Die Kunst des Alterns - Reifen und Loslassen

Die Kunst des Alterns - Reifen und Loslassen

von: Fritz Riemann, Wolfgang Kleespies

ERNST REINHARDT VERLAG, 2016

ISBN: 9783497600595

Sprache: Deutsch

250 Seiten, Download: 3243 KB

 
Format:  EPUB, PDF, auch als Online-Lesen

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Die Kunst des Alterns - Reifen und Loslassen



Glückserwartungen haben die Menschen wohl schon immer gehabt; so verschieden dabei die Vorstellungen vom Glück auch sein mögen – insgeheim schwebt uns meistens etwas wie ein Dauerzustand vor, den wir einmal erreichen zu können hoffen. Viele Märchen klingen deshalb in den Worten aus: „So lebten sie glücklich und zufrieden bis an ihr seliges Ende, und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute.“ Und wenn es uns nicht gelungen ist, hier auf Erden das Glück zu finden, verlegen wir es in den Himmel und erhoffen uns nach dem Tode die ewige Glückseligkeit im Jenseits.

Die griechische Mythologie hat uns die Legende von Endymion überliefert: Dem schlafenden Jüngling Endymion drückte die Göttin Selene einen Kuss auf die Stirn, der ihn mit solchen Glücksgefühlen überflutete, dass er den Göttervater bat, ewig leben zu dürfen, in ewigem Schlaf und ewiger Jugend– Zeus erfüllte ihm die Bitte.

Diese Legende schildert unseren Wunsch nach dem Glück als einem Zustand zeitloser und unveränderter Glückseligkeit unübertrefflich – aber sie zeigt uns auch, um welchen Preis das allein erreichbar wäre: Wir müssten unsterblich sein, dürften nicht altern, nicht einmal zum Bewusstsein unser selbst erwachen, sondern nur in passiver Erwartung das Beglückende von außen erhoffen. Das Wissen um die Vergänglichkeit, das Bewusstsein unserer Sterblichkeit sowie die Begegnung mit der harten Wirklichkeit des Lebens scheinen somit die größten Feinde des Glücks zu sein. Aber sind sie das vielleicht nur, solange wir an der Vorstellung des Glücks als einem Zustand zeitloser und unwandelbarer Glückseligkeit festhalten und damit an einer Illusion, die im Rahmen eines Menschenlebens nicht erfüllt werden kann? Und vielleicht will uns die Legende auch zeigen, dass wir durch das Festhaltenwollen des Glücks es gerade erst gefährden, wie wir alles gefährden, was wir unverändert festhalten und dem Fließen der Zeit entziehen wollen.

Aber wie kommen wir überhaupt zu solcher Erwartung eines unverändert anhaltenden Glücks, an der wir so hartnäckig festhalten, obwohl wir es immer wieder erfahren, wie zerbrechlich Glück ist? Wir gehen wohl nicht fehl, wenn wir annehmen, dass diese Glückserwartung aus unserer Kindheit stammt und die Erinnerung an das verlorene Paradies unserer frühesten Kindheit ist, das wir wieder finden wollen. Die Erinnerung an eine Zeit also, in der wir noch ohne Zeitbewusstsein lebten und insofern tatsächlich gleichsam unsterblich waren, weil wir von Tod und Sterben nichts wussten, an eine Zeit zugleich, in der es noch kein Gut und Böse gab, keine Angst und keine Schuld, und in der uns alles, dessen wir bedurften, ohne eigenes Bemühen gegeben wurde, in der wir wie traumhaft und ohne Bewusstsein unser Selbst lebten in schlichter Daseinsfreude. Ist somit unsere Glückserwartung die Erinnerung an einen Paradieszustand, der zwar nur allzu kurz währte, dennoch lang genug, um in uns nachzuklingen als die Sehnsucht, ihn wieder zu finden, dann ist unsere Sehnsucht nach einem solchen Glück von unwandelbarer Dauer, das uns ohne eigenes Bemühen geschenkt wird, sicher eine kindliche Vorstellung. Aber deshalb brauchen wir auf das Glück doch nicht völlig zu verzichten – nur wird es offenbar anders aussehen müssen als jene kindliche Vorstellung.

