Sozial ungleich behandelt? - A.‘Sens und P. Bourdieus Theorien und die soziale Ungleichheit im Gesundheitswesen – am Fallbeispiel präventiver Rehabilitation

Sozial ungleich behandelt? - A.‘Sens und P. Bourdieus Theorien und die soziale Ungleichheit im Gesundheitswesen – am Fallbeispiel präventiver Rehabilitation

von: Johannes Behrens, Markus Zimmermann (Hrsg.)

Hogrefe AG, 2017

ISBN: 9783456747651

Sprache: Deutsch

276 Seiten, Download: 9681 KB

 
Format:  EPUB, PDF, auch als Online-Lesen

geeignet für: geeignet für alle DRM-fähigen eReader geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones Online-Lesen PC, MAC, Laptop


 

eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Sozial ungleich behandelt? - A.‘Sens und P. Bourdieus Theorien und die soziale Ungleichheit im Gesundheitswesen – am Fallbeispiel präventiver Rehabilitation



1 Die theoretische Frage und der empirische Fall


1.1. Die generelle Frage nach ungleicher Behandlung und die präventive Rehabilitation als spezieller Beispielfall


Ungleich behandelt? Ungleiche gesundheitliche Behandlung – also eine Behandlung, die sich statt nach notwendigen Behandlungsbedürfnissen im Gegenteil nach der Kaufkraft, der Herkunft oder dem Stand des Behandelten richtet – ist in allen bekannten Gesetzgebungen (nicht nur) moderner Gesellschaften tabuiert. Tabuiert heißt nicht, dass solche ungleiche Behandlung nicht vorkommt. Tabuiert heißt, es gibt kein nationales Gesetzbuch und keine Professionsethik, in der eine solche ungleiche Behandlungsweise gutgeheißen und nicht als Verletzung der Norm „Jedem nach seinen Bedürfnissen, jeder nach seinen Fähigkeiten“ gebrandmarkt würde. In die deutsche gesetzliche Krankenversicherung z.B. bezahlt jeder nach seinen Fähigkeiten ein, wird aber völlig unabhängig von der Höhe seiner Einzahlungen allein nach seinen Behandlungsbedürfnissen behandelt. Das behaupten die Ärztekammern auch für die Privatversicherten: Auch wenn die privat Krankenversicherten nicht nach ihren Fähigkeiten einzahlen und sich insofern der Solidarität zwischen gerade gesunden und gerade kranken Menschen entziehen, so würden sie doch um keinen Deut besser behandelt als die gesetzlich Krankenversicherten, behaupten die Ärztekammern. Allein der individuelle Behandlungsbedarf zähle, nicht die Kaufkraft. Die Vehemenz, mit der das beteuert wird, bestätigt die Stärke des Tabus einer kaufkraftabhängigen Behandlung. Bemerkenswert an diesem Tabu ist, dass es außerhalb des Gesundheitswesens keineswegs gilt: In Bereichen außerhalb des Gesundheitswesens wird diese Norm in der Regel gar nicht erst aufgestellt. Deshalb bildet das Gesundheitswesen in allen Gesellschaften einen zentralen Vergleichsmaßstab für alle Theorien sozialer Ungleichheit (vgl. Behrens, Weber, Schubert 2012).

Umso skandalöser war immer jede faktisch ungleiche Behandlung, und das Skandalisierbare steigerte sich im Laufe der Jahrhunderte noch: Denn gebot zuerst lediglich die vorstaatliche Professionsethik (z.B. in „hippokratischen Vorschriften“ der wandernden Ärzte von der Insel Kos, circa 400 Jahre v.u.Z.) die gleiche bedürfnisgerechte Behandlung, so versuchen seit 150, spätestens seit 70 Jahren die meisten modernen Staaten den Ärztinnen und Ärzten die Professionsnorm gleicher bedürfnisgerechter Behandlung durch Versicherungs- oder Steuerfinanzierung leichter realisierbar zu machen, um die gesundheitliche Versorgung unabhängig von der individuellen Kaufkraft zu garantieren. Im folgenden Buch soll am Beispiel der derzeit ressourcenreichsten präventiven Behandlungsmaßnahme, also der Rehabilitation, untersucht werden, ob die Finanzierungsgarantie gleiche Behandlung gesichert hat – und falls nicht, woran das liegen kann. Besonders fruchtbar sind hier zwei sehr unterschiedliche, empirisch gehaltvolle Konzepte sozialer Ungleichheit, die Entwicklungsforschung des indisch-amerikanischen Wirtschaftsnobelpreisträgers A. Sen und die Bildungs- und Habitusforschung von Pierre Bourdieu, Académie Francaise. In beide Theorien wird eingeführt – und beide werden in ihren Grenzen diskutiert.

