Psychologie in der Gesundheitsförderung

Psychologie in der Gesundheitsförderung

von: Markus Antonius Wirtz, Carl Kohlmann, Christel Salewski

Hogrefe AG, 2018

ISBN: 9783456757704

Sprache: Deutsch

800 Seiten, Download: 8380 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

geeignet für: geeignet für alle DRM-fähigen eReader geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones Online-Lesen


 

eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Psychologie in der Gesundheitsförderung



I.1
Gesundheitsbezogenes Verhalten


Christel Salewski & Mareile Opwis

Gesundheitsbezogenes Verhalten ist der zentrale Gegenstand psychologischer Gesundheitsförderung und schließt alle Handlungen ein, durch die der eigene Gesundheitszustand direkt oder indirekt beeinflusst wird: zum Beispiel das Ausüben regelmäßiger körperlicher Bewegung zur Steigerung des Wohlbefindens, die Einhaltung der ärztlich verordneten Behandlungsvorschriften bei einer chronischen Erkrankung, die Gestaltung einer möglichst vielseitigen und nährstoffreichen Ernährung, aber auch der Aufbau funktionaler sozialer Beziehungen oder die Nutzung eines Regenschirms bei schlechtem Wetter.

Das gesundheitsbezogene Verhalten wird dabei von vielen Faktoren beeinflusst, wie den Einstellungen und Überzeugungen gegenüber der Gesundheit (Kap. I.2), der Gesundheitskompetenz (Kap. I.3) oder den Gesundheitszielen (Kap. I.4). Auch die eigene körperliche und psychische Verfassung, zum Beispiel das Vorliegen einer akuten oder chronischen Erkrankung, kann Einfluss darauf nehmen, ob und welches Verhalten gezeigt wird. Daneben haben weitere, weniger veränderbare Variablen wie zum Beispiel das Geschlecht (Kap. II.6) oder die Persönlichkeit (Kap. II.5) ebenso Auswirkungen auf das gesundheitsbezogene Verhalten. In verschiedenen theoretischen Modellen zur Vorhersage von Gesundheitsverhalten (Kap. III.1) wird jeweils eine spezifische Auswahl von Einflussfaktoren und deren Assoziation mit dem Gesundheitsverhalten als Wirkgefüge angenommen, um gesundheitsrelevantes Verhalten zu erklären und vorherzusagen. Damit werden in diesen Modellen Stellschrauben identifiziert, mittels derer ein bestimmtes gesundheitsbezogenes Verhalten durch theoriebasierte Interventionen hervorgerufen (z.B. mit dem Joggen zu beginnen), verändert (z.B. häufigere Dentalpflege) oder abgebaut werden kann (z.B. Tabakkonsum). Bereits diese kurz skizzierte Einordnung veranschaulicht, dass sich gesundheitsbezogenes Verhalten auf verschiedene Inhaltsbereiche bezieht sowie hinsichtlich seiner Konkretheit und Komplexität variiert. In diesem Kapitel werden folgende sehr grundsätzliche Fragen adressiert:

  • Welche Erkenntnisse zum Zusammenhang von bestimmten Verhaltensweisen mit Gesundheit und Krankheit liegen vor?
  • Welche Definitionen gesundheitsbezogenen Verhaltens wurden bisher vorgeschlagen?
  • Was sind zentrale Merkmale verschiedener gesundheitsbezogener Verhaltensweisen und wie lassen sich diese Merkmale systematisieren?
  • Welche gesundheitsbezogenen Verhaltensweisen werden häufig gemeinsam praktiziert?
  • Was sind gesundheitsbezogene Lebensstile?

I.1.1
Verhalten und seine gesundheitlichen Folgen


Die meisten der bisher angeführten Beispiele gesundheitsbezogenen Verhaltens sind Gegenstand aktueller (gesundheits-)psychologischer Forschung und Interventionsentwicklung. Nicht immer waren die Erkenntnisse über den Zusammenhang zwischen Verhalten und Gesundheit so umfassend, detailliert und allgemein bekannt wie heutzutage. So wurde etwa erst 1964 durch den vom US-amerikanischen Senat in Auftrag gegebenen Terry-Report der empirisch gesicherte Zusammenhang zwischen Tabakrauchen und einer deutlich erhöhten Sterblichkeit in die öffentliche Diskussion eingebracht (United States Public Health Service, 1964). In den Jahrzehnten davor war von der US-amerikanischen Tabakindustrie die Unschädlichkeit des Rauchens in offensiven Werbekampagnen propagiert worden, die ihre Aussagen mit Hinweisen auf die Beliebtheit bestimmter Marken bei Ärztinnen und Ärzten und die scheinbare wissenschaftliche Absicherung der gesundheitlichen Unbedenklichkeit von Tabak untermauerten (Gardner & Brandt, 2006; Abb. I.1.1).

Abbildung I.1.1: Zigarettenwerbung der US-amerikanischen Tabakindustrie vor 1960. (Links: Werbekampagne „More Doctors Smoke Camels“ aus dem Jahr 1952. Rechts: Werbekampagne „20.679 Physicians“ aus dem Jahr 1930). Aus Stanford Research Into the Impact of Advertising (SRITA). Verfügbar unter http://tobacco.stanford.edu

Dieses Beispiel zeigt sehr anschaulich, dass nicht nur die wissenschaftliche Datenlage, sondern auch die Interessen von Akteuren wie Regierungsorganisationen oder Industriekonzernen Einfluss auf gesellschaftliche Normen in Bezug auf ein spezifisches (gesundheitsrelevantes) Verhalten nehmen können (Anderson, 2010).

