Treibgut - Nachdenken über die letzten Dinge

Treibgut - Nachdenken über die letzten Dinge

von: Peter Gross

Verlag Herder GmbH, 2017

ISBN: 9783451812163

Sprache: Deutsch

160 Seiten, Download: 6266 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Treibgut - Nachdenken über die letzten Dinge



Treibgut


Wie macht man eine Hafeneinfahrt sicher? Indem man sie von Treibgut befreit. Treibgut werden Gegenstände genannt, die im Meer und in Binnengewässern aufgrund ihrer Beschaffenheit weder sinken noch sich zersetzen, sondern selbst bei heftig bewegter See und noch nach langer Zeit an der Oberfläche oder knapp unter ihr verbleiben. Vieles an Treibgut ist kleinteiliges Geschwemmsel und unerheblich. Oder komisch. Wie die zehntausend Plastikenten, die nach Auskunft des Lexikons vor bald dreißig Jahren von einem Frachter im Atlantik über Bord gingen und seither vergnügt auf den Weltmeeren schwimmen.

Treibgüter wie Wrackreste können für die Schifffahrt allerdings eine erhebliche Gefahr darstellen und werden deshalb an Brücken und Hafeneinfahrten mit einem Rechen gestoppt, wenn möglich entfernt oder anderweitig unschädlich gemacht. Die meisten Ausfälle bei der Vendée Globe, der gerade stattfindenden achten Auflage der Nonstop-Regatta der Einhandsegler um die Welt, kommen durch Kollision mit ungesichertem Treibgut zustande.

Existiert Treibgut nicht auch in unserem Bewusstsein? Sitzt Treibgut nicht auch in uns? Verborgene Altlasten? Die im Bewusstseinsstrom treiben und eine zwar latente, aber gleichwohl erhebliche Gefahr für unsere Seele darstellen? Traumata, wie sie die Psychologie nennt. Also schmerzliche Erinnerungen an Personen, Episoden und Ereignisse, die sich einfach nicht beseitigen lassen? Gewiss gibt es auch freundliches und erfreuendes Treibgut. Wiederkehrende Gedanken an frohe Tage. An bewegte Nächte. An Erfolge und Feiern. An die große Liebe. Leidvolle Augenblicke und schmerzliche Ereignisse sind aber, jedenfalls bei mir, in der Überzahl und gefahrdrohend.

Einer Mitteilung der russischen Ärztekammer zufolge hat ein gewisser Wladimir Barkow dreiundvierzig Jahre seines Lebens mit einem unsichtbaren Bruder in seiner Brust gelebt, ohne dass er es wusste. Er klagte nur zeitlebens über Atemnot beim Laufen. Nach dem Tod Barkows fanden die Ärzte bei der Autopsie den verkümmerten, schuppenartig verhornten Körper eines Zwillings von Vladimir, der sich im vorgeburtlichen Stadium in seine Brust eingenistet hatte und sich von Körpersekreten ernährte. Der tote Körper, mehr als drei Kilogramm schwer, den der Verstorbene über vierzig Jahre lang in sich trug, lastete auf Barkows Herz und Lunge und erdrosselte schließlich, trotz des nur mehr vegetativen Zustandes, seinen Wirt. Mit der Tötung seines Wirtes tötete er sich selber.

Tragen wir nicht alle solche unliebsamen Gefährten in uns? Schatten, die unsichtbar mit uns wandern? Die uns plagen, ohne dass wir den Grund kennen? Die in uns wohnen und Atemnot hervorrufen? Und uns zur Verzweiflung treiben? Gar umbringen? Treibgut, das niemals verschwindet und das wir einfach nicht loswerden? Und ist nicht der Groll ein solcher Geselle? Der immer wieder aufkommt und sich nicht unter Kontrolle bringen lässt?

