Vom Leben und Sterben im Alter - Wie wir das Lebensende gestalten können

Vom Leben und Sterben im Alter - Wie wir das Lebensende gestalten können

von: Andreas Kruse

Kohlhammer Verlag, 2021

ISBN: 9783170405882

Sprache: Deutsch

336 Seiten, Download: 3107 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Vom Leben und Sterben im Alter - Wie wir das Lebensende gestalten können



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Die Vorbereitung des Menschen auf seinen Tod


In einer Schrift zum Leben und Sterben im Alter sind auch Aussagen zur inneren Vorbereitung des alten Menschen auf den eigenen Tod zu treffen. Die Art und Weise nämlich, wie Menschen eine schwere, zum Tode führende Erkrankung zu verarbeiten versuchen, ist nicht losgelöst von deren grundlegender Einstellung und Haltung zum eigenen Tod zu betrachten. In dieser spiegelt sich auch das Ausmaß, in dem sich Menschen auf den Tod vorbereiten, diesen also bewusst in ihr Leben hineingenommen haben, wider.

Die Analyse der Einstellung und Haltung zum eigenen Tod nehme ich zunächst vor dem Hintergrund von drei theoretischen Perspektiven vor, die von der Annahme ausgehen, dass die Art und Weise, wie Menschen den herannahenden Tod erleben und bewerten, in hohem Maße davon beeinflusst ist, welche Einstellung und Haltung sie zu ihrer Biografie ausgebildet haben, wie ihr Lebensrückblick ausfällt und inwieweit sie in der Lage sind, zu einer Neuorientierung zu finden – und zwar in der Hinsicht, dass es ihnen gelingt, über ihre irdische Existenz hinauszublicken und diese in umfassendere, »kosmische« Bezüge einzuordnen. Die drei theoretischen Perspektiven, die in diesem Kapitel erörtert werden sollen, lassen sich überschreiben mit »Lebensrückblick«, »Ich-Integrität«, »Verletzlichkeit und Reife in Sorgebeziehungen«. Diese Erörterung lässt uns besser verstehen, wie sich Einstellung und Haltung zur Biografie entwickeln und wie diese wiederum die Einstellung und Haltung zum Tod beeinflussen. In letzter Konsequenz bedeutet dies: Wie wir auf den herannahenden Tod blicken, inwieweit wir in der Lage sind, uns bewusst mit unserer eigenen Endlichkeit auseinanderzusetzen, entscheidet sich keinesfalls erst im letzten Lebensjahr oder in den letzten Lebensmonaten. Nein, schon in früheren Lebensabschnitten, vor allem aber im höheren und hohen Alter können wir seelisch-geistige Entwicklungsschritte vollziehen, die uns in die Lage versetzen, die eigene Endlichkeit gedanklich und emotional klarer vorwegzunehmen und – trotz allen Schmerzes, mit dem der Abschied von der Welt verbunden ist, trotz aller Ängste, die der bevorstehende Abschied in uns auslöst – eine bewusste Auseinandersetzung mit der eigenen Endlichkeit zu leisten.

Bei der Analyse der Einstellung zum eigenen Tod möchte ich mich jedoch nicht allein auf theoretische Perspektiven konzentrieren, sondern die Sicht noch einmal weiten: Es sollen auch Beiträge aus der Lyrik zu Wort kommen, die sich besonders dafür eignen, die in den theoretischen Perspektiven angesprochenen seelisch-geistigen Prozesse wie auch Entwicklungsmechanismen, die diesen zugrunde liegen, zu veranschaulichen und aus einer individuell-existenziellen Sicht zu beschreiben. Natürlich lässt sich einwenden, dass hier zwei unterschiedliche Ebenen angesprochen werden, die sich nicht unmittelbar aufeinander beziehen lassen, handelt es sich doch das eine Mal um eine Forschungsebene, das andere Mal um eine literarische Ebene. Diesem Einwand möchte ich entgegenhalten, dass letztere ebenfalls seelisch-geistige Prozesse beschreibt, die verwandt sind mit jenen, die die psychologische Analyse in den Blick nimmt und differenziert untersucht. Zudem gibt die literarische Ebene Auskunft über das innere Erleben der Verfasserin bzw. des Verfassers wie auch über die Art und Weise, in der diese bzw. dieser selbst auf die Grenzsituation der schweren Erkrankung oder des Sterbens blickt. Es sei nur eine sehr kleine Auswahl an literarischen Dokumenten getroffen, denn mir geht es hier ja vor allem um die Veranschaulichung psychologischer Prozesse sowie um die Abbildung der existenziellen Perspektive. Und hier treffen wir wieder auf das Individuum, das ja auch in den theoretischen Perspektiven Dreh- und Angelpunkt der Analyse bildet. Dabei soll deutlich werden, wie sehr sich Lyrik eignet, seelisch-geistige Vorgänge anschaulich zu beschreiben. Somit ergibt sich hier ein wertvolles Ergänzungsverhältnis.

