Für ein Alter, das noch was vorhat - Mitwirken an der Zukunft

Für ein Alter, das noch was vorhat - Mitwirken an der Zukunft

von: Ludwig Hasler

rüffer & rub Sachbuchverlag, 2019

ISBN: 9783906304601

Sprache: Deutsch

144 Seiten, Download: 4023 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Für ein Alter, das noch was vorhat - Mitwirken an der Zukunft



»Soweit ich sehe«, schrieb Michel de Montaigne, »haben diese Leute nur die Arme und Beine aus dem Getümmel gezogen; ihre Seele und ihr ganzes Streben sind mehr als je darin verwickelt.« Montaigne, der Meisterdenker des 16. Jahrhunderts, meinte uns, die Alten. Er konnte nicht wissen, dass wir momentan eine menschheitsgeschichtliche Premiere durchspielen, bei der wir gar nichts aus dem Getümmel ziehen, schon gar nicht die Beine: das sogenannt Dritte Alter, die goldene Phase eines unbeschwerten Daseins, gern zwischen 60 und 80 und darüber hinaus, ein wunschloses Intermezzo zwischen den Berufsjahren mit ihren Zwängen und der Endzeit mit ihren Krücken und Kränkungen.

So hatten wir es uns immer gewünscht, als das Arbeiten uns noch daran hinderte: ein Leben nach eigenem Gutdünken, lauter Tage, die ganz uns gehören, wir können ans Meer reisen oder auf den Berg wandern, Tennis spielen oder Golf, in die Oper oder ans Schwingfest, vielleicht lernen wir noch etwas, Bienenzucht oder Cello, wir wirken ehrenamtlich mit, in Vereinen, Stiftungen, wo wir halt gebraucht werden. Wir können auch jetzt nicht immer tun, was wir wollen. Doch wir können, was wir tun, ganz zu unserer Sache machen. Auch wenn der Körper allmählich abbaut, das Gedächtnis nachlässt, die Gelenke harzen – dieses Alter schmeckt nicht nach Abschied, es kann – mit etwas Glück und Geschick – eine Zeit der Erfüllung werden, eine Zeit unentfremdeten Lebens. Dank E-Bike, SBB-Halbtax und Kraftwurzel Ginseng wächst die Unternehmungslust. Und soeben ist ein jahrzehntelanger Streit entschieden: Ja, bis ins Alter bildet das Gehirn neue Nervenzellen. Pro Quadratmillimeter Gewebe reifen etwa 15 000 Nervenzellen heran, das sind, gemessen an den 87 Milliarden Hirnzellen insgesamt, nicht umwerfend viele, doch immerhin ein Zeichen dafür, dass da oben noch im Alter etwas los sein kann. Signale werden aufgenommen und verarbeitet, Erinnerungen gespeichert und verworfen. Wir können nicht klagen, es fehle uns die Infrastruktur.

Da es so ein langes und freies Alter noch nie gab, wissen wir auch nicht, wie wir es am besten nutzen und was dabei herausschaut, für uns Alte, für die Gesellschaft, für die Jungen. Wir messen das Neue an dem, was wir kennen. Von früher kennen wir: Alte, die früh tot oder körperlich ruiniert, bestenfalls zum Stillsitzen verdammt waren. Dagegen sehen wir schlicht märchenhaft aus mit unserer Gesundheit, mit unserer Lebensprognose, und glauben verständlicherweise, das Glück stelle sich bei solch generösen Bedingungen von selbst ein. Wir machen uns nicht groß Gedanken, was ein Mensch so braucht, um beherzt und interessiert am Leben teilzunehmen. Wir reden kokett vom »Unruhestand«, und denken wohl instinktiv, da wir uns selbst das Wichtigste sind, es sei jeder Tag, den wir erleben, schon ein Gewinn, auch wenn wir gar nichts erleben, Hauptsache: unversehrt. Nur manchmal dämmert dem einen und andern, dass es vielleicht kein Reingewinn ist.

