Spurenlesen im Sprachdschungel - Kommunikation und Verständigung mit demenzkranken Menschen

Spurenlesen im Sprachdschungel - Kommunikation und Verständigung mit demenzkranken Menschen

von: Svenja Sachweh

Hogrefe AG, 2019

ISBN: 9783456757490

Sprache: Deutsch

448 Seiten, Download: 12013 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Spurenlesen im Sprachdschungel - Kommunikation und Verständigung mit demenzkranken Menschen



2 Veränderungen der nonverbalen Kommunikationsfähigkeit

Wie Sie bereits wissen, büßen die Betroffenen früher oder später durch die Demenz erhebliche Teile ihrer verbalen Kommunikationsfähigkeit ein (vgl. Kapitel 1). Erst fehlen nur hier und da ein paar Ausdrücke. Später ist das Sprechenkönnen im schlimmsten Fall auf wenige und oft automatisierte Begriffe reduziert. Manchen Menschen mit Demenz im fortgeschrittenen Krankheitsstadium steht nur noch die ursprünglichste Kommunikationsform zur Verfügung: die Körpersprache.

Die Körpersprache wird im Wesentlichen von der rechten Hirnhälfte gesteuert und prozessiert (Devinsky, 2000; Paradis, 2001).

Aber kaum einer weiß, wie sich ihre nonverbale Kommunikationsfähigkeit im Einzelnen verändert. Abschnitt 2.1 verdeutlicht daher, was demenzkranke Menschen im besten Fall (richtig) wahrnehmen und verstehen können. Abschnitt 2.2 führt vor, dass und warum sie nonverbale Signale manchmal falsch deuten. Abschnitt 2.3 zeigt, was sie selber ausdrücken können. In Abschnitt 2.4 wird erläutert, was die nonverbale Kommunikation in der Pflege erschwert, und in Abschnitt 2.5 wird auf die Gefahr von voreiligen Schlüssen und Fehleinschätzungen hingewiesen. Abschnitt 2.6 schließlich veranschaulicht, wie man die nonverbale Kommunikation mit den Betroffenen optimal gestalten kann.

Selbstverständlich gibt es hinsichtlich der Sensibilität für Körpersprache mehr oder weniger große individuelle Unterschiede: Das ist bei demenziell erkrankten nicht anders als bei kognitiv nicht eingeschränkten Menschen. Tendenziell sind jedoch die in den Abschnitten 2.1 bis 2.3 erläuterten Entwicklungen zu beobachten.

2.1 Körpersprache wahrnehmen und verstehen

Menschen mit Demenz verlieren nach und nach ihre kognitiven, nicht aber ihre emotionalen Fähigkeiten: Sie können zwar ihre Gefühle und die anderer immer weniger gut benennen.1 Bis ins fortgeschrittene Krankheitsstadium nehmen sie aber, wenn sie nicht zusätzlich erheblich hör- und sehbehindert sind, nonverbale Signale wahr und reagieren entsprechend darauf.2 Und wie Sie und ich sprechen sie beispielsweise in vielen Fällen sehr positiv und emotional auf Musik an3, vor allem auf Livemusik.4 Erst im späten Krankheitsstadium ist bei manchen zu beobachten,

  • dass sie wenn, dann auf Berührungen reagieren,5
  • und dass sie aufgrund ihrer kognitiven Probleme in komplexen sozialen Situationen Defizite in der Wahrnehmung von Gefühlen anderer aufweisen.6

Dennoch ist grundsätzlich davon auszugehen, dass sie bis zum Lebensende nonverbale Botschaften senden und empfangen können.7

Viele Menschen mit Demenz weisen sogar eine gesteigerte Sensibilität für die körpersprachlichen und emotionalen Signale ihrer Mitmenschen auf.8 Mit anderen Worten: Was dem Blinden das Hören und Fühlen und dem Hörbehinderten Mimik und Gestik sind, ist für demenzkranke Menschen alles Nonverbale. Darin ähneln sie präverbalen, also noch nicht sprachfähigen Kindern.9 Schon Babys im Alter von wenigen Monaten haben gelernt, das Befinden ihrer Mutter an deren Gesichtsausdruck abzulesen.

Für diese erhöhte Wahrnehmungsfähigkeit gibt es eine Reihe von möglichen Gründen. Erstens sind Menschen mit Demenz immer weniger vom gesprochenen Wort ablenkbar. Sie erfassen vielleicht nicht mehr, was wir sagen, wohl aber, wie wir es sagen.

Zweitens kann es sein, dass so eine Art Überlebensinstinkt zum Zuge kommt: Die krankheitstypischen Gefühle wie Unsicherheit, Angst, Verwirrung, Misstrauen und Ohnmacht könnten dazu führen, dass sie ihre verbleibenden Kräfte wie unsere vorsprachlichen Vorfahren dafür nutzen, möglichst schnell und zuverlässig zu erfassen, ob ihr Gegenüber Freund oder Feind ist; ob sie sich entspannen können oder sich verteidigen müssen.10

Und drittens schließlich ist es denkbar, dass in einer Welt, in der die Dinge den Betroffenen immer weniger bedeuten und immer rätselhafter werden, Beziehungen und Gefühle eine immer größere Bedeutung bekommen – und die werden nun einmal vorwiegend über die Körpersprache kommuniziert.