2.1           Die erste theoretische Perspektive: »Lebensrückblick«


Robert Butler (1927–2010), US-amerikanischer Psychiater und Altersforscher, Gründer des National Institute on Aging, ist im Jahre 1963 mit einer Arbeit über den Lebensrückblick (life review) an die Öffentlichkeit getreten, die auch heute noch als richtungsweisend für ein tiefes psychologisches Verständnis des Lebensrückblicks gewertet wird (Butler, 1963; siehe auch Haight, Pierce, Elliott et al., 2018). Wie definiert Robert Butler den Lebensrückblick? Als einen natürlichen, universellen seelisch-geistigen Prozess, der sich im Sinne eines zunehmend stärkeren Bewusstseins vergangener Erfahrungen deuten lässt, wobei vor allem ungelöste Konflikte mehr und mehr an Bedeutung gewinnen. Bei den meisten Menschen ist das Potenzial erkennbar, diese Erfahrungen und Konflikte rückblickend besser zu verstehen und in die subjektiv erlebte Biografie zu integrieren. Der Lebensrückblick wird dabei durch zwei grundlegende Erfahrungen angestoßen: Zum einen durch die Bewusstwerdung des herannahenden Todes und der mit diesem verbundenen Auflösung der irdischen Existenz, zum anderen durch die mit dieser Bewusstwerdung verbundene Unmöglichkeit, die Vorstellung persönlicher Unverletzlichkeit (oder Unverwundbarkeit) aufrechtzuerhalten. Die Aussage, dass es sich bei dem Lebensrückblick um einen natürlichen, universellen seelisch-geistigen Prozess handelt, ist auch in der Hinsicht zu verstehen, dass diese eine charakteristische Entwicklungsaufgabe des hohen Alters beschreibt. Dies bedeutet, dass der Lebensrückblick im Leben aller alten Menschen zunehmend an Bedeutung gewinnt, wobei Robert Butler hinzufügt: Eher bewusst oder eher unbewusst. Alte Menschen können somit den Lebensrückblick ganz bewusst und innerlich engagiert vornehmen; es kann aber auch genauso gut vorkommen, dass sich der Lebensrückblick eher unbewusst einstellt und gegebenenfalls zu Veränderungen im Erleben und Verhalten führt, deren Ursprünge dem Individuum (zumindest zunächst) verborgen bleiben. Die von Robert Butler getroffene Aussage, wonach der herannahende Tod wie auch die Antizipation oder die Erfahrung eigener Verletzlichkeit Prozesse des Lebensrückblicks anstoßen, führt uns einmalmehr vor Augen, dass die »Ordnung des Lebens« und die »Ordnung des Todes« miteinander verschränkt sind. Das Bewusstwerden des herannahenden Todes bleibt nicht ohne Folgen für die Einstellung und Haltung zum Leben; vielmehr wird im Angesicht eigener Verletzlichkeit und Endlichkeit eine umfassende Betrachtung und Bewertung der eigenen Biografie vorgenommen (Butler, 1980). Erst diese umfassende Betrachtung und Bewertung – in ihrem bewussten und unbewussten (zum Teil nur in Träumen erfahrbaren) Anteil – verdient die Charakterisierung als »Lebensrückblick«. Wenn der Lebensrückblick in seiner Gesamtheit eher positiv ausfällt, dann ist das Individuum auch eher in der Lage, die eigene Verletzlichkeit und Endlichkeit, den herannahenden Tod anzunehmen oder zumindest als etwas Unvermeidliches hinzunehmen. Erneut wird die Verschränkung der beiden Ordnungen – jener des Lebens, jener des Todes – erkennbar; dieses Mal aber in einer umgekehrten Richtung: Die Einstellung und Haltung zum Leben bestimmen die Einstellung und Haltung zum Tod mit.

Folgen wir Robert Butler, dann hat der Lebensrückblick eine bedeutsame Funktion für die Persönlichkeitsentwicklung des Individuums in den späten Phasen des Lebens: Denn durch diesen wird die Integration der Persönlichkeit gefördert, wobei »Integration« zum einen zu verstehen ist im Sinne der Lösung von bislang ungelösten Konflikten, zum anderen im Sinne von Differenzierung und Harmonie; letztere kann dabei durch erstere gefördert werden. Der Lebensrückblick stellt also mit Blick auf die Persönlichkeitsentwicklung eine Entwicklungschance dar. Hier übrigens weist der Ansatz eine bemerkenswerte Nähe zu dem Konzept der Individuation auf, von der der Analytische Psychologe Carl Gustav Jung (1972) spricht. Nach C. G. Jung ist von einem lebenslang bestehenden Entwicklungspotenzial auszugehen, dessen Verwirklichung auch im Sinne einer kontinuierlich fortschreitenden Individuation zu begreifen ist: Das Individuum wird in wachsendem Maße »einzigartig« (im Sinne von »unverwechselbar«), indem es mehr und mehr Seiten seiner Persönlichkeit integriert und damit lebendig werden lässt, die bis dahin unbewusst gewesen sind.

Robert Butler nimmt übrigens an, dass sich Menschen gerade im hohen Alter mehr und mehr von gesellschaftlichen Verpflichtungen zurückziehen und damit mehr Zeit für die Selbstreflexion besitzen, die ihrerseits zu persönlich wie auch kollektiv bedeutsamen Einsichten und Erkenntnissen über das Leben führen kann. Die These des gesellschaftlichen Rückzugs...

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