Chronik eines Sonnenuntergangs - Als meine Frau an Alzheimer erkrankte

Chronik eines Sonnenuntergangs - Als meine Frau an Alzheimer erkrankte

von: Gottfried Bergmann

Zytglogge Verlag, 2019

ISBN: 9783729622623

Sprache: Deutsch

230 Seiten, Download: 4046 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Chronik eines Sonnenuntergangs - Als meine Frau an Alzheimer erkrankte



18. Oktober 1958

Schwanger und trotzdem dabei, Skifahren zu lernen

Bärbeli ist angekommen (Bild oben: Mit Fernandas Bruder Ermanno)

Fernanda mit Nandina

Fernanda und unsere Kinder mit ihrer Nonna in Venedig

Der Jüngste ist angekommen, Peter

Die Familie ist komplett. Hier in der Alphütte bei St. Stephan

In Châtillon

1963 in Rom

Ermanno mit seinen Schwestern Fernanda und Jole in Uettligen 1967

Unsere Kinder mit Joles Sohn Alessandro

Bern 1972

Bern, Steinerstrasse 7, 1972

Auf dem Ochsen

Fernanda bei der Arbeit mit Behinderten in Oberthal und Biel

1975 in Norwegen

Der letzte Hafen: Biel

Fernanda mit Enkelkind Jelena 1989

Ums Jahr 2000

2004: Die Demenz hat eingesetzt

Barbara tanzt mit ihrem Mütterchen

Jelena, Fernanda, Nandina und Raffaël

Im Haus Serena: Nandina und Fernanda

Ich spiele Mundharmonika

Den heutigen Verlobungstag – wir verlobten uns an Pfingsten 1958 – feierten wir mit gebratenem Fisch und einem kleinen Spaziergang auf der Insel. Auf dem Weg nach Schönbühl verpassten wir in Bern den Anschluss und mussten eine halbe Stunde warten. Ich stieg mit ihr in die Neuengasse hinauf und bestellte in einem Strassencafé eine Tasse Kamillentee, da mir schien, sie habe ihr Sandwich etwas schnell gegessen. Ein braun gebrannter flotter Kerl setzte sich neben uns an den Strassenrand und verpflegte sich aus seinem Rucksack. Er sah zu, wie ich Fernanda beim Trinken behilflich war und knüpfte ein Gespräch an. Er war Spanier, sprach aber auch italienisch und erwies sich als das, was ich in ihm vermutet hatte: als Weltenbummler. Er wollte wissen, wie lange wir schon zusammen seien. Ich antwortete, dass wir uns just vor 48 Jahren verlobt hätten. Da hob er mit der linken Hand den breitkrempigen Hut vom Kopf und streckte mit der rechten den Daumen hoch. Wir lachten und dankten ihm.

17. Juni 2006

Zum ersten Mal wurde Fernanda heute von Monika Degen abgeholt. Monika wirkt im Thorberg als Musiktherapeutin und fährt auf dem Rückweg ohnehin in Schönbühl vorbei. Es gab keine Probleme, Fernanda erkannte sie offenbar sofort und liess sich gerne entführen. In Biel besuchten wir das Sommerfest der Tagesschule, assen Spaghetti und Kuchen, trafen alte Bekannte und kehrten glücklich und müde heim.

Nachdem wir uns ausgeruht hatten, besuchten wir die Ausstellung von Gianni Vasari in der Gewölbe-Galerie, trafen ihn selber auch dort an, diesen sprühenden Farbvulkan, bummelten hierauf durch die Altstadt, in der es des Jodlerfestes wegen von Trachtemeitschi und Chüejermutzepursche wimmelte, und kehrten zum zweiten Mal glücklich und müde heim.

Auf dem Balkon liessen wir uns eine Melone mit kandiertem Ingwer schmecken und gingen zum dritten Mal aus, diesmal durch den Beaumont in den stillen, schattigen Wald, liebkosten Fernandas einstigen Lieblingsbaum, sogen den schwer-süssen Duft des Baldrians und den leicht-süssen der Buschrose ein und kehrten zum dritten Mal glücklich und müde heim. Und als ich Fernanda fragte, ob sie noch ein Märchen hören möchte, erklang ein freudiges «Si!» und wir ergötzten uns an ‹Il palazzo delle scimmie› (Der Palast der Affen) aus Italo Calvinos Schatztruhe.

Und liessen es auch nicht fehlen an Zärtlichkeit, dieser von Sexualität nunmehr unbelasteten Zärtlichkeit, die der Kindheit und dem Alter vorbehalten ist. Nach solchen Stunden ohne die leiseste Trübung sage ich mir: Auch wenn’s morgen oder vielleicht schon in der Nacht wieder ganz anders sein wird – er war einmal möglich, dieser Tag, dieser Gruss aus dem Paradies.

24. Juni 2006

Die Steiner Schule gab heute im Bieler Stadttheater das Stück ‹Anatevka› und unser Enkelsohn Rafaël spielte den Milchmann, das durften wir nicht verpassen! Nun, das war dann wieder einmal ein bisschen zu viel: Drei Stunden in der Backofenhitze auf dem Balkon, links oben, dort, wo der Milchmann immer hinschaute, wenn er mit dem lieben Gott sprach … Auf dessen Rolle hätte ich gerne verzichtet, obschon sie bei Leuten, die uns kannten, Heiterkeit auslöste. Fernanda glitt mir mehrmals beinahe vom Sessel, und als ich sie zu Bett brachte, schlief sie schon, bevor ich sie hingelegt hatte.