Als Beispielfall, an der sich die Frage nach der sozialen Ungleichheit im Gesundheitswesen erörtern lässt, ist der Zugang zu Reha-Maßnahmen, die präventiv einer Frühberentung aus gesundheitlichen Gründen vorbeugen sollen, besonders geeignet. Selbstverständlich ist dieser Beispielfall keineswegs der einzige, an dem die theoretischen Ansätze von Sen und Bourdieu zu erörtern wären. Im Gegenteil bewähren sich theoretische Ansätze erst, wenn sie an vielen Phänomenen sozialer Ungleichheit im Gesundheitswesen geprüft wurden. Das Problem des Zugangs zu einer Rehabilitation betrifft allerdings im Laufe ihres Lebens sehr viele Menschen. Eine Frühberentung aus gesundheitlichen Gründen ist auch zweifellos ein tiefer Einschnitt in die Biographie. Reha gehört auch zu den wenigen Maßnahmen im Gesundheitswesen, die ein klar definiertes und leicht feststellbares präventives Ziel haben („Reha vor Rente“). Aus all diesen Gründen ist der von uns gewählte Beispielfall von nicht geringer Relevanz. Hinzu kommt, dass wir uns bei diesem Beispielfall auf eigene frühere, für die gesamte erwerbstätige sozialversicherte Bevölkerung Deutschlands oder seiner Teile repräsentative, prospektive Verlaufsstudien stützen können. Das sind Gründe genug für die Wahl dieses Beispielfalls. Das zu erklärende Phänomen wäre auch dann für die Erörterung theoretischer Ansätze von Relevanz, wenn sich das Problem des Zugangs zur Rehabilitation inzwischen völlig in Wohlgefallen aufgelöst hätte. Es besteht aber noch heute, im Jahre 2015, und möglicherweise auch noch bei Erscheinen dieses Buches.

1.2. Aufbau und Gliederung dieses Buches


In den Kapiteln 2 bis 6 dieses Buches werden die Verlaufsstudien zum Beispielfall vorgestellt, an denen dann in den Kapiteln 7 und 8 die generalisierenden theoretischen Ansätze zur sozialen Ungleichheit geprüft und erörtert werden.

In den Kapiteln 2 bis 6 wird also folgendes Problem in Verlaufsstudien analysiert: „Reha vor Rente!“ Das ist ein zentraler Grundsatz der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung. Rehabilitation soll Gesundheitsverschlechterungen, Verschlechterungen der Erwerbsfähigkeit rechtzeitig vorbeugen, bevor sie eine für den Erkrankten leidvolle und für die Versichertengemeinschaft kostspielige Frühberentung erzwingen. Insbesondere durch den demographischen Wandel zu einer älter werdenden Bevölkerung und durch den Wandel des damit zusammenhängenden Krankheitspanoramas zu einem höheren Anteil chronischer Krankheiten (genauer vgl. Behrens et al. 1999, 2002) wird in den letzten 10 Jahren der Grundsatz der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung „Reha vor Rente!“ zu einem zentralen Thema der deutschen Gesellschaft und ihrer veröffentlichten Meinung.

