(Schlecht) Hören bei Demenz - Erkennen, verstehen und aktivieren

(Schlecht) Hören bei Demenz - Erkennen, verstehen und aktivieren

von: Andreas Fellgiebel

medhochzwei Verlag, 2020

ISBN: 9783862166145

Sprache: Deutsch

144 Seiten, Download: 5747 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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(Schlecht) Hören bei Demenz - Erkennen, verstehen und aktivieren



I Hören und Demenz


1 Einleitung


Prof. Dr. Andreas Fellgiebel

Musik tut gut


In vier Folgen strahlte das ZDF ab Juli 2020 eine Dokumentation über einen Chor für Menschen mit Demenz aus.1 Teilnehmer waren Menschen mit einer leichten bis mittelgradigen Demenz, die Spaß am Singen und Interesse an Musik hatten.

Der Titel der Doku „Unvergesslich. Unser Chor für Menschen mit Demenz“ spielt mit der Bedeutung des Begriffes unvergesslich, der in einer Lesart die Unvergesslichkeit der (Chor-)Musik mit dem für die Demenz typischen Vergessen kontrastiert.

Wir wissen, dass sich das Hören von Musik, das Singen, das Musizieren positiv auf das Wohlbefinden von Menschen mit Demenz auswirken. Aber gilt das nicht auch für alle oder zumindest die meisten anderen Menschen? Worin soll also die spezifische Verbindung von Musik und Demenz sein, die über die über Zeiten und Kulturen hinweg positive Wirkung von Musik hinausgeht?

Funktionen des Hörens


Doch beginnen wir von vorn: bevor wir dieser Frage nach der besonderen Wirkung von Musik und Musizieren auf Menschen mit Demenz nachgehen, beschäftigen wir uns mit der grundlegenderen Frage des Zusammenhangs von Hören und Demenz.

Das Hören ist nicht nur die Voraussetzung für die Wirkung von Musik, es ermöglicht uns wichtige Informationen über unsere Umgebung aufzunehmen, unsere Umwelt zu verstehen und über eine gemeinsame Sprache mit anderen Menschen in Kontakt zu treten.

Damit dient das Hören einerseits der Orientierung („Was sind das für Geräusche? Wo kommen die her? Wie oft hat die Kirchturmglocke geläutet?) und der schnellen Aufmerksamkeitslenkung zu potenziellen Gefahren in der Umgebung (Explosionen, schreiender Säugling, Hilferufe). Akustische Schlüsselreize versetzen den Organismus in Handlungsbereitschaft.

Darüber hinaus ermöglicht das Hören die sprachliche Kommunikation. Wir machen uns verständlich, können anderen Personen etwas über uns, unsere Gefühle, Einstellungen, Pläne oder über unsere gemeinsame Umgebung mitteilen.

Das Hören stellt also ein wichtiges Band in unserer Verbindung zu anderen dar. Wichtige, Gemeinschaft stiftende Emotionen werden akustisch vermittelt. Hören ermöglicht gelingende sprachliche Kommunikation und damit Teilhabe und Partizipation an der Gemeinschaft mit anderen. Da wir uns in der Kommunikation anderen zu erkennen geben und andere Personen über die Kommunikation kennenlernen, hängt von Hören auch unsere besondere Stellung in der Gemeinschaft und unsere Selbst-Identität ab, wer wir sind, wer wir sein wollen.

Gelingende sprachliche Kommunikation steigert unseren Selbstwert. Eine gemeinsame Sprache fördert das Zusammengehörigkeitsgefühl, ermöglicht Teilhabe, Geselligkeit, Freude, Entspannung und Stressreduktion.

Gestörte Kommunikation führt hingegen zu Verunsicherung, Frustration, Wut, vermindertem Selbstwertgefühl, sozialem Rückzug, erhöhtem Anspannungs- und Stressniveau. Hinzu kommt die nach wie vor bestehende Stigmatisierung des Gehörlosen, die sozialen Rückzug und Vereinsamung fördert.

Informationsverarbeitung und Kommunikation bei Demenz


Eine Demenz beeinträchtigt zwar nicht das Hörvermögen selbst, aber die Verarbeitung von Sinnesreizen wird zunehmend gestört. Das fängt an mit der Aufmerksamkeit. Menschen mit Demenz haben eine reduzierte Fähigkeit, sich zu konzentrieren und relevante Informationen aus der Gesamtheit von Sinneseindrücken herauszufiltern. Was wir nicht aufmerksam erfassen können, werden wir auch schlechter aufnehmen, verstehen, weiterverarbeiten und abspeichern können.

Merke

Bei sensorischem „Multitasking“, d. h. der gleichzeitigen Aufnahme mehrerer gleicher Sinnesreize (z. B. mehrere Personen sprechen) oder unterschiedlicher Sinnesreize (z. B. einen Film im Fernsehen schauen und gleichzeitig einer Person im Raum zuhören) schalten Menschen mit Demenz ziemlich schnell ab oder „auf Durchzug“. Das überfordert sie.

Aber auch auf weiteren Ebenen der Informationsverarbeitung schleichen sich bei Menschen mit Demenz Fehler ein. Das betrifft z. B. das sog. Arbeitsgedächtnis, mit dem wir es normalerweise problemlos hinbekommen, mehrere Informationen gleichzeitig im Gehirn vorzuhalten, zu verknüpfen und weiterzubearbeiten: aktuelle Eindrücke und vergangenes Erfahrungswissen etwa. Wie wir schon beim Thema Aufmerksamkeit festgestellt haben, ist es auch beim Arbeitsgedächtnis: mehrere Informationen gleichzeitig oder kurz hintereinander können nicht mehr so präzise und flexibel bearbeitet werden. Überforderung führt zu „Abschalten“, Frustration oder Gereiztheit.

