Immer mehr ? immer besser? - Über-, Unter- und Fehlversorgung im Schweizer Gesundheitswesen

Immer mehr ? immer besser? - Über-, Unter- und Fehlversorgung im Schweizer Gesundheitswesen

von: Oliver Kessler

Hogrefe AG, 2019

ISBN: 9783456758800

Sprache: Deutsch

248 Seiten, Download: 2488 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Immer mehr ? immer besser? - Über-, Unter- und Fehlversorgung im Schweizer Gesundheitswesen



I
Einführung


Über-, Unter- und Fehlversorgung. Immer mehr ist nicht immer besser!


Matthias Wächter, Oliver Kessler, Kathrin Jehle, Susanne Gedamke, Jonas Willisegger

Die Thematik der Über-, Unter- und Fehlversorgung ist untrennbar mit den gesetzlichen Rahmenbedingungen der Gesundheitsversorgung, den politisch-fachlichen Zielen, den zur Verfügung stehenden Ressourcen und der Rollengestaltung der wichtigsten Akteure verbunden. Darum wird in dieser Einführung zuerst eine Auslegeordnung der Governance und der staatlichen Steuerungsinstrumente vorgenommen und dabei erläutert, inwieweit die Auseinandersetzung mit dem Thema der Über-, Unter- und Fehlversorgung sowohl die Fachleute als auch die Bevölkerung zur Auseinandersetzung mit zentralen Fragen der Ausrichtung und Ziele der Gesundheitsversorgung führt. Anschließend werden die Entwicklung der gesetzlichen Rahmenordnung in der Schweiz und die Besonderheiten des heutigen Modells des regulierten Wettbewerbs beschrieben. Nach einem kurzen Überblick über den Entwicklungsstand und ausgewählte Herausforderungen des schweizerischen Gesundheitssystems gehen wir auf die Referenz der bedarfsgerechten und wirtschaftlichen Versorgung als Grundlage der Definition von Über-, Unter- und Fehlversorgung ein. Angesichts der Bedeutung der Frage, mit welchen Maßnahmen auf welchen Ebenen der Über-, Unter- und Fehlversorgung wirkungsvoll begegnet werden kann, werden zuletzt die Steuerungslogik und die Handlungsspielräume im schweizerischen Modell des regulierten Wettbewerbs dargestellt.

Die Schweiz kennt auf nationaler Ebene kein eigenständiges Gesundheitsgesetz, welches die Ziele und Ausrichtung der Gesundheitsversorgung umfassend definiert. Das zentrale Steuerungsinstrument ist das Krankenversicherungsgesetz (KVG), welches Ziele wie Wirksamkeit, Zweckmäßigkeit, Wirtschaftlichkeit (WZW) oder Kosteneffizienz und Qualität der Leistungserbringung indirekt über die Ausgestaltung der Steuerungsmechanismen und Anforderungen auf der Ebene der Rahmenordnung umschreibt. Es bleibt den Kantonen und Gemeinden sowie den Verhandlungspartnern (Leistungserbringer und Krankenversicherer) überlassen, ergänzende inhaltliche und qualitative Ziele in kantonalen oder kommunalen Gesetzen, Verordnungen, Vereinbarungen und Leistungsaufträgen oder Tarif- und Leistungsverträgen auszuformulieren. Das schweizerische Gesundheitssystem ist föderalistisch geprägt und zugleich stark in Leistungsbereiche fragmentiert. Auf übergeordneter nationaler Ebene finden spezifischere Ziele ihren Niederschlag vor allem in Strategien (z.B. der nationalen Strategie Gesundheit 2020), strategischen Mehrjahresprogrammen (z.B. zu den Themen Palliative Care, Demenz, Gesundheit und Migration, koordinierte Versorgung chronischer Erkrankungen, Prävention von nicht übertragbaren Krankheiten), der Ausschreibung von Forschungs- und Evaluationsprogrammen bzw. -projekten (z.B. die nationalen Forschungsprogramme „Lebensende“ (NFP 67) und „Gesundheitsversorgung“ (NFP 74)) oder der Unterstützung nationaler Institutionen (z.B. Stiftung Gesundheitsförderung Schweiz, Nationaler Verein für Qualitätsentwicklung in Spitälern und Kliniken ANQ oder Stiftung für Patientensicherheit).

Die Frage, welche Gesundheitsversorgung „wir“ als Patientinnen und Patienten, Versicherte und Finanzierende (über Prämien und Steuergelder), Stimmbürgerinnen und -bürger wollen, wird oft nur sehr indirekt oder durch Instrumente der direkten Demokratie wie Volksinitiativen und Referenden auf einer abstrakteren Steuerungsebene verhandelt. Die politische und öffentliche Debatte wird vom Thema der belastenden Kostenentwicklung und, damit korrespondierend, der Möglichkeiten der Kostendämpfung geprägt. Die eigentlich viel grundsätzlicheren Fragen der Bedarfsorientierung, Qualitätssicherung und Patientensicherheit werden seltener diskutiert. Der Weg zur Beurteilung der Auswirkungen von Reformen auf die Handlungsebene der Akteure – auf der sich letztlich entscheidet, ob die richtige Leistung zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort den Patientinnen und Patienten zur Verfügung steht – ist komplex und lang. Häufig wird die Frage der Umsetzbarkeit von Reformen verkürzt als Ausdruck von Interessenkonflikten zwischen verschiedenen Akteuren oder politischen Positionen im Gesundheitswesen dargestellt. In Befragungen der Bevölkerung steht einer anhaltenden Besorgnis über die steigenden Gesundheitsausgaben und Prämienbelastungen eine hohe Zufriedenheit mit einer weitgehend als hochstehend beurteilten Gesundheitsversorgung gegenüber (vgl. Gesundheitsmonitor, 2018). In diese Beurteilung mischt sich zwar oft eine anekdotische Evidenz für individuelle Begegnungen mit Über-, Unter- und Fehlversorgung. Doch Schwerpunkte, Ausmaß und Auswirkungen werden in ihren menschlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Dimensionen kaum abgebildet. Auch wenn diese Erzählungen, „dass etwas nicht gut gelaufen ist“, immer öfter durch Daten und wissenschaftliche Studien belegt werden, ist fundiertes Wissen über Bedarfsorientierung, Qualität, Patientensicherheit und unnötige Mehrkosten des Schweizer Gesundheitswesens dünn gesät.

