Generationenungerechtigkeit überwinden - Revisionsvorschläge für einen veralteten Vertrag

Generationenungerechtigkeit überwinden - Revisionsvorschläge für einen veralteten Vertrag

von: Jérôme Cosandey, Avenir Suisse

NZZ Libro, 2014

ISBN: 9783038239390

Sprache: Deutsch

230 Seiten, Download: 5552 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Generationenungerechtigkeit überwinden - Revisionsvorschläge für einen veralteten Vertrag



02
Kinder und Jugendliche: Emotional und finanziell abhängig


A new generation is born

Heute: Hohe Investitionen in die Jugend

Enormes Engagement der Eltern

Kaum messbares Glücksgefühl für die Eltern

Hohe Bildungsinvestitionen, hohe Renditen

Vererbung des Bildungsniveaus

Nutzen für den Einzelnen und die Gesellschaft

Morgen: Mehr Last auf jüngeren Schultern

Zunehmende Bildungskosten

Steigende Opportunitätskosten der Landesverteidigung für Jugendliche

Fazit

A new generation is born


Es lief zuerst nicht gut. Die Geburt war seit Stunden ins Stocken geraten. Mit bestimmter, aber ruhiger Stimme teilte uns der Frauenarzt mit, dass ein Kaiserschnitt notwendig sei. Dreissig Minuten später war unser erstes Kind, Louis, auf der Welt. Ich durfte seine Nabelschnur durchschneiden und ihn in meinen Armen halten. Die nächste, unsere nächste Generation war geboren.

In der Schweiz werden täglich 225 Kinder geboren. Jede Geburt verläuft anders, jede ist für die Eltern ein einmaliges, unvergessliches Ereignis. Es gibt kaum ein stärkeres Symbol für die Bedeutung des Generationenvertrags als die Geburt eines Kindes. Mit dieser Geburt verlängert sich automatisch der Zeithorizont der Eltern: die meisten nehmen nicht mehr einzig ihre eigene Lebenserwartung als Basis für persönliche und politische Entscheide, sondern berücksichtigen auch die Konsequenzen für ihren Nachwuchs.

«Kinder sind unsere Zukunft»: Mit diesem positiv geprägten Bild stellen Erwachsene den Fortbestand der Menschheit gerne dar und untermauern damit die Bedeutung des Generationenvertrags. Mit diesem einfachen Satz wird auch klar, dass Investitionen finanzieller und nicht-finanzieller Natur für die Jugend nicht nur rein altruistische Taten bilden, sondern auch den Wohlstand der Älteren mitbestimmen sollen – man spricht von «unserer», nicht von «ihrer» Zukunft.

Diese Investitionen fliessen allerdings nicht nur in eine Richtung. Mit der Geburt eines Kindes beginnt eine wechselseitige Beziehung mit den Eltern, ein Geben und Nehmen, das bis zum Lebensende dauert. Während der Kindheit und Jugend profitieren Kinder von einem hohen zeitlichen, emotionalen und finanziellen Engagement ihrer Familie und der Gesellschaft. Diese (gross-)elterliche «Vorleistung» zugunsten der Kinder erfolgt nicht nur in der Erwartung von Pflege und Zuneigung im hohen Alter. Schon während ihrer Jugendjahre lösen Kinder viele Glücksgefühle bei ihren Eltern aus und geben deren Leben einen weiteren Sinn.

Heute: Hohe Investitionen in die Jugend


Enormes Engagement der Eltern


«Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm», «Ganz die Mutter!», «Kinder halten uns den Spiegel vor». Unsere Alltagssprache ist voller Ausdrücke und Metaphern, die den elterlichen Einfluss auf die Kinder hervorheben. Kleinkinder sprechen ihren Eltern nach und machen sie nach. Mit penibler Konsistenz wenden sie indoktrinierte Verhaltensregeln (wenn auch leider nicht alle) an und verlangen sie, häufig besserwisserisch, von ihrem Umfeld ab. Nebst Sprache und Attitüde übernehmen sie von ihren Eltern viele Charakterzüge und loten bei ihnen immer wieder Grenzen aus. Insistieren oder nachgeben, argumentieren, verhandeln, teilen oder für sich behalten, lachen oder Empathie zeigen: die Liste der sozialen Kompetenzen, die Kinder in ihrem familiären Umfeld erlernen, kann beliebig verlängert werden. Diese Lernphase ist ein kontinuierlicher Prozess, der bis weit ins Erwachsenenalter fortschreitet. In einfachen Ritualen, am Esstisch, im Schlafzimmer, an religiösen und anderen Feiertagen werden Kindern Werte und Traditionen über die Generationen hinweg vermittelt. Gleiche Lieder, gleiche Kindergeschichten, gleiche Menüs sind Transmissionsmechanismen kultureller Identität. Solche Rituale werden von Generation zu Generation weitergegeben, wobei oftmals eine hohe Kontinuität über drei Generationen feststellbar ist (Suter und Höpflinger 2008: 107). Sie tragen dazu bei, dass sich Kinder in ihrer Gesellschaft zurecht und in ihrer Kultur einen besseren Halt finden.

Diese Erziehungsarbeit erfordert eine besonders intensive, tägliche Betreuung durch das familiale Umfeld und durch Institutionen wie Krippen und Tagesschulen. Der Umfang dieser «Care-Arbeit» wird für die Schweiz auf 2,269 Milliarden Stunden pro Jahr geschätzt, 92% davon wird unbezahlt geleistet (Linder 2010). Diese immense Zahl wird anschaulicher, wenn man sie pro Elternteil und pro Woche betrachtet. So leisten Mütter 20,5 Stunden pro Woche für die direkte Betreuung von Kindern und Männer 13 Stunden pro Woche. Interessanterweise ist in dieser Lebensphase der durchschnittliche Aufwand für Erwerbs- und Pflegearbeit für beide Partner etwa gleich hoch und für Familien mit Kindern unter 6 Jahren mit 71–73 Stunden pro Person am grössten. Dennoch ist die qualitative Verteilung unter den Geschlechtern sehr unterschiedlich. Sehr viele Frauen reduzieren ihre Erwerbstätigkeit während dieser Phase oder geben sie sogar ganz auf, während die meisten Männer weiter vollzeitlich erwerbstätig bleiben.