Mittlerweile ist die Annahme, dass Gesundheit nicht schicksalhaft oder genetisch vorbestimmt ist, sondern durch das Wechselspiel zwischen Prädisposition und individuellem Verhalten bedingt wird, vielfältig bestätigt worden. Dies geht mit einer intensiven Beschäftigung mit der hierbei veränderbaren Komponente, dem Verhalten, einher (Kaplan, 1990). Dabei wurde anfänglich das Augenmerk überwiegend auf Verhalten gelegt, das für die Betroffenen und die Gesellschaft deutlich spürbare materielle und nicht materielle Kosten (im Sinne von Gesundheitsbeeinträchtigungen, krankheitsbezogenen Behandlungskosten, Einbußen an Lebensqualität, Fehltagen etc.) nach sich ziehen kann. Ebenso wurde in den Blick genommen, welche positiven Konsequenzen das Unterlassen von potentiell gefährdendem Verhalten haben kann.

In einer frühen und oft zitierten Arbeit von Belloc und Breslow (1972) wurde mit den Daten der Alameda County Study, einer über mehrere Jahrzehnte durchgeführten Längsschnittstudie, der Zusammenhang zwischen einer Reihe von gesundheitsbezogenen Verhaltensweisen und dem Gesundheitszustand von Menschen in einer Gemeinde in Kalifornien überprüft. Hier stellten sich folgende sieben Verhaltensweisen (die „Alameda seven“) als relevant für einen guten Gesundheitszustand heraus: genügend Schlaf, Nichtrauchen, geringer Alkoholkonsum, regelmäßige körperliche Betätigung, regelmäßiges Frühstück, Verzicht auf Zwischenmahlzeiten und Normalgewicht. Jedes einzelne Verhalten zeigte Zusammenhänge mit einem über verschiedene Indikatoren hinweg gemittelten Gesundheitswert. Darüber hinaus waren die Effekte auch additiv: Personen, die alle sieben Verhaltensweisen praktizierten, hatten einen annähernd doppelt so guten Gesundheitswert im Vergleich zu Personen, die keines der Verhaltensweisen zeigten.

Eine neuere, ebenfalls längsschnittlich angelegte Studie mit mehr als 20.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern, die sich über einen Zeitraum von elf Jahren erstreckte, untersuchte den Zusammenhang zwischen kardiovaskulären Erkrankungen und Krebserkrankungen auf der einen Seite und Nichtrauchen, ausreichender Bewegung, moderatem Alkoholkonsum und gesunder Ernährung (fünfmal am Tag Verzehr von Obst oder Gemüse) auf der anderen Seite. Personen, die jede dieser vier gesundheitsförderlichen Verhaltensweisen ausführten, hatten im Vergleich zu Personen, die keine dieser Verhaltensweisen praktizierten, ein Viertel des Sterblichkeitsrisikos, was einem Unterschied von 14 Jahren bezogen auf die Lebenserwartung entsprach (Khaw et al., 2008). Die World Health Organization (WHO) veröffentlichte 2009 eine Studie über globale Risikofaktoren und deren Zusammenhänge mit Erkrankungshäufigkeiten und Sterblichkeit. Die Ergebnisse dieser Untersuchung zeigten unter anderem, dass weltweit acht Risikofaktoren, die unmittelbar verhaltensbezogen sind oder durch Verhalten verursacht werden, für 61% der tödlich verlaufenden kardiovaskulären Erkrankungen während des Studienzeitraums verantwortlich waren: Alkoholkonsum, Tabakrauchen, hoher Blutdruck, hoher Body-Mass-Index, hohe Cholesterinwerte, hoher Blutzucker, geringer Obst- und Gemüseverzehr und körperliche Inaktivität. Auch die häufigsten Todesursachen in Europa – Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebserkrankungen und Diabetes mellitus – werden maßgeblich durch Verhaltensweisen wie ungesunde Ernährung, mangelnde Bewegung oder den Konsum bestimmter Genussmittel beeinflusst (Organisation for Economic Co-operation and Development/European Union, 2016).

Die Resultate der genannten und weiterer Studien zeigen, dass es heute belastbare, da durch Empirie erhärtete, Hinweise dafür gibt, dass spezifische Verhaltensweisen – vor allem Rauchen, übermäßiger Alkoholkonsum, Fehlernährung und Bewegungsarmut – in einem deutlichen Zusammenhang mit Erkrankungen und potentiellen langfristigen Einschränkungen der Gesundheit stehen. Diese Verhaltensweisen sind daher als gesundheitsbezogenes Verhalten einzustufen, das aufgrund seiner negativen Konsequenzen individuell und gesamtgesellschaftlich bedeutsam ist.

I.1.2
Begriffsbestimmungen: Was genau ist eigentlich gesundheitsbezogenes Verhalten?


Die meisten Menschen – Laien wie Fachleute – werden darin übereinstimmen, dass Zähneputzen, das Anlegen von Sicherheitsgurten, regelmäßige Bewegung oder der häufige Konsum von Obst und Gemüse ebenfalls gesundheitsbezogen sind, und zwar in einem explizit gesundheitsförderlichen Sinn. Es lassen sich somit zwei wesentliche grundlegende Funktionen gesundheitsbezogenen Verhaltens unterscheiden: Gesundheitsschädigung (oder -gefährdung) und Gesundheitsförderung (oder -erhaltung). Gesundheitsschädigungen oder -gefährdungen können durch das Praktizieren von Risikoverhalten oder das Unterlassen von gesundheitsförderlichem Verhalten entstehen. Gesundheitsförderung oder -erhaltung wird durch das Ausüben von Verhalten ermöglicht, das gezielt zur Verbesserung der Gesundheit eingesetzt wird, oder aber durch das Unterlassen von gesundheitsschädigendem Verhalten.

Der Blick...

Kategorien

Service

Info/Kontakt