Interprofessionelle Spiritual Care - Das Buch des Lebens lesen

Interprofessionelle Spiritual Care - Das Buch des Lebens lesen

von: Renata Aebi, Pascal Mösli

Hogrefe AG, 2020

ISBN: 9783456758572

Sprache: Deutsch

160 Seiten, Download: 12465 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Interprofessionelle Spiritual Care - Das Buch des Lebens lesen



1 Spiritualität entdecken: Gott kommt früher als der Missionar


Wir beide, Autorin und Autor dieses Praxishandbuches, sind Fachpersonen der Seelsorge. Aus eigener, langjähriger beruflicher Erfahrung kennen wir unterschiedliche Settings des Gesundheitswesens: große und kleine Spitäler, Langzeitpflegeinstitutionen, Palliativstationen und Hospizeinrichtungen.

Jede dieser Institutionen bildet eine eigene kleine Welt. Es riecht an jedem Ort ganz besonders, die Art des Umgangs der Menschen untereinander, die Kultur ist an jedem Ort eine andere. Die Sprache, die gesprochen wird, und die Stimmungen sind unterschiedlich. Die jeweilige Gestimmtheit dieser Orte wird geprägt durch die Menschen, die dort leben oder arbeiten, durch das Angebotsprofil der Einrichtung, durch die Architektur des Gebäudes, die Farbgebung in den Räumen, durch die Umgebungsgestaltung, die landschaftliche Einbettung und vieles mehr.

Unser Interesse als Seelsorgerinnen und spirituelle Begleiter gilt all dem und wie Menschen in der Institution den Alltag gestalten. Zugleich gilt es einer darin verborgenen Tiefendimension des Lebens, die nicht durch menschliche Aktivität entsteht: der Stille, dem unsichtbaren Vibrieren, der pulsierenden Lebendigkeit, all dem, was in der jeweiligen Lebenswelt einer Gesundheitsinstitution „auch noch“ geschieht. Wir nennen es die spirituelle Dimension oder die Dimension der Tiefe, des Seins.

Diese Dimension bleibt im alltäglichen Handeln oft verborgen. Im Alltag der Betreuungsinstitution stehen die Anforderungen der Betreuung und die täglichen Handlungsabläufe im Vordergrund. Es geht darum, die Patientinnen und Bewohner möglichst gut zu unterstützen, ihre Anliegen zu berücksichtigen, eine professionelle Betreuung und Pflege zu gewährleisten. Auch die Bewohnerinnen und Patienten selbst haben ihre persönliche Agenda und ihre eigenen Wünsche, wie sie ihre Tage und die vor ihnen liegende Zeit gestalten möchten.

Doch unvermittelt können Dinge geschehen, die den geplanten Ablauf unterbrechen, in Frage stellen oder blockieren. Ein Patient, der sich durch seinen Krankheitsverlauf auf immer wieder neue, ihn existentiell herausfordernde Situationen einstellen musste, deutete seinen Weg so: „Manchmal will das Leben auch noch etwas dazu sagen, wie es gelebt werden will.“ Wir sind vielen Patientinnen und Patienten begegnet, die Ähnliches gesagt haben könnten, die durch ihre Krankheit oder ihren Sterbeprozess aus ihren Gewohnheiten herausgerissen und in ungekannte Lebensdimensionen geführt wurden, die sie fürchteten oder denen sie sich innerlich anvertrauten und in denen sie sowohl die Leere als auch die Fülle des Lebens ganz neu und intensiv kennenlernten.

Eine Pflegefachperson, die einen sterbenden Patienten in seiner letzten Nacht begleitete und am Morgen einige Minuten an seinem Bett saß, erlebte diese kurze Zeit „wie eine Ewigkeit, voller Kraft, Tiefe und Schönheit“. So erleben viele Fachpersonen im Gesundheitswesen überraschende und nicht alltägliche Momente der Begegnung mit den Menschen, um die sie sich kümmern: Momente, die sie zutiefst berühren und beglücken. Dabei tun sie gar nichts Besonderes, sie orientieren sich an keinem professionellen Schema oder Plan, sondern sie sind „einfach da“. Sie sind offen für alles, was geschieht, und dadurch nehmen sie eher auf, was sich tatsächlich ereignet, als dass sie selbst beeinflussen wollen, was sich ereignen sollte. Oft sind es gerade solche intensiven Momente, die wesentlich dazu beitragen, dass Gesundheitsfachpersonen aus ihrer Arbeit Kraft schöpfen können, um innerlich lebendig und engagiert bleiben zu können.

In einem biblischen Gleichnis beschreibt Jesus die spirituelle Dimension des Lebens mit einem Bild aus der Natur: „[…] so, wie wenn einer Samen aufs Land wirft; er schläft und steht auf, Nacht und Tag. Und der Same sprosst und wächst empor, er weiß nicht wie. Von selbst bringt die Erde Frucht, zuerst den Halm, dann die Ähre, dann das volle Korn in der Ähre.“ (Die Zürcher Bibel, 2007, Mk. 4, 26b-28).

Es gibt zwei menschliche Aktivitäten in dieser Mini-Erzählung, die sich auf ein Geschehen beziehen, das sich der menschlichen Aktivität entzieht: das Säen und das erstaunte Wahrnehmen. Beides bezieht sich auf einen Vorgang, der sich aus sich selbst heraus und ohne menschliche Aktivität entfaltet.

