Wenn Menschen sterben wollen - Mehr Verständnis für einen selbstbestimmten Weg aus dem Leben

Wenn Menschen sterben wollen - Mehr Verständnis für einen selbstbestimmten Weg aus dem Leben

von: Josef Giger-Bütler

Klett-Cotta, 2018

ISBN: 9783608110210

Sprache: Deutsch

224 Seiten, Download: 2371 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Wenn Menschen sterben wollen - Mehr Verständnis für einen selbstbestimmten Weg aus dem Leben



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Der Suizid als Tabuthema


Wie der einzelne Mensch zum Suizid steht, ob es sich nun um einen einsamen oder begleiteten Suizid handelt, hat mit der persönlichen Einstellung dem Leben gegenüber und ganz wesentlich mit seinem Menschenbild zu tun. Betrachtet man den Menschen als mündiges Wesen, das über sein Leben selber bestimmen kann, dann geht man auch davon aus, dass er über das Ende seines Lebens, über den Zeitpunkt und die Form des Ablebens selber entscheiden kann. Dann kann auch nicht sein, dass ihm ein anderer oder eine Institution vorschreibt, wie er zu sterben hat, sei es nun im Namen der Liebe, der Gesellschaft, der Religion oder der Moral.

Kein mündiger Mensch akzeptiert es, wenn man ihm vorschreibt, wie er zu leben hat. Und genauso geht es ihm mit dem Sterben. Es ist sein Leben und das will er bis zum Ende leben; und genauso ist es auch sein Recht, über sein Leben und Sterben selbst bestimmen zu können. Überzeugende Argumente, mit denen man einen sterbewilligen Menschen von seinem Entschluss abhalten will, müssen für mich erst noch gefunden werden. Dies vor allem dann, wenn man ihm darlegen muss, dass für einen todkranken Menschen die Selbstbestimmung akzeptiert wird, nicht aber bei ihm, weil er zum Beispiel »nur« depressiv, »nur« alt oder zu müde ist, um weiterleben zu wollen. Mündigkeit und Selbstverantwortung sollen und müssen für alle Menschen gleichermaßen Gültigkeit haben. Man darf die Menschen nicht unterschätzen und meinen, ihnen vorschreiben zu müssen, wie sie zu leben oder zu sterben haben.

Leben dürfen und leben müssen


Der Tod und noch mehr der Suizid sind heute Themen, die man gerne schnell übergeht und bei denen man so tut, als wenn es sie nicht gäbe. Mit dem Suizid ist fast eine Art Denkverbot verbunden, das man sich automatisch auferlegt. Es ist ohne Zweifel ein schwieriges Thema. Es ist auch deshalb schwierig, weil der Suizid ein endgültiger, definitiver Akt und meistens mit Gewalt verbunden ist. Niemand weiß, was nachher kommt.

Der Suizid wird noch heute von der Gesellschaft kaum und von der Kirche überhaupt nicht akzeptiert. Vonseiten der Psychiatrie wird er pathologisiert und entwertet und von Ärztegesellschaften, die es ihren Mitgliedern verbieten, aktiv beim Sterben eines Menschen mitzuhelfen, sanktioniert. Suizid gilt quasi als Mord, und Beihilfe zum Mord gehört eben nicht zu den Pflichten des Arztes. Sein Gebiet ist die Palliativmedizin und seine Aufgabe, beim Sterben und nicht zum Sterben zu helfen.

Das Thema Suizid ist gedanklich also höchst komplex und emotional belastet, zudem ist es gesellschaftlich und politisch mitdefiniert und religiös besetzt. Es geht um die letzten Dinge und um die Frage: »Was ist ein Mensch, wie weit geht seine Souveränität, wie groß ist seine Entscheidungsfreiheit? Maßt er sich etwas an, wenn er selber über seinen Tod bestimmen will? Ist ihm das Leben geschenkt und gehört es gar nicht ihm?«

Wer das Leben als heilig und unantastbar betrachtet, für den ist Suizid wie Mord, und die Entscheidungsgewalt über den Tod und das Leben liegt allein bei Gott. Selbst Hand anlegen ist ein Sicheinmischen in die Schöpfung und den Willen Gottes. Für Menschen, die so denken, steht Gott über allem, und das Leben unterliegt seinem Willen und seinen Entscheidungen. Das ist für sie selbstverständlich, weil sie davon ausgehen, dass Gott sie liebt und nur das Beste für sie will. Da gibt es keine Entschuldigung und keine Rechtfertigung für das überhebliche, anmaßende und Gott beleidigende Verhalten, wie es der Suizid für sie ist. Wer sein will wie Gott, sündigt. Viele Menschen denken so – eine Haltung, die ohne Wenn und Aber zu respektieren ist, auch wenn man sie selbst nicht teilt. Auch hier gilt, dass niemand die Wahrheit für sich gepachtet hat.

