Alt - Na und?

Alt - Na und?

von: Erica Fischer

Berlin Verlag, 2021

ISBN: 9783827080264

Sprache: Deutsch

256 Seiten, Download: 3676 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Alt - Na und?



Ein empörender Vorgang


»Mir ist etwas Empörendes zugestoßen!«, schrieb die 49-jährige Veza Canetti am 3. Februar 1946 an ihren Schwager Georges: »Ich bin alt geworden!«[2]

Veza Canetti sah eines Tages ein anderes Spiegelbild von sich, als es ihrem inneren Bild entsprach. Wir kennen das alle: dieses Gefühl, dass wir plötzlich und unmerklich gealtert sind.

Aber eigentlich ist der Alterungsprozess ein kontinuierlicher Vorgang. Die Zeitschrift Der Spiegel hat es im November 2019 zusammengefasst[3]: Schon ungefähr im Alter von fünfzehn Jahren nimmt die Elastizität der Linse ab, mit etwa vierzig lässt die Sehfähigkeit in der Nähe merklich nach; etwa ab zwanzig nimmt die Zahl der für die Wahrnehmung von Tönen wichtigen Haarzellen in der Gehörschnecke ab, ab sechzig setzt oft eine Altersschwerhörigkeit ein; mit zwanzig nimmt die Produktion von Lungenbläschen ab, das Lungenvolumen wird kleiner; ab dem Alter von etwa fünfundzwanzig Jahren nimmt die Fruchtbarkeit der Frau ab, der Testosteronspiegel des Mannes sinkt; ab dreißig verliert der Knorpel des Bewegungsapparats an Elastizität, die Bandscheiben werden steifer; mit dreißig sieht man erste Spuren des Alterns, die Haut bindet weniger Feuchtigkeit und verliert an Elastizität; ab Mitte dreißig beginnen die Haare zu ergrauen; zwischen dreißig und vierzig beginnt der Knochenabbau den Knochenaufbau zu überwiegen; ab vierzig beginnt der Abbau der Muskeln; ungefähr ab vierzig wird mehr Fett eingelagert, der Energieverbrauch sinkt, und das Gewicht kann um ein bis zwei Kilo pro Jahr steigen; mit fünfzig lässt die Filtrationsleistung nach, die Blutreinigung dauert länger und ist weniger effektiv; ab sechzig sinkt die Reaktionsfähigkeit, und Gedächtniseinbußen machen sich bemerkbar, das Koordinationsvermögen verschlechtert sich, und die Geschmacksknospen schwächeln; mit fünfundsechzig Jahren kann das Herz Zeichen von Altersschwäche aufweisen, weil beispielsweise die Blutgefäße verkalken; die Anfälligkeit für Infekte erhöht sich.

»Nimm’s leicht – mehr brauchst du nicht zu tun«, rät die US-amerikanische Dichterin Dorothy Parker. »Kämpf nicht dagegen an. Du bist die einzige, die sich leidenschaftlich für dein Alter interessiert; andere Leute haben selber Sorgen. Es wird vermutlich nie Thema werden, außer du selbst bringst es aufs Tapet.«[4]

Das ist wahr. Ich bin nun achtundsiebzig, alle vom Spiegel aufgezählten Prozesse habe ich bereits durchlaufen. Glücklicherweise waren sie so schleichend, dass außer mir selbst kaum jemand anders es wahrgenommen hat. Jetzt wird mir auch bald noch der Graue Star behoben. Ich werde besser sehen, und niemand wird es merken. Aber trotzdem: Alt werden ist ein empörender Vorgang, eine unerhörte Verletzung der Eigenliebe. Es schmerzt, das jugendliche Aussehen und die jugendliche Kraft zu verlieren.