Aber was meinen wir eigentlich, wenn wir von Glück sprechen? Ist es etwas, das uns zufällt, oder ist es eine Gnade? Können wir selbst etwas dazu beitragen, oder kann es uns nur geschenkt werden? Liegt es in der Liebe oder in Macht, Erfolg und Ruhm. Macht Besitz uns glücklich oder der Verzicht auf irdische Güter? Ist damit die Heiterkeit des Gemütes gemeint oder die Zufriedenheit mit unserem Schicksal? Liegt es in der Übereinstimmung mit uns selbst, mit den anderen oder mit der Welt? Wir sehen, es ist gar nicht leicht, das Glück allgemein gültig zu fassen, obwohl jeder von uns zu wissen glaubt, was er damit meint. Wenn wir uns noch einmal an die Legende von Endymion erinnern: Was uns an ihr so berührt, ist doch wohl gerade, dass sie in krassem Widerspruch zur Realität unseres Lebens steht. Das heißt aber mit anderen Worten, dass wir uns bewusst sind, dass in der Wirklichkeit Glück ein Gefühlserleben ist, das nicht ewig anhält, das uns nur für Augenblicke geschenkt wird, sosehr wir uns auch wünschen, es möge dauern. Vielleicht versuchen wir deshalb, unsere Glückserwartungen an konkrete Dinge anzuheften, weil wir dann hoffen, deren Besitz würde uns die ersehnte Dauer verschaffen können. Fragen wir jemanden, was er sich unter Glück vorstellt, versucht er es daher zu konkretisieren, gleichsam zu materialisieren, um es benennen zu können. Aber vielleicht spürt er im gleichen Augenblick, wo er das versucht, dass er dieses Konkrete gar nicht meint, sondern eben jenes schwer fassbare Glücksgefühl, das das eigentlich Beglückende ist.

Versuchen wir dennoch, etwas Allgemeingültiges über das Glück auszusagen, scheint es letztlich, dass unsere Suche nach Glück sich zwei Zielvorstellungen zuwendet. Die eine können wir mit dem Begriff der Selbstverwirklichung benennen, die andere mit der Liebe im weitesten Sinne. Jeder Mensch hat den Wunsch, das Bestmögliche aus sich und seinem Leben zu machen, es so reich und erfüllt zu gestalten, so sinnvoll zu leben, wie es ihm möglich ist. Worin er dabei diesen Sinn und diese Erfüllung sieht, das kann sehr verschieden sein, so verschieden, wie eben unsere Vorstellungen von der Selbstverwirklichung sind. Und jeder Mensch hat die Sehnsucht nach Ausweitung seiner ihn isolierenden Ichgrenzen in verstehendem und liebendem mitmenschlichem Austausch, der ihn aus der Einsamkeit des Individuums erlösen soll, und wieder kann sich diese Liebesfähigkeit den verschiedensten Objekten zuwenden. Ohne den Wunsch nach der Selbstverwirklichung oder, wie man sie auch genannt hat, nach der Individuation blieben wir dumpfe Massenmenschen und lernten das Glück nicht kennen, das in der Entfaltung und Entwicklung unserer Persönlichkeit liegt. Und ohne die Fähigkeit zu lieben bliebe unser Leben trostlos und nicht lebenswert.

Selbstverwirklichung und Liebesfähigkeit sind also die beiden Ziele auf unserer Suche nach Glück, und beide ergänzen sich, sollten sich ergänzen. Es kann für uns nicht heißen: Selbstverwirklichung oder Liebesfähigkeit, sondern das Glück, nach dem wir suchen, hat sehr viel mit dem Finden einer Synthese zwischen diesen einander scheinbar widersprechenden Zielen zu tun.