Zum Beispiel Herr S., intelligent, erfolgreich, gesund. »Nach 48 Jahren in meinem Job hatte ich plötzlich das Gefühl, nichts mehr wert zu sein. Irgendwann würde ich meinen Führerschein abgeben müssen, dann mein Haus verkaufen, am Schluss auch die Gesundheit verlieren.« Die Aussicht macht ihn krank, er richtet sich mit Alkohol auf, bis die Sucht nicht zu leugnen ist. Er stürzt, verletzt sich. Ändern will er trotzdem nichts. »Wieso sollte ich mit dem Trinken aufhören? Ich bin sowieso nur noch da, um die Kläranlage zu belasten.«

Herr S. ist ein Fall aus der Studie »Sucht Schweiz«. In keiner Altersgruppe ist Alkoholismus so verbreitet wie bei den 65-bis 74-Jährigen. Jeder dritte Süchtige wird als Rentner abhängig. Manchen kommt dies schleierhaft vor: Endlich haben wir Alten die Arbeit hinter uns, die goldenen Jahre vor uns – und fallen in Depressionen, schütten uns voll mit Alkohol. Was ist da los? Eine Suchtberaterin vom »Blauen Kreuz«: »Ab einem gewissen Alter rechtfertigen die Leute ihren Konsum oft damit, dass sie gar nicht mehr funktionieren müssen. Man muss ihnen zeigen, dass sie noch viel vor sich haben.« Ach ja? Was denn? Noch ein Ausflug? Noch eine Kreuzfahrt? Herr S. könnte überall hinreisen, wenn er nicht grad stürzt, ist er körperlich okay, seine Verhältnisse sind fast luxusmäßig gut, er hat Geld – und säuft sich doch zu Tode. Denn, so sagt er, er hat keine Aufgabe mehr, er fühlt sich entbehrlich, komplett überflüssig. Für ihn ist die Aussicht auf dieses lange Leben als Pensionär ein Albtraum.

Herr S. ist kein Einzelfall. Der britische Sozialwissenschaftler Johann Hari sucht weltweit nach Ursachen und Lebensumständen von Depressionen. Sein Fazit: Depressionen entstehen meist aus dem Gefühl, »mit der Welt nicht mehr verbunden zu sein«, aus »Gefühlen des Abgeschnittenseins«: von sinnvoller Arbeit, von Kolleginnen und Kollegen. Die sogenannte Lebensqualität spielt dabei eine untergeordnete Rolle, siehe Herr S.; wenn wir uns abgehängt fühlen, wenn wir nicht mehr zum Zug kommen, nichts zu sagen haben, dann können wir auf Rosen gebettet sein und knicken doch ein, antriebslos und depressiv.

Das sieht eine Studie des Bundesamtes für Gesundheit ähnlich. Da mit dem Alter die Sinne stumpfer werden, trinken die meisten nicht, weil sie das Tignanello-Bouquet genießen, sie brauchen die 14 Volumenprozente; »Pegeltrinken« nennt man das, es ist am häufigsten verbreitet unter Männern ab 65. Der Zweck ist klar: Bewusstsein herunterdimmen, auf unempfindlich schalten, bloß keine Sinnfragen jetzt. Herr S. ist nicht auf Sinnsuche, es bringt nichts, ihn in ein verständiges Gespräch über die Schönheiten des Alters zu ziehen. Herr S. will etwas zu tun haben, er will gebraucht werden, will etwas vorhaben. Ganz praktisch. Gesprächstherapeutisch ist da nichts auszurichten. Das verstehen Therapeuten schwer, aus professionellem Selbstverständnis, aber auch weil sie meist jünger sind. Aus jüngerer Sicht geht es den Alten ja prächtig: angenehme Lebensqualität, rüstig bei Kräften, nichts mehr zu tun. Das sieht paradiesisch aus für Leute, die jeden Morgen um acht zur Arbeit antraben müssen. Wie ausgerechnet das Paradies zur Hölle wird – siehe oben: Eva, Schlange, Apfel, Drama, Out –, das erschließt sich Jüngeren nur mit Mühe. Sie sehen die kommode Lebensqualität der Alten. Ältere wie Herr S. plagt die existenzielle Frage: Wozu?