»Heute wie gestern glaube ich, dass gesellschaftlich alles unternommen werden muss, um alternden und alten Menschen ihr missliches Geschick zu erleichtern«, schrieb der österreichische Schriftsteller Jean Améry im Frühjahr 1977 im Vorwort zur vierten Auflage seines Buches Über das Altern. »Und zugleich beharre ich noch immer darauf, dass alle hochherzigen und hochachtenswerten Bemühungen in dieser Richtung zwar möglicherweise etwas zu lindern vermögen – also: gleichsam harmlose Analgetica sind –, dass sie aber am tragischen Ungemach des Alterns nichts Grundsätzliches zu verändern, zu verbessern imstande sind.«[5] Als Jean Améry sein unerbittliches Buch über das Altern schrieb, war er fünfundfünfzig Jahre alt.

Alt werden ist ein empörender Vorgang, obwohl wir alle wissen, dass wir irgendwann alt werden, wenn wir nicht jung sterben wollen. Doch wir bewahren vom Alter, so Marcel Proust, eine »rein abstrakte Vorstellung«. »Nichts sollte erwartungsgemäßer eintreten, aber nichts kommt unvorhergesehener als das Alter«, schreibt Simone de Beauvoir. »Oft ist der Arbeitende verblüfft, wenn die Stunde der Pensionierung schlägt: Das Datum stand seit langem fest, er hätte sich drauf vorbereiten können. … Jung oder in der Blüte der Jahre denken wir nicht wie Buddha daran, dass das künftige Alter schon in uns wohnt.«[6] Und sie appelliert: »Hören wir auf, uns selbst zu belügen; der Sinn des Lebens ist in Frage gestellt durch die Zukunft, die uns erwartet; wir wissen nicht, wer wir sind, wenn wir nicht wissen, wer wir sein werden: Erkennen wir uns in diesem alten Mann, in jener alten Frau. Das ist unerlässlich, wenn wir unsere menschliche Situation als Ganzes akzeptieren wollen.«[7]

Einfach ist das nicht, denn laut einer Studie ist der Anteil der Befragten, die angeben, 2007 Opfer von Diskriminierung geworden zu sein, bei keiner Diskriminierungsart so hoch wie bei der aufgrund des Alters. Die heutige Gesellschaft in den hoch industrialisierten Ländern hat die von ihr selbst geschaffene Langlebigkeit der Menschen noch nicht bewältigt. Es ändert sich derzeit etwas, aber immer noch haben wir keine Kultur, die sich positiv auf alte Menschen bezieht – es sei denn als ökonomisch interessanter werdende Zielgruppe.

Im Berufsleben gehört man schon ab fünfundvierzig zum »alten Eisen«, und verliert man in diesem Alter den Job, können Altersklischees die Wahl, wer eingestellt wird, beeinflussen. So haben sich bei zwei gleich qualifizierten Job-Kandidaten und -Kandidatinnen laut einer amerikanischen Studie von 2016 80 Prozent der Teilnehmenden für das jüngere Profil entschieden, egal um welche Tätigkeit es sich handelte. Viele Ältere berichten über Probleme beim Abschluss von Versicherungen und bei der Kreditvergabe durch Banken, selbst wenn sie über eine eigene Immobilie verfügen. Auch Schöffinnen und Schöffen dürfen bei Amtsantritt nicht älter als siebzig sein. Als mein Mann und ich eine Reise mit einem Cargo-Frachtschiff buchen wollten, waren wir knapp davor aufzugeben, weil alle angefragten Reedereien eine Altersgrenze von sechsundsiebzig Jahren vorsehen. Schließlich haben wir eine italienische Reederei gefunden, die Passagiere bis fünfundachtzig mitnimmt. Wir haben es nicht als Altersdiskriminierung wahrgenommen, sondern als notwendige, wenn auch vielleicht veraltete Vorsichtsmaßregel, weil es an Bord keinen Arzt gibt.