Gäste kommen und gehen. Fremde kommen und bleiben. Der Groll ist ein sich festsetzender Fremder. Vielerlei Worte lassen sich für ihn finden: Zorn, Hass, Neid oder Bitternis sind begriffliche Versuche, dieses so selten benannte Gefühl einzufangen. Aber Groll ist weder Zorn noch Hass. Es handelt sich vielmehr um eine unwegsame, schlecht erschlossene und sorgfältig verdrängte Region des Daseins. Der biblische Zorn ist Gegenstand vieler Abhandlungen. Gott darf zornig sein. Ein mit Groll erfüllter Gott ist in Anbetracht seiner unendlichen Güte hingegen undenkbar, auch wenn seine Anhänger jene hassen dürfen, die ihn, ­ihren Herrn, hassen. So wenig sich Gott, der grandiose Unschuldige und Creator, schämt ob ­seiner Taten.

Ist von Groll die Rede, zieht sich Gott wohlweislich zurück, auch wenn der Mensch sein Geschöpf ist. Er kann zum Groll nichts sagen, denn er empfindet keinen Groll. Wie soll er auch, er ist allmächtig und allgütig. Er lässt die Menschlein in ihrem Groll allein. Aber er beobachtet sie. Er verfügt über eine riesenhafte Beobachtungsanlage. Gebietet über ein Heer von Spähern. Ein Panoptikum sondergleichen. Orwell kann zusammenpacken.

Eigentlich ist es etwas Schönes, wenn jemand zu einem schaut. Überhaupt schaut. Gott hat die Augen überall. Er führt Buch. Es lässt keine schlecht ausgeleuchteten Winkel zu. Gott betrachtet die Menschlein, wie er Abraham beobachtet hat, der auf sein Geheiß den einzigen Sohn Isaak töten sollte. Des Teufels Macht erwacht. The Devil in uns streckt seine Glieder und erhebt sich. Braun-schwärzlich die Hülle, die nun das Herz umfängt. Sterbenstraurig die Wege, die sich auftun, und schmählich die Gefühle, die sich in den Katakomben der Seele entfalten. Man schämt sich, diese ­offenzulegen. Der Gefühle gibt es viele. Einige verbergen sich im Dunkeln. Shakespeare, dessen vierhundertster Todestag wir gerade feiern, brachte, liest man, die tiefsten Regungen des Herzens auf die Bühne. Lodernder Hass. Strafender Zorn. Unendliche Liebe.

Gerade der Begriff Groll war ihm indes fremd. Das hat seinen einsehbaren Grund. Groll entzieht sich in einer gnädigen Weise einer Offenlegung. Während Trauer ermöglicht, sich gehen und die Tränen laufen zu lassen, und es ausgesuchte Anlässe wie Beerdigungen dafür gibt, will Groll verborgen bleiben. Denn es handelt sich um ein Kapitel, das neben Groll auch Rachegefühle, aufbrechenden Zorn, Wünsche nach Vergeltung und, nicht selten, Todeswünsche umfasst. Der Weg nach oben, gesäumt von Liebe und Trauer, der Weg nach unten, in die Katakomben des Gemüts, steinig und mit Verbitterung gepflastert. Ein Danaergeschenk, aber nicht in der Gestalt eines riesenhaften trojanischen Pferdes, sondern als gefahrdrohender, sich im Innenleben ausbreitender Infekt.

Soll man über diese Kehrseite des Schmerzes und der Trauer überhaupt sprechen? Wer seine Schlechtigkeit nach außen wendet, erringt keinen Ruhm, sondern Verachtung und Abscheu ob solcher Armseligkeit und gleichzeitiger Selbstbezichtigung. Eifersucht und Neid, diese Verwandten des Grolls, sind unsoziale Gefühle, sind peinlich und haben einen pathologischen Charakter. Sie gelten nämlich ausgerechnet jenen, die in Glück und Frieden leben, denen niemand weggestorben ist und denen es besser zu gehen scheint als einem selber. Das Wörtchen Groll ist übrigens zu schwach, um das Gemeinte zu beschreiben. Es handelt sich um Dunkles und Verheimlichtes. Seine Domestizierung ist weit fortgeschritten. Was einem in dieser Hinsicht widerfahren ist, wird unterdrückt.

