Das soziale Kapital der Schweiz - Band 1 der Reihe 'Politik und Gesellschaft in der Schweiz

Das soziale Kapital der Schweiz - Band 1 der Reihe 'Politik und Gesellschaft in der Schweiz

von: Markus Freitag

NZZ Libro, 2014

ISBN: 9783038239994

Sprache: Deutsch

350 Seiten, Download: 27930 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

geeignet für: geeignet für alle DRM-fähigen eReader geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones Online-Lesen


 

eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Das soziale Kapital der Schweiz - Band 1 der Reihe 'Politik und Gesellschaft in der Schweiz



«Mir hei e Verein, ghörsch du da derzue?» Vereinsengagement als soziales Kapital der Schweiz

Markus Freitag und Kathrin Ackermann

1. Vereinseinbindung als Form sozialen Kapitals

Der Verein als Hort des sozialen Miteinanders ist ein zentraler Baustein der Sozialkapitaltheorie.[11] Die grundlegende Idee von Vereinen als integrierendes zivilgesellschaftliches Element findet sich aber bereits in der politischen Kulturforschung in den 1950er- und 1960er-Jahren, wo freiwillige Vereinigungen als «the most important foundations» stabiler Demokratien gelten und deren Fortbestand sichern (Almond und Verba, 1965: 220ff.).[12] Vereine tragen in dieser Perspektive als «Schulen der Demokratie» zur politischen Sozialisation bei, da sie in der Praxis die Verbindung von Mitgliedschafts- und Staatsbürgerrolle ermöglichen und bei ihren Mitgliedern die Grundregeln demokratischen Verhaltens einstudieren (von Erlach, 2005; Kunz und Gabriel, 2000). Diese Personen sind in politischen Fragen besser informiert, zeigen ein ausgeprägtes politisches Interesse und sind in der Regel auch politisch aktiver als die Nichtmitglieder (Freitag et al., 2009; Norris, 2002: 137).[13]

Es ist wohl das Verdienst von Robert Putnam (1993, 2000), darüber hinaus Vereinen und zivilgesellschaftlichen Strukturen allgemein im Zuge der Sozialkapitaldebatte einen ganz besonderen Wert zuzusprechen. Vereine und Freiwilligenorganisationen erbringen in dieser Sichtweise extern wie intern ausgerichtete systemintegrative Leistungen und dienen der Produktion und der Aufrechterhaltung des Sozialkapitals. Hinsichtlich der externen Wirkung richtet sich der Blick auf das gesamte politische System. Hier wird den Vereinen attestiert, die Qualität der Demokratie über deren Aggregations- und Artikulationsfähigkeit zu etablieren oder zu garantieren (Putnam, 1993; Traunmüller et al., 2012). Vereine stellen die Entwicklung und Aufrechterhaltung einer pluralisierten Ideenwelt sicher, indem sie vielfältigen Einzelinteressen und Minderheitenpositionen die Chance bieten, sich zu organisieren und Gehör zu verschaffen. Kurzum: Vereinsmässig gebündelte Ideen und Innovationen finden Eingang in den politischen Entscheidungsprozess und vitalisieren die Demokratie über Ansprüche und Unterstützung.