Wie man im Fall der Reedereien und der Schöffinnen sieht, hat die Festlegung eines bestimmten Alters mehr mit überkommenen Konventionen und Vorstellungen zu tun als mit der gesundheitlichen und geistigen Realität. Denn wann jemand als alt gilt, ist äußerst relativ. Den typischen alten Menschen gibt es nicht. Skilaufende müssen schon früh aus Altersgründen aus dem aktiven Wettkampfsport ausscheiden. Geistig Tätige bleiben oft bis ins Greisenalter »rüstig«. Arme und Schwerarbeiter altern früher.

»Keine Frau entkommt dem Schock, vierzig zu werden«, schrieb Susan Sontag 1972. »Nach Überwindung des ersten Erschreckens hilft ein liebenswerter, verzweifelter Überlebensimpuls vielen Frauen beim Eintritt in ein neues Jahrzehnt, die Grenze um weitere zehn Jahre hinauszuschieben. In der späten Adoleszenz erscheint dreißig das Ende des Lebens. Mit dreißig wird das Urteil auf vierzig verlegt. Mit vierzig geben sie sich noch zehn Jahre.«[8]

Die Missachtung alter Frauen hat eine lange Geschichte. In der Berliner Gemäldegalerie betrachte ich das Gemälde »Der Jungbrunnen«, das Lucas Cranach d. Ä. 1546 malte. Inmitten einer Weltlandschaft befindet sich ein Becken für Nichtschwimmerinnen, in das aus einem hohen Brunnen Wasser fließt. Männer, junge Frauen und Pferdegespanne bringen gebrechliche Greisinnen auf dem Rücken, in Schubkarren und auf Leiterwagen an den Rand des Beckens, wo sie entkleidet werden. Sie haben Hängebrüste und faltige Pos und Bäuche. Junge Frauen helfen ihnen beim Einstieg ins Wasser. Kaum haben sie die Hälfte des Beckens überwunden, werden ihre Brüste prall und ihre Haare nehmen Farbe an. Am anderen Beckenrand werden sie von einem selbstredend angekleideten Mann mit galanter Geste begrüßt und in ein bereitstehendes rotes Zelt gewinkt. Drinnen werden sie eingekleidet, und schon warten die Galane auf sie. Im rechten Vordergrund des Bildes vergnügt sich hinter einem Busch ein Paar beim Liebesspiel. Im Hintergrund ist auf einer Wiese ein großer Tisch weiß gedeckt, an dem die nunmehr jungen Frauen unter den bewundernden Blicken der Männer speisen und sich zum Tanz auffordern lassen.

Ausgehend von Interviews mit Frauen um die vierzig schrieb ich 1983 das Buch Jenseits der Träume. Ich zitiere aus dem Vorwort: »Ja wie alt bist du denn?, fragen mich die jungen Frauen aus der Frauenbewegung, wenn es unüberhörbar wird, dass mir mein Alter ein Problem ist. Bald vierzig, antworte ich verschämt. Was, das hätte ich nie gedacht! Das sieht man aber nicht!«[9] Wehmütig denke ich an die Zeit zurück, als ich vierzig war. Fotos von damals zeigen mir meine Schönheit und Tatkraft. Dennoch ging es mir schlecht, wahrscheinlich wegen irgendeiner misslungenen Liebe, und ich dachte, ich hätte meine besten Jahre hinter mir.

Heute ist mir mein Alter nur selten ein Problem, bloß eine unleugbare Tatsache, mit der ich offensiv umzugehen versuche. Ich bin alt. »Zu alt« für so manches, was früher einmal Spaß gemacht hat. Doch die Reaktion fällt immer noch ähnlich aus wie mit vierzig: »Was! Das sieht man aber nicht!« Es ist die Ziffer, die beeindruckt und augenblicklich ein klischeehaftes inneres Bild abruft, das mit meiner äußeren Erscheinung, vor allem aber mit meiner Lebendigkeit und Neugier auf die Menschen und die Welt nicht übereinzustimmen scheint. Und natürlich fühle ich mich geschmeichelt. Wer möchte nicht jünger wirken. Jünger...

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