren ist die soziale Kognition bei LOS und VLOSLP wenig betroffen, während sie bei der EOS deutlich beeinträchtigt ist [1]. Im Übrigen unterscheiden sich die kognitiven Defizitmuster der LOS und der VLOS von den kognitiven Störungen bei Alzheimer-Krankheit mit psychotischen Symptomen oder bei Lewy-Körperchen-Demenz [1].

Der Beitrag zerebrovaskulärer und neurodegenerativer Pathologien zur Entstehung und zur klinischen Entwicklung der LOS und der VLOS ist noch wenig untersucht.

Insgesamt deuten die epidemiologischen Daten (Frauen häufiger betroffen, genetische Prädisposition weniger relevant bei LOS und VLOS im Vergleich zur EOS) und die phänomenologischen Beobachtungen (mehr Positiv-Symptome – vor allem Verfolgungs- und Beeinträchtigungswahn, Wahrnehmungsstörungen −, unterschiedliche Profile der kognitiven Defizite) darauf, dass bei der LOS und der VLOS andere Prozesse als bei der Schizophrenie des jungen Erwachsenenalters vorliegen.

Entstehung dieser Therapieempfehlungen

Diese Therapieempfehlungen wurden von einer interdisziplinären und interprofessionellen Arbeitsgruppe erstellt und konzentrieren sich auf Patientinnen über 65 Jahren. Eingeschlossen sind dabei Patientinnen, bei denen psychotische Symptome in früheren Lebensabschnitten erstmals manifest geworden sind, daneben aber auch solche, bei denen die ersten Symptome im höheren Alter auftraten. Nur punktuell besprochen werden substanzinduzierte Psychosen.

Während international breit konsentierte Leitlinien für Diagnostik und Therapie bei Schizophrenie existieren, wird die Psychose im Alter allenfalls am Rande behandelt. Die Behandlungsempfehlungen der SGPP (Schweizerische Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie) zur Schizophrenie [2] gehen spezifisch aber nicht detailliert auf schizophrene Psychosen im Alter ein.

Die hier vorliegenden Empfehlungen sind als Erweiterung zu existierenden Leitlinie zur Schizophrenie [2, 3] anzusehen. Von Bedeutung sind jedoch auch die Emp|13|fehlungen zum Delir [4], zur Depression im Alter [5] sowie den behavioralen und psychologischen Symptomen der Demenz (BPSD) [6].

Beim vorliegenden Buch handelt es sich um die Langversion der Empfehlungen. Vorgesehen ist außerdem die Erstellung von Kurzversionen für verschiedene Settings.

Soweit verfügbar haben wir uns auf die primär bei älteren Patientinnen durchgeführten Studien konzentriert. Gerade bei den neueren nichtmedikamentösen Therapieformen waren jedoch Übertragungen von Studien an anderen Altersgruppen und der Expertenkonsens erforderlich.

Sofern nicht explizit anders dargestellt, gelten die Aussagen für männliche und weibliche Personen gleichermaßen. Zur besseren Lesbarkeit wurde die weibliche Form verwendet.

Fallvignetten

Im Folgenden stellen wir Ihnen vier Fallvignetten vor. Auf diese werden wir in den verschiedenen Diagnostik- und Therapiekapitel zurückkommen und die Umsetzung der im Kapitel besprochenen Inhalte beispielhaft beschreiben.

Fall 1: 65-jähriger Patient (Herr A., Abbildung 1-1) mit paranoidem Erleben (der Nachbar kontrolliere ihn mit Radiowellen, versuche das Essen zu vergiften; er könne in seiner Wohnung Geräusche hören, die darauf hindeuten, dass jemand in der Wohnung sei). Er wird per FU (Fürsorgliche Unterbringung) in die Klinik zur stationären Aufnahme gebracht, nachdem die Spitex (Ambulante Pflegedienste) ihn in seiner Wohnung aufgesucht hatte, aber mehrfach nicht hineingelassen wurde, und zwar aufgrund der Vernachlässigung des Haushalts und der Beschwerden der Nachbarschaft, die sein lautes Schreien in der Wohnung immer wieder gehört hatten.

|14|Der Patient zeigt im Aufnahmegespräch unruhiges und agitiertes Verhalten. Er berichtet zudem von Ein- und Durchschlafstörungen und großer Angst, dass ihm die Nachbarn etwas antun könnten. Er wirkt im Gespräch misstrauisch. Halluzinationen werden vom Patienten verneint, sind aber wahrscheinlich vorhanden. Der Patient wirkt selbstvernachlässigt (Schmutz unter den Nägeln, verklebter Bart, zerrissene und verschmutzte Kleidung, intensiver Körpergeruch, eingenässte Hosen).

Aus der Vorgeschichte ist bekannt, dass beim Patienten eine medikamentös behandelte Herzinsuffizienz sowie eine Adipositas mit diabetogener Stoffwechsellage vorliegt. Es zeigt sich ein Rigor der oberen Extremitäten.

Psychotische Episoden sind aus der Vorgeschichte bekannt, verbunden mit Klinikaufenthalten. Es sind mehrere Versuche mit neuroleptischer Behandlung bekannt, die der Patient im Verlauf selbstständig abgesetzt hat. Hausarztbesuche haben unregelmäßig stattgefunden. Ambulante psychiatrische Betreuungsangebote konnten bisher nicht nachhaltig etabliert werden.

Fall 2: Die 68-jährige anorektische Patientin (Frau B., Abbildung 1-2) äußert das Gefühl, dass alle über sie sprechen und sie für eine Sünderin halten würden. In der Vorgeschichte sind depressive Episoden beschrieben und keine kognitiven Störungen bekannt. Im formalen Denken zeigt sie sich sprunghaft und leicht zerfahren. Aktuell verhält sich die Patientin agitiert, verbal aggressiv und misstrauisch wirkend. Sie wird von ihrer Schwester zur ambulanten Abklärung begleitet. Sie hat zwei Katzen, ...

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