Aber herrlich hat er gespielt, der Milchmann, und überhaupt war es eine Glanzleistung. Morgen gehen wir gleich noch einmal hin, die Plätze sind reserviert, bloss nicht mehr links oben.

25. Juni 2006

Diesmal hat es Fernanda in vollen Zügen genossen! Sie war ausgeruht, um 10 Uhr kam Marlies und zu dritt ging’s nochmals nach ‹Anatevka›. Wieder ein randvoller Theatersaal, bis hinauf in den 3. Rang! Fernanda ging immer gern ins Theater und sie hat Rafaël zweifellos erkannt und wohl auch Philomena als zweite Tochter des Milchmanns. Sie strahlte jedenfalls bei jedem ihrer Auftritte. Ein guter, ein reicher Tag!

26. Juni 2006

Zu deinem Geburtstag gingen wir einen Blumenstrauss pflücken, fanden Karthäusernelken, Johanniskraut, Glocken- und Flockenblumen, Berufkraut und natürlich viele Gräser. Welche Fülle!

29. Juni 2006

Heute erhielt ich einen Strauss. Als ich im Haus Serena auf Fernanda zuging und sie begrüssen wollte, rief sie mir in fehlerfreiem Italienisch zu: «Non ti voglio più!» Ich blieb konsterniert stehen und fragte: «Non mi vuoi più?» Da lachte sie, kam auf mich zu und sagte: «Si, si!»47 und wir umarmten uns.

1. Juli 2006

Wie so ganz anders war’s heute! Monika brachte Fernanda hierher, mir schien gleich, sie würde am liebsten im Auto sitzen bleiben. Aber schliesslich stieg sie folgsam aus, ass mit mir zu Mittag und kam mit mir ins Bill-Haus zum Märchenerzählen. Während Barbara Isler erzählte, sah ich, dass Nanda trauriger und trauriger wurde. Wieder einmal musste sie spüren (und hatte es vielleicht vorausgespürt), dass sie in meinem Bekanntenkreis eigentlich nicht mehr am Platze war, da sie nicht mehr verstand, was erzählt und gesprochen wurde. Sie war zwar freundlich aufgenommen – und doch ausgeschlossen … Ich ging mit ihr auf die Toilette, und richtig, da heulte sie in abgrundtiefer Trauer los. – Es gelang mir, sie einigermassen zu trösten, wir gingen zur Gruppe zurück. Ich erzählte auf Deutsch und las anschliessend auf Italienisch ein Märchen, das sie schon kannte. Sie blieb still dabei, aber ich glaube, das war unser letzter gemeinsamer Märchennachmittag.

2. Juli 2006

Fernanda allein kann ich gut ein Märchen vorlesen, da ist sie ganz anders dabei als in der Gruppe. Auch mit Musik erreiche ich sie immer wieder. Und lange sassen wir draussen auf dem Balkon und staunten in den Abendhimmel hinaus, der von den Mauerseglern durchschwirrt und durchtönt war.

4. Juli 2006

Heute warst du verstimmt, doch dann liessest du dich in die Küche locken, und als ich die Omeletten durch die Luft fliegen liess, lachtest du wieder, besonders, wenn eine daneben klatschte.

Beim Zahnarzt in Thun warst du tapfer. Er konnte den Zahnstein entfernen und feststellen, dass keine Löcher da sind. Röntgen ging nicht: Du begriffst nicht, wieso du den Mund plötzlich schliessen solltest, nachdem du ihn vorher immer hattest aufsperren müssen.

Nun wird es wohl zwei Wochen dauern, bis ich dich wiedersehe, denn der Pflanzenkurs im Avers ist fällig. Bleib dicht an meiner Seite!

16. Juli 2006

Fernanda erkannte mich nicht gleich und fragte: «Chi è?» – Wer ist das?, aber das dauerte kaum mehr als eine Minute, dann umarmte sie mich. Wir gingen noch gleichen­tags wieder an den Moossee. Dort trafen wir den Gründer der Stiftung Haus Serena, Herrn Eicher, in Badehosen an. Fernanda erkannte ihn schneller als ich, ging auf ihn zu, rief «Ciao!» und küsste ihn auf beide Wangen. Das erstaunte mich, denn er kommt ja nicht sehr oft ins Haus Serena und schon gar nicht in der Badehose. Offenbar gefällt er ihr (mir übrigens auch).

18. Juli 2006

Wir bringen Fernandas Schuhe zum italienischen Schuhflicker am Unteren Quai. Die Absätze sind schiefgetreten. Bis er sie ersetzt hat, gehen wir zu einem anderen Italiener, nämlich zu Franco Frutta. So jedenfalls heisst der Reformladen an der Bahnhofstrasse. Franco und Fernanda verstehen sich und sie strahlt ihn entsprechend an. Wir kaufen ein: Bouillon, Mandeln, Ingwer, einen Schnitz Wassermelone … Um freie Hand zu haben beim Bezahlen, übergebe ich Fernanda die recht schwer gewordene Tasche. Franco sagt: «E bello aver un asinello per portare la roba!» Ich fixiere ihn und entgegne: «L’asinello sono io, guardi!»48 und wackle mit den Ohren, worin mich nicht leicht einer schlägt. Franco starrt mich an, entdeckt es und bricht in solches Gelächter aus, dass die im Laden verstreuten Kunden sich entsetzt umblicken. Dann holen wir beim Schuhflicker Fernandas Schuhe ab.

23. Juli 2006

Ein strahlender Tag, wir fahren auf die Insel, Fernanda bewältigt die Wanderung zum Pavillon und zurück bestens....

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