Umgekehrt kann die Absenz dieser Zuwendung durch Familienmitglieder oder weitere wichtige Bezugspersonen (z.B. Tageseltern, Kinderhortpersonal) zu Orientierungslosigkeit führen. Die Identitätsentwicklung hängt stark von drei Qualitätsmerkmalen elterlichen Verhaltens ab: Verlässlichkeit, Dauerhaftigkeit und Reziprozität – im Sinne wechselseitiger Verbundenheit und Unterstützung (Grossmann 2000 in Suter und Höpflinger 2008: 95). Bis ins höhere Jugendalter ist ein stabiles, verlässliches Umfeld ein wichtiger Präventionsfaktor gegen Aggressivität, Sucht und soziale Ausgrenzung. Der Erziehungsstil im Sinne von Fördern und Fordern sowie von Anteilnahme statt Gleichgültigkeit spielt dabei eine wesentliche Rolle. Je nach Erziehungsstil kann die Häufigkeit eines erlebten Gefühls von Sinnlosigkeit oder von Selbstmordgedanken bei 20-Jährigen bis um den Faktor zwei variieren (Gutzwiller und Wydler 2005, in Suter und Höpflinger 2008: 106).

Das Engagement der Familie ist also für die Entwicklung der Jugendlichen massgeblich. Wie Krüsselberg (2009: 84) treffend formuliert: «Die Familie ist makroperspektivisch gesehen der Ort, in dem Kindern menschliches Handlungsvermögen grundlegend vermittelt und in dem dieses Handlungsvermögen ein Leben lang gepflegt, weiterentwickelt und somit bewahrt wird.»

Kaum messbares Glücksgefühl für die Eltern


Erziehungskosten können, zumindest in der Theorie, relativ genau identifiziert werden. Auf staatlicher Ebene sind es unter anderem die Ausgaben der Erziehungs- und Bildungssysteme im weiteren Sinne (Krippen, Schulen), die Pädiatrie (Kinderärzte, Kinderabteilungen in Spitälern) oder der Jugendsport.

Auf privater Ebene sind es Ausgaben für Nahrung, Kleider, Miete und Freizeit sowie die Opportunitätskosten der Elternteile, die für die Kindererziehung auf einen Teil ihres Einkommens verzichten. Je nach Schätzungen kann die Erziehung eines Kindes mehr als 400 000 Franken kosten (Gerfin et al. 2009). Auch wenn diese Zahl umstritten ist, gibt sie doch eine Grössenordnung an.

Viel schwieriger ist die Abschätzung des potenziellen Nutzens der Kinder für die Eltern. Wären Kinder reine Kostenfaktoren, wäre unsere Menschheit längst ausgestorben. Auch wenn eine wachsende Minderheit der Schweizer, Kinderlosigkeit als (attraktive) Lebensoption betrachtet, wird eine Familie mit zwei Kindern nach wie vor zu 85% als «günstig oder sehr günstig» beurteilt (Höpflinger und Perrig-Chiello 2008a: 162). Diese Zustimmungsrate ist über die letzten Jahrzehnte relativ konstant geblieben. Nicht nur Kinderwünsche, sondern auch selbstdeklarierende Glücksaussagen scheinen den Nutzen von Kindern zu bestätigen. Auf die Frage, was Kinder ihnen bedeuten, geben Eltern im Schnitt eher positive als negative Antworten. Die Liste positiver Aspekte ist dabei deutlich länger und umfasst 15 positive gegen nur 7 negative Eigenschaften (Hausmann 2006, in Schneewind 2011). Allerdings hängen diese Einschätzungen von der Lebensphase der Kinder und damit der Eltern ab. Das Bonmot, «die Pubertät ist das Alter, in dem die Eltern schwierig werden», illustriert, dass die Qualität der Kinder-Eltern-Beziehungen von der Situation, vom Alter und von der Perspektive der Beteiligten abhängt.

Diesen Nutzen monetär zu bewerten, ist naturgemäss schwierig. Allerdings dürfte dieser Wert sehr hoch liegen, wie folgendes Gedankenexperiment zeigen soll. Angenommen, ein zehnjähriges Kind wird entführt, wie viel soll das Lösegeld betragen? Die meisten Eltern wären bereit, ihr ganzes Vermögen auszugeben, ja sich sogar zu verschulden, um ihr Kind wieder zu befreien. Dieses zugegebenermassen extreme Beispiel zeigt, dass ein schwer quantifizierbarer emotionaler Nutzen sehr wohl bedeutende ökonomische Äquivalenz geniesst. Weniger hypothetisch beweisen die bei Scheidungen zum Teil höchst bittereren Kämpfe um das Sorgerecht den sehr hohen Wert, den Kinder für ihre Eltern haben.

Hohe Bildungsinvestitionen, hohe Renditen


Neben der Erziehungsarbeit bilden die Investitionen in Bildung einen der wichtigsten Beiträge der älteren Altersgruppen zugunsten der Jugendlichen. Diese Investitionen erfolgen sowohl in Form von Zahlungen (z.B. für Schulmaterial) und aufgewendeter Zeit der Eltern (z.B. Hilfe bei Hausaufgaben), als auch in Form von öffentlichen Mitteln für Infrastruktur (z.B. Schulen) und...

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