Den eigentlichen «Kern der Sozialkapitaltheorie» stellt aber die von Alexis de Tocqueville (1994 [1835]) inspirierte These dar, dass gemeinwohlorientierte Normen und Vertrauen vornehmlich in den vielfältigen Vereins- und Organisationsstrukturen einer vitalen Zivilgesellschaft wurzeln, dort regeneriert und aufrechterhalten werden (Freitag et al., 2009; Hooghe und Stolle, 2003; Lippl, 2007; Putnam, 1993, 2000). Als Vermittler von gemeinschaftlichen Werten und Normen sowie als Opportunitätsstruktur für positive Erfahrungen erfüllen zivilgesellschaftliche Vereinigungen dabei eine wichtige Sozialisationsfunktion (Claibourn und Martin, 2000; Hooghe und Stolle, 2003; Putnam, 2000). Vereine bieten als regelmässige und auf Dauer angelegte Beziehungen organisatorische Kontexte, in denen Bürger eine gemeinschaftsbezogene Kommunikations-, Kooperations- und Hilfsbereitschaft erlernen und diese zur Lösung kollektiver oder individueller Probleme einsetzen können (Putnam, 1993: 90). Mit anderen Worten: Mitglieder verinnerlichen innerhalb der Organisation deren grundlegende Verhaltensregeln und Vorstellungen über den Umgang mit anderen. Somit werden soziale Wertstrukturen sozialisiert und die Vereinsmitglieder übertragen diese positiven Einstellungen und Menschenbilder auf die Gesellschaft im Allgemeinen (Hooghe, 2003: 89). Auf diese Weise fördern Vereinigungen auch das Vertrauen unter ihren Mitgliedern einerseits über in der Organisation verankerte Werte und Normen, andererseits stellen Vereine eine Arena für regelmässige Treffen und Austauschbeziehungen dar. Dies und die Gewissheit, dass einheitliche gesellschaftliche Werte in der Gruppe bestehen und abweichende Handlungen negativ sanktioniert werden, schafft Sicherheit bezüglich der Vertrauenswürdigkeit anderer (Paxton, 2007: 50). Vereinsmitglieder haben daher die Möglichkeit, positive Erfahrungen im Umgang mit anderen zu sammeln und zu lernen, dass Kooperation sich auszahlt, was sich wiederum auf zukünftige Kooperationsentscheidungen auswirkt (Levi, 1998: 85). Die vereinsmässig Eingebundenen lernen dabei jedoch nicht nur, den Mitgliedern der eigenen Organisation zu vertrauen, sondern entwickeln gleichzeitig ein generalisiertes Vertrauen in andere Menschen. Vertrauen wird demnach anhand konkreter positiver Interaktionserfahrungen im Rahmen von Vereinsaktivitäten generiert und anschliessend auf die breitere Gesellschaft ausserhalb dieser Vereinigungen generalisiert (Caulkins, 2004: 164; Hardin, 1996: 27).

Zwar stellt die Mitgliedschaft in formellen Vereinigungen nur eine von vielen Formen des Sozialkapitals dar. Jedoch garantieren vor allem auf Dauer angelegte soziale Beziehungen die Entwicklung von Normen reziproken Verhaltens und damit die Fähigkeit zur Kooperation (Putnam, 1993, 2000). Im Gegensatz zu eher informellen sozialen Netzwerken (Freunde, Kollegen usw.) ist der Fortbestand sozialer Beziehungen in Vereinigungen durch institutionell vorhandene Sanktionsmöglichkeiten gegenüber opportunistischem Verhalten Einzelner besser abgesichert (Gabriel et al., 2002: 39). Daher lohnen sich Investitionen in das vereinsmässig eingebettete Sozialkapital mehr als bei informellen Beziehungen, deren Dauerhaftigkeit und die damit verbundenen sozialen Renditen weniger garantiert sind (Maloney et al., 2000).