Der Patient wie auch die Pflegefachfrau handeln insofern aktiv, als sie sich für das öffnen, was gerade geschieht. Dabei nehmen sie an einem Geschehen teil, das ihr Tun transzendiert (lateinisch transcendere = hinübersteigen, überschreiten). Und dieses Geschehen verbindet die Menschen, die es wahrnehmen: Es verbindet die Pflegefachperson und die sterbende Patientin. Diese Verbindung wird spürbar, ohne dass sie sich in exakten Worten beschreiben oder erklären ließe.

In der spirituellen Erfahrung lösen sich die Rollen auf, die wir üblicherweise einnehmen – hier die Expertin, der Fachmann und da die Patientin, der Ratsuchende. Die Herausforderung für Gesundheitsfachpersonen besteht darin, sich berühren zu lassen – nicht in Form eines professionellen Kniffs, um Nähe oder Vertrauen zu erzeugen, sondern aus absichtslosem Ergriffensein, hervorgerufen durch ein erstaunliches, berührendes Geschehen.

Wenn ein Mensch in einer kritischen Situation um seine Kraft und Hoffnung ringt, besteht Spiritual Care zuerst einmal nicht in Fachwissen und Fertigkeiten, sondern in der Offenheit, sich von den Ängsten und der Trauer, der Suche nach Bedeutung in einer chaotisch erlebten Situation betreffen zu lassen. Es geht zuerst einmal nicht um irgendwelche Lösungen oder Antworten, nicht darum, dass sich der oder die andere rasch besser fühlen sollte, sondern um das Dabeibleiben, um den Raum, der in dieser Situation erlebt werden kann. Um die Verbindung, die gerade dadurch entstehen kann, dass man keine Pläne für den anderen verfolgt, sondern nur da ist und wach wahrnimmt, was gerade geschieht.

Anstelle fachlicher Kompetenz sind andere Eigenschaften gefragt: Wachsamkeit, Offenheit, Mut, innerer Freiraum und Humor. Im Herzen der Spiritualität findet die Begegnung zwischen Menschen statt, die sich in diesem Augenblick vom Leben berühren lassen und dabei ihre Menschlichkeit teilen. Die zusammen fragen, staunen, etwas entdecken und die präsent und im Kontakt sind. Vielfach zeigt sich das Heilende und das Unterstützende gerade da, wo wir es nicht aktiv herstellen wollen, sondern offen für das sind, was geschieht. Joanna Macy beschreibt dies so: „It’s that knife-edge of uncertainty where we come alive to our truest power.“ (https://gratefulness.org/word-for-the-day/its-that-knife-edge-of-uncertainty-where-we-come-alive-to-our-truest-power/).

Im Spital oder in der Palliativstation, oft an den Rändern des alltäglichen Lebens, entstehen viele berührende Begegnungen, kleine Dialoge nach dem Aufstehen oder schweigende Augenblicke in der Tiefe der Nacht. Oft spielen Tiere eine Rolle, ein Vogel vor dem Fenster, eine Katze im Haus oder ein Hund, der in einer Erzählung auftaucht. Es sind Augenblicke, in denen die Welt still zu stehen scheint, in denen man nichts muss, nichts will, nichts nicht will, in denen man einfach da ist, verbunden mit dem Leben, das sich aus sich selbst heraus entfaltet. In solchen Begegnungen leuchtet etwas von der spirituellen Tiefendimension des Lebens auf, die unsere alltäglichen Gewohnheiten und routinierten Wahrnehmungsmuster aufbrechen und die zugleich mitten im Alltäglichen gefunden werden kann.

Seelsorgende sind an dieser Tiefendimension menschlicher Erfahrung interessiert, sie ist sozusagen ihre berufliche Kernaufgabe. Aber zugleich teilen sie diese Dimension mit allen anderen Menschen, die in einer Institution leben und arbeiten. Wie es das Beispiel des Patienten und der Pflegefachperson zeigt, tragen Seelsorger und spirituelle Begleiterinnen die spirituelle Dimension nicht in die jeweiligen Welten hinein – nein, sie ist längst da. Der Priester und Schriftsteller Leonardo Boff bringt es im Titel seines Buches auf den Punkt: „Gott kommt früher als der Missionar“ (Boff, 1991).

Für die spirituelle Begleitung gilt darum: Es braucht vor allem das konzentrierte Wahrnehmen und Hinhören, um Äußerungen von Spiritualität beim anderen zu erfassen und zu erkennen, in welcher „Sprache“ sie vermittelt werden. Dies im Wissen darum, dass Spiritualität in unterschiedlichsten Weisen erlebt und beschrieben werden kann. Dabei brauchen die Begleitenden die persönliche Spiritualität der Begleiteten nicht zu teilen. Was es braucht, ist Offenheit und Hellhörigkeit für die jeweiligen Einstellungen und Erfahrungen des anderen und den unbedingten Respekt davor. Dies deckt sich mit der Grundhaltung professioneller Palliative Care: „Im Zentrum der Palliative Care steht der individuelle Mensch in seiner persönlichen Lebenswelt. In der Palliative Care wird jeder Mensch als einzigartiges Individuum anerkannt und respektiert.“ (BAG & GDK, 2010, S. 9).

Der Fokus der Seelsorge, ihre spezifische und besonders geschulte Kompetenz ist es, spirituelle Äußerungen in den Lebens- und Krankheitserfahrungen der Menschen wahrzunehmen, hellhörig für sie zu sein und die darin verborgene Tiefendimension zu erschließen. Die Rolle der Seelsorge in der Institution und in der interprofessionellen Zusammenarbeit besteht darin, auf spirituelle Phänomene und die spirituelle Dimension überhaupt hinzuweisen, dazu beizutragen, dass sie in der Behandlung, Pflege und Begleitung von Patientinnen und Bewohnern...

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