In Krisenzeiten, wie unsere Gegenwart in vieler Hinsicht eine ist, erfahren die Bereiche der Selbstverwirklichung und der Liebesfähigkeit eine Erschütterung, und wir fühlen uns zu einer Neuorientierung gedrängt. Die Bedrohtheit unserer Existenz verschärft zunächst die Neigung zu egozentrischem Egoismus. Wir berufen uns darauf, dass jeder sich selbst am nächsten ist, und suchen dann die Selbstverwirklichung in vermeintlich selbstverständlichem Anspruch auf unser persönliches Glück, das damit immer ausschließlicher in Lust und Genuss, in Macht, Erfolg und Besitz gesehen wird, worin die einzig realen und sicheren Glücksmöglichkeiten zu liegen scheinen.

Unsere Gegenwart verführt uns besonders leicht dazu, weil die Güter der Welt uns uneingeschränkt zur Verfügung zu stehen scheinen. In dem Schlagwort von der Konsumgesellschaft kommt das zum Ausdruck, noch schärfer in dem der Wegwerfgesellschaft, die nach Genuss wegwirft, was sie benutzt hat, was erschreckenderweise sogar auf unsere mitmenschlichen Beziehungen überzugreifen droht. So scheinen wir Selbstverwirklichung mit Egoismus zu verwechseln und zu glauben, dass das Glück in immer unbeschränkterem Habenwollen besteht. Technik und Industrie verleiten uns durch neue und reizvolle Angebote zu immer neuen Anschaffungen und suggerieren uns, sie würden uns glücklich machen. Wir kommen kaum einmal auf den Gedanken, uns zu fragen, was wir zu geben bereit sind für unser so uneingeschränktes Nehmen, höchstens dass hier und da einmal eine warnende Stimme hörbar wird, wir müssten uns nach neuen Energiequellen umsehen, womit aber auch nur angedeutet wird, dass wir hoffen, dann unbesorgt so weiterleben zu können wie bisher.

Dem ist aber in zweifacher Hinsicht eine Grenze erwachsen, die uns zum Innehalten und zur Neubesinnung auffordert. Zum einen haben wir aus Gründen unserer alternden Gesellschaft und nicht rechtzeitig vorgenommener Reformen die Grenzen unseres Wachstums erreicht. Der Konsum geht nun zurück, das Geld sitzt nicht mehr so locker. Zum anderen haben wir aber auch einen gewissen Sättigungsgrad in unserem Konsumdenken erlangt. Dies trifft zumindest für die Älteren zu, während die Jüngeren wegen ihrer Manipulierbarkeit die Hauptzielgruppe der Werbung bleiben. Aber es gilt generell: Konsumwünsche lassen sich auch durch noch so geschickte Werbung nicht beliebig steigern. Wir leben daher derzeit eher in einer „gesättigten Gesellschaft“. Damit sind wir in einer schwer erträglichen Zwischenwelt angekommen, die nach weiterer Entwicklung drängt. Der alte Konsum- und Wachstumsgedanke greift nicht mehr.

Es gab ja schon immer untergründige Gegenströmungen zum „Zeitgeist“. Man denke nur an die Konsumverweigerer und Aussteiger der siebziger Jahre, die nach anderen Werten und alternativen Lebensformen suchten. Eine solche Bewegung ist derzeit zwar nicht auf breiter Linie auszumachen, dennoch erwächst uns eine Chance: Es zählt nicht mehr, was einem fehlt, was man noch haben könnte. Vielmehr scheint sich eine Neubesinnung in der Ideologie des Habenwollens abzuzeichnen. Es gilt neu zu entdecken, „was man bereits hat“, nämlich alte Wertvorstellungen; es geht um Rückbesinnung und die Entdeckung des identitätsstiftenden „Eigenen“. Hierzu passt, dass in den neuen Bundesländern ein Aufleben der...

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