Vor dem Hintergrund dieses zentralen Grundsatzes „Reha vor Rente“ überraschte eine Entwicklung und gab zur Sorge Anlass: Etwa die Hälfte der vorzeitig Berenteten hat in den fünf Jahren vor der Frühberentung keine medizinische Rehabilitation der Rentenversicherung genutzt, ihre Reha-Anamnese ist also „negativ“. Keineswegs alle, aber eine Reihe dieser Frühberenteten ohne Reha hätte eine rechtzeitige Reha wohl nützen können – sie hätten zum Erhalt ihrer Erwerbsfähigkeit eventuell einer medizinischen Rehabilitation bedurft.

Wer sind diese Frühberenteten ohne medizinische Rehabilitation in den 5 Jahren vor dem Rentenzugang? Lassen sich prospektiv Faktoren in den Gesundheits- und Erwerbsverläufen erkennen, die überzufällig häufig in eine Frührente ohne medizinischen Rehabilitationsversuch führen?

Hierzu gab es zu Beginn unserer Verlaufsstudien eine Fülle von Vermutungen und Hypothesen aus Voruntersuchungen, die von Diagnosen über soziale Kontexte bis zu Meinungen und Motiven der Versicherten reichten. Diese Vermutungen und Hypothesen ließen sich zu 15 Hypothesengruppen zusammenfassen und an einzigartigen prospektiven Verlaufsdatensätzen der deutschen Rentenversicherung in Verbindung mit Befragungen von Versichertenstichproben prüfen und diskutieren. Viele dieser Hypothesen konnten falsifiziert oder präzisiert werden (vgl. Abschnitt 6). Sie bieten Ansätze zu konkreten Maßnahmen (vgl. Abschnitt 7).

Ziel des Projektes war es also, Faktoren und Faktorenbündel zu identifizieren, die sich negativ auf die Reha-Anamnese frühberenteter Männer und Frauen auswirken können.

Dazu wurden

  1. in einer prospektiven Untersuchung mit zurückverlegtem Beginn auf der Grundlage von Routinedaten der Landesversicherungsanstalt Sachsen-Anhalt (LVA) und – vergleichend – der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA)1 und der bundesweiten „Reha-Verlaufsstatistik“ Erwerbsverläufe in den letzten Jahren vor der Berentung anhand verschiedener Merkmale beschrieben und Gruppenvergleiche zwischen Frühberenteten ohne medizinische Rehabilitation und Früh- und Altersberenteten mit Rehabilitation durchgeführt,
  2. Frühberentete ohne Rehabilitation der LVA Sachsen-Anhalt und – vergleichend – Früh- und Altersberentete mit Rehabilitation retrospektiv nach den Meinungen, Wahrnehmungen, Motiven und Gründen befragt, unter denen es bei ihnen zu keiner Rehabilitationsmaßnahme kam bzw. unter denen sie daran teilgenommen haben,
  3. die ermittelten Gründe, Meinungen, Wahrnehmungen und Motive zu Merkmalen der Versicherten und ihrer Erwerbsverläufe in Beziehung gesetzt. Auf der Grundlage der Ergebnisse wurden Empfehlungen zur Verbesserung des Zugangs zur medizinischen Rehabilitation erarbeitet.

Die Befragung war – im Unterschied zur prospektiven Analyse der Verläufe in Routinedaten – deswegen nur retrospektiv möglich, weil die Frühberentung bereits eingetreten sein musste, um die Frühberenteten ohne Rehabilitation überhaupt erkennen zu können. Verzerrungsprobleme einer Retrospektiv-Befragung waren in Kauf zu nehmen, weil die Verzerrungen einer prospektiven Befragung, wenn sie nicht bis zum Eintritt der Rente fortgeführt werden konnte, noch größer waren. Außerdem konnten prospektive Verläufe in Routinedaten und retrospektive Wahrnehmungen und Bewertungen gut verglichen werden, weil auch von denselben Personen sowohl prospektive Verläufe in Routinedaten als auch Rückblicke in Befragungsdaten vorliegen.

In diesem Projekt sollten die Verläufe der BfA-Versicherten, also der Angestellten, nur als Vergleichsgruppe für die Versicherten der LVA Sachsen-Anhalt herangezogen werden.

Die Ergebnisse dieser vergleichenden, für die...

Kategorien

Service

Info/Kontakt