Pflegende Angehörige älterer Menschen - Probleme, Bedürfnisse, Ressourcen und Zusammenarbeit mit der ambulanten Pflege

Pflegende Angehörige älterer Menschen - Probleme, Bedürfnisse, Ressourcen und Zusammenarbeit mit der ambulanten Pflege

von: Pasqualina Perrig-Chiello, François Höpflinger

Hogrefe AG, 2011

ISBN: 9783456950358

Sprache: Deutsch

343 Seiten, Download: 3281 KB

 
Format:  PDF, auch als Online-Lesen

geeignet für: Apple iPad, Android Tablet PC's Online-Lesen PC, MAC, Laptop


 

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Pflegende Angehörige älterer Menschen - Probleme, Bedürfnisse, Ressourcen und Zusammenarbeit mit der ambulanten Pflege



Unabhängig von den verschiedenen Kontextbedingungen und allen gemeinsam ist jedoch, dass auch in der Schweiz die grosse Mehrheit (80 %) der zuhause lebenden pflegebedürftigen älteren Menschen von ihren Haushaltsmitgliedern unterstützt und betreut werden. Diese Arbeit wird mehrheitlich von Frauen geleistet, in erster Linie durch die Partnerinnen, mit zunehmendem Alter der pflegebedürftigen Person vornehmlich durch Töchter und Schwiegertöchter. Die zuhause Gepflegten sind mehrheitlich Männer. Dies nicht weil sie eine höhere Pflegebedürftigkeit hätten, sondern weil sie zum einen eine kürzere Lebenserwartung haben als Frauen (womit die Pflege des Partners in der letzten Lebensphase zu einem vorhersehbaren Altersschicksal wird), zum andern weil sie – im Gegensatz zu den Frauen – in der Regel in einer Partnerschaft leben (im Gegensatz zu Frauen gehen Männer vermehrt neue Partnerschaften und Ehen ein). Der Wert der privaten Pflegearbeit in der Schweiz ist beachtlich, er beträgt schätzungsweise jährlich rund 10 bis 12 Milliarden Schweizer Franken (Perrig-Chiello et al. 2008). Die familiale Solidarität wird in unserer Gesellschaft erwartet und sie funktioniert ganz offensichtlich gut. Doch vor dem Hintergrund des bereits erwähnten anhaltenden demografischen (längere Lebenserwartung und immer weniger Kinder, die Hilfe leisten können) und gesellschaftlichen (zunehmende Relativierung von traditionellen Werten wie Gemeinschaftssinn und Solidarität) Wandels stellt sich die Frage: Wie lange kann mit der familialen Solidarität noch gerechnet werden? Die Beantwortung dieser Frage ist von grosser sozialpolitischer Relevanz und eine besondere Herausforderung sowohl für die Wissenschaft als auch für die Politik und Gesellschaft. Aufgrund der Tatsache, dass familiale Pflege immer notwendiger und wichtiger wird, aber gleichzeitig immer weniger selbstverständlich, wurde das Thema «pflegende Angehörige» immer mehr zu einem gesellschaftlichen Thema. Denn daran besteht kein Zweifel: Pflegende Angehörige sind das tragende Fundament des Sozialund Gesundheitssystems. Ohne pflegende Angehörige würden die Kosten und Leistungsanforderungen der Pflege die Möglichkeiten unseres Sozialstaats masslos übersteigen.

Vor diesem Hintergrund stellen sich eine Reihe von brennenden Fragen: Wie genau steht es um die familiale Pflege von älteren Angehörigen in der Schweiz? Wer sind die Akteure, was leisten sie, was sind ihre Bedürfnisse, Belastungen und vor allem, was sind ihre Ressourcen? Wie können sie entlastet werden? Welchen Stellenwert nehmen ambulante Pflegedienste wie die Spitex ein? Welcher Handlungsbedarf ergibt sich daraus für die nächste Zukunft? Diese und noch viele andere Fragen will dieses Buch thematisieren und empirische Antworten geben. Die Grundlage dazu liefern die Ergebnisse eines Forschungsprojekts, das die Herausgeber dieses Buches im Auftrag von Spitex Schweiz in der deutschsprachigen Schweiz bei pflegenden Angehörigen von älteren Personen und bei SpitexMitarbeiterinnen durchgeführt haben (Perrig-Chiello et al. 2010). Es handelt sich dabei um ein Forschungsprojekt, das erstmals repräsentative Daten zur Situation pflegender Angehöriger in der Schweiz erhoben hat und eine bedeutende Forschungslücke schliesst.

Forschung zum Thema pflegende Angehörige in der Schweiz

Über pflegende Angehörige gibt es vor allem im angelsächsischen Raum viele Studien. Im Laufe der letzten Jahre wurden auch in der Schweiz vermehrt Studien zum Thema durchgeführt (insbesondere zur Belastung pflegender Angehöriger sowie zu Entlastungsangeboten). Obwohl diese wichtigen Beiträge zum besseren Verständnis der Situation pflegender Angehöriger führen, ist die Forschungslage alles andere als klar, und viele Forschungsfragen bleiben unbeantwortet.

