Halt auf Verlangen - Ein Fahrtenbuch

Halt auf Verlangen - Ein Fahrtenbuch

von: Urs Faes

Suhrkamp, 2017

ISBN: 9783518750896

Sprache: Deutsch

199 Seiten, Download: 1481 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Halt auf Verlangen - Ein Fahrtenbuch



Stadtfahrt: Kronenstraße

Kurz nach halb sieben schlüpfte er aus dem Haus, nahm nicht den üblichen Weg zur Tramstation, sondern den etwas längeren um den Häuserblock. Das erlaubte ihm, unbemerkt von den Nachbarn, gleichsam hintenherum, direkt die Tür des letzten Tramwagens anzupeilen und aufzuspringen, ohne mit jemandem reden zu müssen.

Der späte Septembertag war kühl, neblig feucht; er hatte schon Tage zuvor den Wintermantel vom Dachboden geholt. Den Mantelkragen hochgeschlagen, schritt er die abschüssige Straße hinan auf die Traminsel zu. Er hatte vor dem Weggehen noch eine Weile am Fenster gestanden, um auszuspähen, ob ja kein Bekannter zu entdecken war.

Im Halbdunkel vor der Traminsel blieb er stehen, musterte die Wartenden, folgte der im Wind schwankenden Lampe.

Bald sieben. Er würde in die Morgendämmerung hineinfahren. Er hörte das Tram, drehte den Kopf nach rechts und nach links, eilte über die Straße und zwängte sich in die Menge; Fahrgäste, die dicht an dicht standen, Morgengesichter auf dem Weg zur Arbeit. Meist fuhr er im Elfer nur bis Hauptbahnhof, eine Fahrt von wenigen Minuten, und nahm dann einen der Intercityzüge, die ihn in die Ferne trugen, nach Basel, Berlin oder Wien. An diesem Morgen war keine Fernreise vorgesehen; heute würde er sitzen bleiben und fast bis zur Endstation fahren auf den Hügel am Stadtrand, wo sich die Spezialkliniken angesiedelt hatten. Hirslanden, Balgrist, Rehalp. Siebzehn Stationen von Kronenstraße bis Balgrist, laut Fahrplan siebenundzwanzig Minuten Fahrt, Streckenblockierungen wegen hohen Verkehrsaufkommens oder Unfällen waren nicht auszuschließen, besonders im Morgenverkehr.

Bahnhofquai.

Das übliche Gewusel. Einige zwängten sich hinaus, andere drängten herein. Er eroberte einen Sitzplatz, versuchte zu lesen, es war unmöglich, die Zeitung auseinanderzufalten.

Er hörte die Lautsprecherdurchsage vom Bahnhof, sah die hohen Kräne, die sich über der Kuppel drehten. Tauben verharrten auf dem Geländer zum Fluss hin.

Langsam glitt das Tram in die Bahnhofstraße, eine Endlosbaustelle. Bäume wurden in Eisen gelegt, um Rammfahrer abzuhalten. Ein Rucksack streifte seine Wange. Die meisten mit dem Blick ins Tablet oder ins Tabloid der Gratiszeitung, streng, konzentriert.

Ein alter Vers fiel ihm ein, ein Kalenderblatt, das er aufgepinnt hatte: »Sind wir das? – Grau, transparent / und besinnungslos – Kreuzigung, / barock, im Halbschlaf – / Wir? Im Autobus, hochseefahrend / Titanic, vor sieben …«

Er war die Strecke zweimal gefahren, einmal für die gründlichen Untersuchungen, ein zweites Mal zur Planung und Tätowierung. Er hatte sich die Namen der Stationen gemerkt, oben am See war die Mitte der Fahrt, Bellevue, mit Blick auf das Wasser und in die Berge. Balgrist das Ziel, die drittletzte Station des Elfer-Trams. Nach Balgrist, den Kliniken, folgten nur noch zwei Haltestellen: zuerst Friedhof Enzenbühl und dann Rehalp, auch ein Friedhof, der mit seinem Flurnamen auf äsende Rehe verwies und das Alpenglühen am Ende der Fahrt. »Rehalp« war dem Elfer, grüne Zahl, blaues Tram, als Ziel an der Frontscheibe eingeschrieben, die Endstation, der jede Fahrt zustrebte.

Ein schönes Wort, hatte er zu Simone gesagt, findest du nicht? Sie hatte ihn in die Wange gekniffen und ihm einen Klaps gegeben.