Menschen mit Demenz sind jedoch nicht nur sensibel für nonverbale Signale. Zum einen spiegeln sie manchmal Bewegungsmuster, die sie an uns beobachten (beispielsweise wenn wir selber etwas trinken, einen Löffel zum Mund führen, oder eine Jacke zuknöpfen).11 Und zum anderen durchschauen sie uns tatsächlich manchmal besser als KollegInnen oder gar Familienangehörige. Sie nehmen deutlicher als andere wahr, wenn wir unsicher, verärgert, gestresst oder traurig sind.12 Und sie reagieren darauf: manchmal mit Mitgefühl, manchmal mit Verunsicherung und Selbstvorwürfen13, manchmal mit Ärger.14 Pflegende berichten mir immer wieder, dass die Betroffenen, wenn sie noch verbal kommunizieren können, schneller als andere nachfragen, ob etwas nicht stimmt. Mit anderen Worten: Meist schaffen wir es nicht, unsere wirklichen Gefühle vor demenzkranken Menschen zu verbergen. Sie können gewissermaßen zwischen den Zeilen lesen. Ein aufgesetztes, gekünsteltes Lächeln durchschauen sie.15 Mühsam unterdrückte oder überspielte Hektik und Gereiztheit auch. Und wie Sie sicher alle wissen: Je mehr man unter Druck steht, pflegerische Handlungen schnell über die Bühne zu bringen, desto langsamer werden die Betroffenen, und desto schneller blockieren sie vollständig. Desto häufiger kommt es zu Verhaltensweisen, die wir als aggressiv oder herausfordernd bezeichnen. Das geschieht aber nicht etwa, weil sie bockig oder von sich aus aggressiv wären – nein! Unsere Körpersprache, unsere negative Verfasstheit hat sie gewissermaßen angesteckt. Mit anderen Worten: Was wir in solchen Situationen erleben, haben wir gar nicht selten selber ausgelöst – es ist eine spiegelnde Reaktion auf unsere Körpersprache.16

Kleiner Exkurs: die Theorie der Spiegelneurone

Erklären kann man die nonverbale bzw. emotionale Ansteckbarkeit Demenz-Betroffener vielleicht mit der Theorie der Spiegelneurone (vgl. Bauer, 2006; Frith/Frith, 2006; Gaschler, 2007). Die Idee hinter dieser auf neurobiologischen Experimenten basierenden Theorie ist folgende: Alle Menschen

  • lächeln und lachen, wenn man sie anlächelt oder lacht,
  • gähnen, wenn jemand gähnt,
  • pfeifen, wenn andere pfeifen,
  • öffnen den Mund, wenn sie Essen anreichen,
  • empfinden Schmerz, wenn ein anderer sich weh tut,
  • fühlen Ekel, wenn sie Ekel bei anderen beobachten,
  • übernehmen unbewusst die Sitzhaltungen und Bewegungen ihrer Gesprächspartner
  • und schauen in die Richtung, in die andere intensiv blicken,

    weil bestimmte Nervenzellen sie dazu anregen, unter Umgehung von Verstand und Überlegung sowohl bei anderen beobachtetes Verhalten als auch deren Stimmungen und Gefühle unbewusst nachzuvollziehen oder sogar instinktiv zu imitieren, d.h. zu spiegeln. Entsprechend nennt man diese Nervenzellen Spiegelneurone. Über die Auswirkungen, die die Aktivierung dieser Nervenzellen haben kann, schreibt Bauer (2006, S. 89):

„Die Aktivierung der Spiegelneurone kann uns faktisch verändern. Die gute (oder schlechte) Laune eines Mitmenschen kann zu unserer eigenen guten (oder schlechten) Laune werden. Die Freude, der Schmerz, die Angst oder der Ekel eines anderen kann in uns selbst Freude, Schmerz, Angst oder Ekel erzeugen.“

Kognitiv und psychisch gesunde Menschen scheinen so etwas wie eine „Signalbremse“ zu besitzen: Sie können die Launen und Handlungen anderer wahrnehmen, ohne sie nachzuahmen (Gaschler, 2007). Sie können bis zu einem gewissen Grad steuern, ob sie sich von ihnen anstecken lassen. Menschen mit Demenz gelingt das anscheinend viel schlechter. Auf sie färbt die Anspannung oder das Schreien anderer ab, und einige von ihnen „ahmen Gesten von anderen nahezu reflexartig nach“ (Gaschler, 2007, S. 77), was fachsprachlich als Echopraxie bezeichnet wird. Entsprechend könnte es also so sein, dass bei ihnen die „Signalbremse“ aufgrund der abnehmenden geistigen Fähigkeiten weniger gut funktioniert als bei kognitiv Gesunden (Gallese, 2001).

Menschen mit Demenz interpretieren die Körpersprache anderer also aktiv17 – und das umso intensiver, je mehr sie die Fähigkeit zur verbalen Kommunikation verlieren. Dabei nehmen sie nonverbale Kommunikation und Körpersprache mit allen ihnen noch zur Verfügung stehenden Sinnen wahr, um beispielsweise herauszufinden, wie es anderen Menschen geht, und ob sie ihnen vertrauen können. Und sie reagieren sensibel auf alle wesentlichen nonverbalen Kommunikationskanäle:

  • auf das Gesicht, also auf die Mimik und den Blickkontakt,
  • auf den Klang der Stimme,
  • auf...

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