Erfrischendes und Schönes findet sich nämlich wenig darunter. So gerne wir solches erinnern würden. Glück eignet sich schlecht als Treibgut. Glück ist ein Faserland, eingebettet in Sprüche. Glück entsteht im Unglück. Nähme das Glück kein Ende – es wäre kein Glück. Glück zerspringt wie eine Seifenblase. Glück ist sprunghaft. Glück ist flüchtig. Es fügt sich den Wünschen nicht. Kurz: Schönes verschwindet eher, während Bitteres bleibt. Darum enden so viele Menschenleben untröstlich. Darum wollen so viele Menschen vergessen. Darum ist Alzheimer für nicht wenige Menschen eine Therapie. Groll lässt sich auch nicht einfach negieren. Er ist die Auffangstation für böse Gedanken. Und hat noch einen anderen Sinn. Denn Groll treibt uns an. Das Abwesende ist wichtiger als das Anwesende. Die Suprematie des Verborgenen ist doch die Grundlage jeder Religion und jeder Psychotherapie. Wer glücklich und satt ist, bleibt im Glücksbad liegen.

In dieser Sichtweise erscheint die persönliche Geschichte wie auch die Weltgeschichte überhaupt als eine Geschichte des Grolls. Sie begleitet den Menschen und verfolgt ihn, wo immer er sich befindet. Lange Wanderungen liegen hinter uns. Kontinente haben sich geteilt, Meere sind entstanden. Die ersten Lebewesen erscheinen. Menschen wollen sich heimisch machen. Sie erleben den Mangel, grollen und versuchen mit endemischer Energie, die Kluft zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit zu schließen. Denn die Welt ist ein Tal der Tränen. Im krassen Unterschied zum häuslichen Fotoalbum oder den eigenhändig fertiggestellten digitalen Bildergalerien, in denen gemeinhin nur die Glücksmomente festgehalten sind. Und uns Seite für Seite fröhliche Menschen entgegenlachen, während die Dunkelkammern ihrer Existenz verborgen bleiben. »Hab Sonne im Herzen« – gerade trägt mir das Netz diese Mail zu. Die Sonne, wo lacht sie, pausbäckig wie auf Kinderzeichnungen? Wo erhellt sie die Dunkelkammer unserer Sorgen und Nöte, unserer Niedrigkeit?

Oder hat meine Erinnerung möglicherweise eine Schlagseite? Sind diese Einlassungen vielleicht Ausdruck einer ganz persönlichen Idiosynkrasie? Bin ich eine unzufriedene Natur? Ein Misanthrop? Egal, ich nehme die Arbeit auf. Ich will alles, was mir in diesem Tag durch den Kopf geht, aufschreiben und so vielleicht entsorgen. Aber es heißt aufgepasst! Manchmal wirft man etwas weg und vermisst es nachher schmerzlich. Denn schmerzliches seelisches Treibgut ist nicht nur eine Gefährdung des seelischen Haushalts. Sondern auch ein Treiber. Vielleicht ist die Welt insgesamt eine Anhäufung von Treibgut, das ein Weltenstrom angespült hat und das nun in Geschichtsbüchern, in Bildfolgen im Internet und in unseren Köpfen sein Dasein fristet?

Nach Köpfen gezählt nehmen die Speicher täglich um fast dreihunderttausend knöcherne Festplatten zu. Rechen für Treibholz. Ein kolossales, globales, weltumspannendes und täglich wachsendes Brockiland, ein riesiger Second-Hand-Laden. So könnte man die Situationsanalyse betiteln. Indem wir uns, Flüchtlinge auf schwankenden Schlauchbooten mitten im Meer, von Erlebniswellen und Gedankenschaumkronen fernzuhalten versuchen. Man wird winzig klein bei dieser Vorstellung. Sind wir, die Spezies Mensch, eventuell...

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