Wer den Suizid aus religiösen Motiven ablehnt, bezieht sich vor allem auf das fünfte der Zehn Gebote Gottes, die Moses auf dem Berg Sinai empfangen hat: »Du sollst nicht töten« (2. Moses 20,13). Auch die Aussage von Hiob (1,20 – 21), »Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen, der Name des Herrn sei gelobt«, wird häufig zitiert. Diese prägnanten Grundsätze bilden das Fundament der jüdischen und christlichen Ethik und Moral. In beiden Zitaten wird betont, dass Gott allein Herr über Leben und Sterben ist. Er ist es, der das Leben gibt und das Leben nimmt. Daran denkt auch der heilige Apostel Paulus, wenn er sagt: »Nicht euch selber gehört ihr.« (1. Kor 6,19) oder in Röm 14,8: »Unser Leib und unser Leben sind von Gott und für Gott. In seiner Hand liegt unser Leben und unser Sterben.«

Es gibt aber nicht wenige Gläubige, für die ein anderes Gottesbild in ihrem Leben maßgebend ist: Moses 34,6: »Gott ist barmherzig und gnädig, langsam zum Zorn und überströmend an liebender Güte« oder Psalm 51,17: »Ein gebrochenes und zerschlagenes Herz wirst du, o Gott, nicht verachten.« Dass Gott keinen Menschen verstößt, kommt auch bei Johannes (1. Johannes 5,13) zum Ausdruck: »Dies habe ich euch geschrieben, dass ihr wisst, dass ihr ewiges Leben habt, die ihr an den Namen des Sohnes Gottes glaubt.«

Ich bin überzeugt, dass Gott die Menschen liebt, dass diese Liebe den Menschen aber frei und für sich selbst verantwortlich macht. Ich glaube ebenso, dass Gott die Willensfreiheit als zum Menschen gehörig betrachtet und diese nicht als eine Anmaßung ihm gegenüber empfindet.

Was ist so falsch daran, wenn ein alter Mensch entscheidet, seinem Leben ein Ende zu bereiten, wenn er sieht, was er alles gelebt und erlebt hat und er einfach nicht mehr will? Ist nicht mehr zu wollen, ob es nun den depressiven oder alten Menschen betrifft, etwas Krankhaftes oder Bösartiges? Ist denn »Ich will nicht mehr« etwas Verwerfliches, das mit allen Mitteln bekämpft werden muss?

Was ist daran schlecht, wenn ein depressiver Mensch findet: »Ich mag nicht mehr, ich weiß auch nicht, weshalb ich mich jeden Tag aufraffen und von neuem abmühen muss.«? Wenn jemand über Monate oder gar Jahre immer wieder so denkt und doch jeden Tag weiterlebt, darf er dann nicht eines Tages sagen: »Das wär’s gewesen, ich will nicht mehr.«?

»Ich habe gelebt, mehr will ich nicht mehr, das, was ich gelebt habe, genügt«, das kann jemand ganz ruhig und nüchtern feststellen, oder auch voller Zorn und Verzweiflung. Aber es ändert nichts daran, dass er nicht mehr will. Und das gilt für die alten genauso wie für die depressiven Menschen. Wenn sie nicht mehr wollen, wollen sie nicht mehr. Das zu respektieren ist die Aufgabe des unmittelbaren und weiteren Umfeldes. Ist es denn ein Verbrechen oder etwas Unmoralisches, nicht mehr zu wollen? Ist nicht mehr wollen denn Ausdruck dafür, dass diese Menschen ihr Denk- und Urteilsvermögen verloren haben? Man kann und darf doch an diesen Punkt kommen, ohne dass man deswegen in seinen geistigen Fähigkeiten eingeschränkt sein muss. Depressive und Betagte, die freiwillig aus dem Leben scheiden wollen, haben Jahre des Hin und Her, des Wollens und Zweifelns hinter sich, bis sie sich zum letzten Weg aufmachen. Da gab es Phasen von Hoffnung, die sich abwechselten mit solchen der Verzweiflung, der Auflehnung, der Trauer und der Resignation. Damit haben sie viel Zeit zugebracht, oft Monate und Jahre, und kamen von dem Gedanken, freiwillig sterben zu wollen, einfach nicht los, auch wenn sie sich immer wieder versuchten einzureden, wie falsch eine solche Entscheidung sein würde. Sie hatten viel Zeit und Geduld mit sich. Irgendwann einmal aber ist diese aufgebraucht und dann gibt es kein Zurück mehr, weil für sie jetzt kein Vorwärts und keine Zukunft mehr existieren. Wie viele Male haben sie an den Suizid gedacht und ihn immer und immer wieder verworfen? Aber irgendwann einmal reicht auch die Kraft zum Verwerfen und Weitermachen nicht mehr aus, irgendwann einmal wollen sie nicht mehr.

Den Weg des Suizides zu gehen, ist alles andere als eine billige und leichtfertige Lösung. Es gibt im Leben eines Menschen keine Entscheidung, die schwieriger zu fällen, und keinen Weg, der mühsamer zu gehen ist. Ich betone das deshalb immer wieder, weil vom Suizid meist ganz anders gesprochen wird: »Weil er nicht mehr weiterwusste, hat er sich umgebracht, weil ihm alles zu viel wurde, nahm er sich halt das Leben.« Als wäre es die einfachste Sache der Welt! Menschen, die Suizid begehen, sind deshalb nicht leichtsinniger oder mutiger als andere. Auch sie müssen sich mit dem Sterben und...

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