? Die Mehrheit der Studien wurde mit kleineren, stark selegierten und nichtrepräsentativen Stichproben von pflegenden Angehörigen durchgeführt. Angehörige wurden oft als Oberkategorie verwendet. Dabei wurde zu wenig berücksichtigt, dass Pflege durch Partnerinnen und Partner – als dyadische Beziehung – anderen Regelungen unterliegt als intergenerationelle Hilfeund Pflegeleistungen durch Töchter und Söhne, wo vermehrt auch intergenerationelle Ambivalenzen sichtbar werden. Diese führen teilweise dazu, dass alte Elternteile lieber professionelle Hilfe und Pflege wünschen als jene ihrer Kinder.

? In vielen Fällen haben sich diese Studien zudem auf schwere Pflegesituationen – etwa mit demenzkranken Angehörigen – konzentriert. Eher vernachlässigt wurden hingegen weniger intensive Hilfeund Pflegeleistungen zuhause, etwa bei hochaltrigen Menschen im fragilen Lebensalter. Aber gerade diese Pflegesituation ist die häufigste und auch diejenige, die demografisch bedingt in Zukunft am häufigsten sein wird. Denn auch wenn in Zukunft die Zahl schwerer Pflegesituationen ansteigen wird, so wird aufgrund der Alterung der Babyboom-Generation die Zahl an leicht bis mittelschwer hilfsund pflegebedürftigen zuhause lebenden älteren Menschen noch stärker zunehmen; sie werden zwar länger behinderungsfrei leben, aber letztlich nicht von Beschwerden und funktionalen Einschränkungen verschont bleiben.

? Während bisher durchgeführte Studien die Belastungen pflegender Angehöriger klar aufzeigten, haben diese Arbeiten vielfach die eigentlichen Pflegearrangements – das Zusammenspiel oder vielmehr das Nicht-Zusammenspiel – von Angehörigen und Professionellen (Spitex u.a.) zu wenig differenziert diskutiert. Zudem mangelt es an ressourcenorientierten Ansätzen sowie an interdisziplinären Zugängen, wo neben soziologisch-demografischen Ansätzen auch die psychologische Perspektive einbezogen wurde.
? Hilfeleistungen und Pflegeleistungen werden zu oft zusammengefasst, obwohl gesundheitlich bedingte Hilfeleistungen und familial oder professionell erbrachte Pflegeleistungen – die auch eine starke körperliche Intimität einschliessen – anderen sozialen und psychologischen Gesetzmässigkeiten unterliegen. Dies ist namentlich zu beachten, wenn es darum geht, intergenerationelle Leistungen seitens der Söhne zu stärken oder das Verhältnis von professionellen und familialen Angeboten zu diskutieren.
? In bisherigen Arbeiten fehlt vielfach ein vertieftes Verständnis familialer Generationenbeziehungen. Gleichzeitig wurde in vielen bisherigen Arbeiten zur Angehörigenpflege der zeitliche Wandel der Generationenbeziehungen unterschätzt (etwa bezüglich Einfluss moderner Lebensformen auf familiale Hilfe und Unterstützung).
? Ein letzter und nicht unwesentlicher Kritikpunkt betrifft die Tatsache, dass bisherige Forschungsergebnisse vorwiegend auf Selbstberichten basieren. Es ist bekannt, dass bei Selbstberichten allerlei verzerrende Effekte auftreten können. So hat beispielsweise die Mehrheit der Studien aufgezeigt, dass Frauen eine höhere Pflegebelastung geltend machen als Männer. Dieses Ergebnis kann unterschiedlich interpretiert werden: Entweder sind Frauen tatsächlich stärker belastet als Männer, oder sie haben eine grössere Bereitschaft, darüber zu berichten. Oder aber Männer unterliegen einem stärkeren Geschlechtsrollendiktat, und das Zugeben von psychischen und physischen Problemen aufgrund der Pflege wird als unmännlich – also als Geschlechtsrollenbruch gesehen.

Zielsetzung dieses Buches

Auch wenn über pflegende Angehörige schon viel geschrieben wurde, gibt es – wie eben dargelegt – noch viele offene Fragen, und es fehlt an differenziellen und verlässlichen Daten, vor allem zur Situation in der Schweiz. Vor diesem Hintergrund verfolgt das vorliegende Buch eine doppelte Zielsetzung:

1. Zum einen soll als primäres Ziel die aktuelle Situation pflegender Angehöriger in der Schweiz aus gesellschaftlicher wie familialer Perspektive ausgeleuchtet werden. Dies soll anhand der wichtigsten Ergebnisse des SwissAgeCare2010-Projekts «Pflegende Angehörige von älteren Menschen in der Schweiz» erfolgen. Die Daten dieses interdisziplinären und multimethodalen Projekts liefern in der Tat ein differenziertes Bild der psychosozialen Situation pflegender Angehöriger, Partnerinnen und Partner, Töchter und Söhne von alten Menschen mit unterschiedlicher Hilfsund Pflegebedürftigkeit sowie zur Zusammenarbeit mit der ambulanten professionellen Pflege, namentlich der Spitex.

2. Zum anderen sollen diese Ergebnisse in einen grösseren Zusammenhang gestellt werden. Diese Verortung unserer Daten im nationalen und internationalen Status quo der Forschung ist zentral und erlaubt es darüber hinaus, praktische Schlussfolgerungen über die aktuellen und künftigen Herausforderungen zu ziehen.

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