Schließlich spielt bei der Aufnahme von alltäglichen Informationen die gesprochene Sprache eine wichtige Rolle. Viele Menschen mit Demenz zeigen schon früh im Erkrankungsverlauf Schwierigkeiten im sprachlichen Ausdruck und im Sprachverständnis, die mit der Komplexität der Sachverhalte zunehmen. Typisch sind „Wortfindungsstörungen“, was bedeutet, den präzisen Begriff für einen Gegenstand oder auch den Namen einer Person spontan „zu finden“ bzw. äußern zu können. Die Sprache wird unpräzise, die Betroffenen sagen dann z. B. Schreiber für Kuli oder einfach „das Ding da“. Auch das Sprachverständnis ist oft demenzbedingt gestört. Menschen mit Demenz können bestimmte Wörter nicht mehr verstehen, wobei häufig verwendete und einfache Ausdrücke, die konkrete Gegenstände bezeichnen, besser und länger verstanden werden als seltene, insbesondere abstrakte Begriffe oder Sprichwörter, Metaphern. „Das Kind mit dem Bade ausschütten“ etwa.

Merke

Menschen mit Demenz haben Schwierigkeiten bei der Aufnahme und Verarbeitung von Sinnesreizen, auch wenn die die Funktion der Sinne selbst (etwa das Hören und das Sehen) nicht demenzbedingt gestört sind. Um die Informationsaufnahme von Menschen mit Demenz sowie die sprachliche Kommunikation mit ihnen zu verbessern und damit Überforderung möglichst zu vermeiden, sollten die Umgebungsbedingungen an ihre veränderten Aufnahmefähigkeiten möglichst angepasst werden.

Tipp

  • 1. Hörvermögen wenn nötig optimieren! Viele ältere Menschen leiden an Altersschwerhörigkeit. Durch das verminderte Hörvermögen werden die oben beschriebenen Probleme der Informationsaufnahme deutlich verstärkt. Eine Demenz entwickelt sich früher und schreitet schneller fort. Dieser wichtige Punkt wird im nächsten Abschnitt umfassender erläutert.
  • 2. Umgebungsreize reduzieren! Eine entspannte, ruhige Atmosphäre für Informationsaustausch schaffen.
  • 3. Einfache Sprache. Kurze Sätze. Metaphorische Sprache und Schachtelsätze möglichst vermeiden.

Gut zu hören ist wichtig – vor allem bei Demenz


Gut zu hören ist eine notwendige Voraussetzung für Verstehen und sprachliche Kommunikation. Das Hören hat einen bedeutsamen Einfluss auf unser Verhalten und unsere sozialen Interaktionen. Über das Hören werden auch für unsere sozialen Beziehungen wichtige Emotionen vermittelt, was für unser Wohlbefinden sehr wichtig ist. Menschen mit Demenz haben eingeschränkte Fähigkeiten der Informationsverarbeitung. Gerade für sie ist es wichtig, auf eine möglichst gute Hörfunktion als Basis für Verstehen und Kommunikation zurückgreifen zu können.

Von Menschen mit Hörminderung ohne Demenz wissen wir, dass eine eingeschränkte Hörfähigkeit allein schon eine massive Belastung im Alltag darstellen kann. Sie müssen sich immer noch mehr anstrengen, um etwas mitzubekommen, d. h. ihre Aufmerksamkeit auf Töne, Geräusche, Sprache fokussieren, was anstrengend ist und ermüdend. Menschen mit verminderter Hörfähigkeit sind oft nervös, gereizt, schlafen schlecht, fühlen sich vereinsamt. Hinzu kommt die Stigmatisierung oder befürchtete Stigmatisierung des Gehörlosen oder „Tauben“.

Während geistig Gesunde durch Anstrengung, z. B. bessere Konzentration und Umgebungsbeobachtung, ihre Hörschwäche teilweise kompensieren können, stellt gerade die Reizverarbeitung für Menschen mit Demenz die Achillesverse dar, sie können erkrankungsbedingt nur sehr eingeschränkt kompensieren.

Altersschwerhörigkeit ist häufig2


Der altersbedingte Hörverlust, auch Altersschwerhörigkeit genannt, betrifft etwa ein Drittel der 65-Jährigen und Älteren. Männer sind durchschnittlich etwas stärker betroffen als Frauen. Es handelt sich bei der Altersschwerhörigkeit um eine fortschreitende, beidseitig symmetrische Erkrankung des Hörens. Durch den Erkrankungsprozess kommt es zu einer zunehmenden Veränderung der Hörschwellen – das sind Intensitäten oder Lautstärken, bei der ein Ton einer bestimmten Frequenz gerade noch gehört werden kann – , zunächst für die höherfrequenten Töne, später auch für niederfrequentere Töne. Dies hat zur Konsequenz, dass nur noch lautere Töne gehört werden und sich Sprache und Geräusche verzerrt anhören. Dadurch wird das Sprachverständnis erschwert sowie die Geräuschwahrnehmung und -Lokalisation, v. a. bei Hintergrundgeräuschen oder Lärm.

In den letzten Jahren konnten durch zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen Zusammenhänge gezeigt werden zwischen unbehandelter Altersschwerhörigkeit und sozialer Isolation, reduzierter Teilnahme am gesellschaftlichen und sozialen Leben, verminderter Lebensqualität, Sturzrisiko, erhöhtem Risiko für Krankenhauseinweisungen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Depression und...

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