Die wissenschaftliche und praxisorientierte Auseinandersetzung mit der Messung von Über-, Unter- und Fehlversorgung und mit ihren Ursachen und Einflussfaktoren bietet einen ergänzenden und erweiterten Zugang zu notwendigen Reformen der Rahmenordnung und entsprechenden Veränderungen der alltäglichen medizinischen Praxis. Diese Auseinandersetzung sensibilisiert erstens alle Beteiligten für Schwerpunkte und Ausmaß der Über-, Unter- und Fehlversorgung und damit für Prioritäten und konkrete Lösungsansätze. Zweitens stellt sie die Beziehung zwischen Arzt/Ärztin (oder Therapeut/Therapeutin oder Pflegende/r) und Patient/in sowie die Prozesse der Entscheidungsfindung ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Diese Kommunikationsprozesse samt ihrer institutionellen Einbettung sind die zentrale alltägliche Handlungsebene, auf der sich Bedarfsorientierung und Angemessenheit einer Leistung und damit auch das Verhältnis zwischen Kosten und Nutzen letztlich entscheiden. Indem diese Handlungsebene und die Referenz einer bedarfsgerechten Versorgung in den Fokus treten, werden Herausforderungen, Interessenskonflikte, Einflussfaktoren und Lösungsansätze klarer sichtbar.

Reformen der Rahmenordnung leisten einen wichtigen Beitrag, die Bereitstellung und Verteilung der finanziellen, personellen, fachlichen und zeitlichen Ressourcen für eine bedarfsgerechte Gesundheitsversorgung und Prävention zu verbessern. Aber sie reichen nicht aus, um entsprechende Strukturen, Regelungen und Prozesse in der Umsetzung sicherzustellen. Hierzu sind Verhaltensänderungen auf der individuellen Ebene, neue Kompetenzen, zusätzliches Wissen und zum Teil auch neue Koalitionen und Zusammenarbeitsformen unter den Gesundheitsakteuren notwendig.

Die Entwicklung der gesetzlichen Rahmenordnung in der Schweiz

In der Schweiz wurde die Gesundheitsversorgung im Jahr 1996 mit dem Krankenversicherungsgesetz (KVG) auf ein grundlegend neues Fundament gestellt. Drei Ziele standen im Zentrum der umfassenden Reform:

  • Der gesamten Bevölkerung soll Zugang zu einer qualitativ hochstehenden Gesundheitsversorgung gewährleistet werden (Versorgungsziel).
  • Personen in bescheidenen wirtschaftlichen Verhältnissen sollen bei der Prämienzahlung finanziell entlastet werden (Solidaritätsziel).
  • Die Entwicklung der Gesundheits- bzw. Krankenversicherungskosten soll eingedämmt werden (Kostendämpfungsziel).

Wesentliche Neuerung bildete die Einführung eines abschließenden Grundleistungskatalogs, der mit einigen wenigen Ausnahmen, wie beispielsweise der Zahnmedizin, alle wesentlichen kurativen und rehabilitativen medizinischen und pflegerischen Leistungen umfasst. Die obligatorische Grundversicherung ist finanziert durch ein Kopfprämiensystem, welches durch ein einkommens- und vermögensbezogenes Prämienverbilligungssystem abgefedert wird. Die Stärkung wettbewerblicher Elemente ist ein weiterer Grundpfeiler des KVG. Mit dem neuen Krankenversicherungsgesetz sollten die Ziele einer bedarfsgerechten und qualitativ angemessenen, allen Personen zugänglichen und zugleich wirtschaftlichen Versorgung auf der Systemebene verankert werden. Durch das Versicherungsobligatorium und den umfassenden Leistungskatalog der Grundversicherung kommt der privaten Zusatzversicherung in der Schweiz eine rein ergänzende Rolle zu. Grund- und Zusatzversicherung sind aufsichtsrechtlich und in Bezug auf Leistungsverträge und Tarifverhandlungen voneinander getrennt. Es gibt aber in der Schweiz keine zwei Klassen von Versicherten in der umfassenden Grundversicherung und -versorgung.

Verschiedene Evaluationen zeigten, dass die ersten beiden Ziele (Versorgungszugang und Solidarität) zu einem auch im Vergleich zu Gesundheitssystemen in anderen Ländern hohen Grad umgesetzt wurden. Dies gilt unter Berücksichtigung eines nach wie vor bestehenden Verbesserungspotenzials.1 Das Ziel der Kostendämpfung wurde hingegen klar nicht erreicht und prägte von Beginn an sehr stark die politische Debatte um die Weiterentwicklung des ordnungspolitischen Rahmens des KVG. Bereits 2001 entstanden Grundlagenpapiere zum Verhältnis von Rationalisierung zu Rationierung und zu den Grundlagen einer nachhaltigen Medizin.2 Die Schweiz hat im Vergleich aller OECD-Staaten sowohl in Bezug auf den Anteil Gesamtausgaben am BIP als auch in Bezug auf die Kosten pro Einwohnerin nach den USA die zweithöchsten Ausgaben. Durch das anhaltend starke Kostenwachstum,...

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