2. Formen der Vereinseinbindung

Geht es um mögliche Formen des in Vereinen manifesten Sozialkapitals, können unterschiedliche Perspektiven eingenommen werden. Eine erste Sichtweise rückt das eigentliche Mitglied in den Mittelpunkt des Interesses und fokussiert auf den Grad der Einbindung, das heisst, ob es sich um eine aktive oder passive Vereinsmitgliedschaft handelt. Eine vertrauensfördernde und gemeinwohlorientierte Wirkung wird zumeist nur einer aktiven Partizipation und nicht der blossen Mitgliedschaft zugeschrieben, da nur bei Ersterer die entscheidende direkte Interaktion mit anderen Mitgliedern stattfindet. Allerdings finden sich auch starke Stimmen, die argumentieren, dass zur Internalisierung bestimmter gemeinwohlorientierter Normen und Verhaltensweisen allein die Unterscheidung zwischen Mitglied und Nichtmitglied von Bedeutung sei. Bereits die Mitgliedschaft in einem Verein ist demzufolge der Ausdruck eines gewissen Gemeinsinns; die Unterscheidung zwischen passiver und aktiver Vereinsmitgliedschaft für die Förderung sozialen Vertrauens und reziproker Handlungen bleibt unerheblich. Wie aktiv ein Mitglied letztlich ist, sei weniger relevant und oftmals Ausdruck individueller Selbstverwirklichung (van der Meer und van Ingen, 2009; Wollebæk und Selle, 2002). Verschiedene Arbeiten akzentuieren diese Haltung noch und argumentieren, dass statt der Tiefe vielmehr die Breite der sozialen Integration zähle, das heisst die Zahl der Vereinsmitgliedschaften für die Aneignung prosozialer Normen von ausschlaggebender Bedeutung sei und nicht die aktive Integration (Wollebæk und Selle, 2003a, 2003b).[14]

Eine alternative Sicht der Dinge rückt die Vereine selbst in den Vordergrund (Freitag et al., 2009). Vereine können beispielsweise nach ihren Tätigkeitsbereichen unterschieden werden, also ob es sich etwa um einen Sport- oder einen Kulturverein handelt. Ein weiteres Unterscheidungskriterium wird in der Zielsetzung eines Vereins gesehen. Ist diese stark an den Interessen der eigenen Mitglieder ausgerichtet, spricht man von innenorientierten Vereinen. Ein Beispiel wären Gewerkschaften und Interessenverbände im Allgemeinen. Sind die Ziele hingegen gesamtgesellschaftlicher Natur, wie es beispielsweise bei Umweltverbänden der Fall ist, ist von aussenorientierten Vereinen die Rede.[15]

Weiterhin können Vereine hinsichtlich ihrer sozialen Zusammensetzung differenziert werden (Hooghe und Stolle, 2003; Putnam, 1993, 2000; Zmerli, 2003). Vereinen mit einer eher heterogenen Mitgliederstruktur hinsichtlich soziodemografischer und sozioökonomischer Faktoren wird brückenbildendes Potenzial zugeschrieben, weil sie unterschiedliche Menschen zusammenbringen. Sportvereine, kulturelle Vereine oder Kirchen werden häufig als Paradebeispiele für brückenbildende Organisationen herangezogen (Freitag et al., 2009). Homogene Vereine sollen hingegen eher abgrenzend wirken. Im Gegensatz zu abgrenzenden Vereinigungen gelten in erster Linie brückenbildende Organisationen als Horte des Sozialkapitals. Freilich sind in der Praxis die meisten Assoziationen brückenbildend und abgrenzend zugleich (Putnam und Goss, 2001: 29).[16]

Eine weitere vereinsdifferenzierende Anschauung stellt das Merkmal der Verbundenheit oder Isolation von Organisationen in den Mittelpunkt des analytischen Interesses (Paxton, 2002, 2007). Im Gegensatz zur Unterscheidung von brückenbildenden und abgrenzenden Organisationen, die auf die Struktur innerhalb von einzelnen Vereinen abzielt, soll diese Perspektive die Struktur zwischen den Vereinen aufzeigen. Eine Organisation gilt dann als besonders verknüpft oder verbunden, wenn sie über ihre jeweiligen Mitglieder eine Vielzahl an Verbindungen oder Anknüpfungspunkten zu anderen Vereinen aufweisen kann. Verbundene Vereinigungen sollten die Ausbildung prosozialer Einstellungen stärker als isolierte Vereine fördern, da sie dazu beitragen, soziale Netzwerke über den engen Rahmen einer einzigen Organisation hinaus zu spannen (Paxton, 2007: 51). Diese durch einzelne Mitglieder hergestellte...

Kategorien

Service

Info/Kontakt