Wozu brauche ich im Alter ein Wozu? Ist nicht das Beste am Alter, dass mir das ganze Sinnfragen-Gedudel egal wird? Mit Sigmund Freuds berühmten Worten in einem Brief an Marie Bonaparte im Ohr: »Im Moment, da man nach Sinn und Wert des Lebens fragt, ist man krank, denn beides gibt es ja in objektiver Weise nicht; man hat nur eingestanden, dass man einen Vorrat von unbefriedigter Libido hat, und irgendetwas anderes muss damit vorgefallen sein, eine Art Gärung, die zur Trauer und Depression führt.« Einen Vorrat unbefriedigter Libido haben wir alle. Aber muss uns das im Alter kümmern? Nun, da wir das eh nicht mehr wettmachen können? Seit wir selber gären, sind wir frei, über das Wozu zu lachen. Carpe diem! Oder ich ersäufe die Frage. Dumm nur, dass die Frage nicht mir gehört, sie taucht auf aus unserer Lage. Diese Lage gleicht der des bekannten Vogels auf dem Leim:

Es sitzt ein Vogel auf dem Leim,

Er flattert sehr und kann nicht heim.

Ein schwarzer Kater schleicht herzu,

Die Krallen scharf, die Augen gluh.

Am Baum hinauf und immer höher

Kommt er dem armen Vogel näher.

Der Vogel denkt: weil das so ist

Und weil mich doch der Kater frißt,

So will ich keine Zeit verlieren,

Will noch ein wenig quinquilieren

Und lustig pfeifen wie zuvor.

Der Vogel, scheint mir, hat Humor.

Wilhelm Busch, unverkennbar. Er macht uns nichts vor: Der Kater wird uns fressen. Was macht uns die Galgenfrist attraktiv, zumindest erträglich? Lustig pfeifen wie zuvor? Braucht das Humor? Müssen wir an den Kater denken? Ist es nicht schlauer, wir konzentrieren uns aufs Pfeifen? Am besten ohne Pausen?

Was tun mit den geschenkten 25 Jahren? Es gibt keine Instanz mehr, die vorgibt, was das Alter auszeichnen soll. Wir spielen nicht mehr mit in einer übergeordneten Erzählung, in einem »Leitnarrativ«, wie man das heute nennt, also in einer »höheren« Geschichte, worin alles, was wir tun und lassen, von selbst seine Bedeutung erhält. Wir sind frei. Für Bedeutung sind wir selber zuständig. Entsprechend auch selber schuld, wenn es uns dreckig geht.

In einem Welttheater unter göttlicher Regie mitzuspielen war vermutlich nicht lustiger. Doch der Glaube, dass jede Volte des Lebens, noch die gemeinste, die brutalste, irgendwie einer höheren Absicht entspreche, entlastete die geplagte Menschenseele, stärkte ihre Widerstandskraft gerade im Alter. Paradefall Hiob: Er wurde im Alter abgestraft, krass unfair, am Ende verlor er noch seine Kinder. Wurde er depressiv, griff er zum Alkohol? Nicht die Spur, seine Resilienz hielt stand – weil er eine Adresse für Klage, für Vergütungsansprüche hatte. Bekannt ist die Adresse weiterhin, gesellschaftlich hat sie ihre Verbindlichkeit eingebüßt. In einer säkularisierten Welt muss jeder selbst irgendwie klarkommen mit seinen Ängsten und Verletzungen. Um mit Jacques Lacan zu sprechen: Keine »symbolische Ordnung« fängt sie auf. Wir sind allein mit den Endzeit-Melodien des Alters. Kein Wunder, wollen wir die Zeit bis dahin – der Kater schleicht herzu – unbedingt nutzen: so voll wie möglich packen mit Ereignissen, mit Erlebnissen. Dabei wissen wir durchaus, dass auch die üppigste Fülle nicht von selbst zur existenziellen Erfüllung gerät. Wir sind jedoch so beschäftigt mit Organisieren der Fülle, dass wir es glatt vergessen.

Was belebt unsere geschenkten Jahre? Die beliebteste Antwort: Wir...

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