Beide Friedhöfe galten als authentisches Stück der städtischen Friedhofsgeschichte, so meldete die Broschüre, die er sich schon mal beschafft hatte. Ihre einmalige Lage wurde gepriesen, die Waldkulisse mit Blick auf den See; gelobt wurde die reiche Bepflanzung mit Raritäten, hervorgehoben die kegelförmig geschnittene Rotbuchenallee, die in Fachkreisen bekannt und zur Schulung von botanischen Kenntnissen beliebt sei. Welch schöne Aussicht für Tote, hatte er gedacht und bei dem Gedanken etwas Tröstliches empfunden.

Börsenstraße. Kaum Menschen draußen. Nasses Altlaub vor dem Eingang einer Bank, eine Glastür, eine Aufschrift. Er hörte jetzt wieder das Rauschen in seinem Ohr, das alle Außengeräusche übertraf, ein Lärmpegel zwischen ihm und der Welt, der die Stimmen, auch sein eigenes Räuspern, übermalte. Grauer Glast über dem See, feucht, die Ufer verwischt in der Morgendämmerung.

Er hörte wieder die Stimme des Chefarztes, der ihm die Planung erläutert hatte, von der Höchstdosis sprach, 79 Gray; zu verabreichen in vierzig Sitzungen, die eigentlich Liegungen waren, weil ihm die Dosis auf dem Liegetisch verabreicht würde, zielgenau, treffsicher. Er hätte achtzig Fahrten mit der Linie elf vor sich, allenfalls eine zusätzliche bis Enzenbühl oder Rehalp. Seine Überlebenschance bezeichnete der Chefarzt als 70 zu 30, im besten Fall. Eine Begleittherapie mit Goserelin erhöhe von 70 auf 85, bedeute allerdings eine völlige Ausschaltung des Hormonsystems und wirke persönlichkeitsverändernd. Insgesamt 41 Nebenwirkungen von Goserelin waren vermerkt, darunter Blutdruckerhöhung bis zum Kollaps, aber auch Depression, Verstopfung, Atembeschwerden und Muskelzuckungen.

Der Chefarzt hatte die Wörter in gleichmäßigem Tonfall aneinandergereiht, eine medizinische Serialpoesie, manchmal kurz das Kinn gehoben, ihm in die Augen geschaut, gewartet.

Doch er hatte nichts gefragt und über den Chefarzt hinweg auf die Wand geblickt, auf das Bild: Wapitis in einer Schneelandschaft.

Sie lieben Wapitis?

Die Frage irritierte den Arzt. Er stockte kurz, drehte sich um, schaute auf das Bild.

Eine Aufnahme aus Jackson Hole, Wyoming, erklärte er, die Tiere hungerten, tauchten in der Nacht vor dem Hotel auf, erbärmlich blökend vor Hunger.

Der Arzt erwähnte den Kongress in Jackson, den er damals besucht habe, über neue Methoden der Interaktion von Photonen während einer Bestrahlung. Er machte eine Pause, zeigte nochmals auf die Wapitis. Wunderbare Tiere, schwärmte er und wandte sich wieder seinem Blatt zu, nannte weitere mögliche Nebenwirkungen von Goserelin, Gemütsschwankungen, Wallungen und Brennen im Unterleib.

Nicht angenehm, gestand er, wieder mit diesem mitfühlenden Unterton, aber nicht alles trifft zu, es sind Möglichkeiten.

Er nickte dem Arzt zu, sah wieder hoch zu den Wapitis, glaubte jetzt, deren verzweifeltes Blöken zu hören. Er hob leicht die Hand, als winke er den Tieren zu, als wolle er sie beschwichtigen, sie vertrösten auf den Morgen, da sie gefüttert würden und vielleicht die Sonne über die Schneefelder käme.

Als der Arzt schwieg, warf er ein, das Mögliche sei oft auch das Wirkliche; alles Mögliche auch für wirklich zu halten sei eine Eigenschaft, ja eine Krankheit, unter der er schon als Kind gelitten habe, mit dem Resultat, dass das Mögliche dann auch als Wirkliches in seinem Leben eingetroffen sei. Das könne sich auch hier ereignen, und all die möglichen Nebenwirkungen würden in seinem Fall tatsächlich eintreten.

Das Gesicht des Arztes verriet Unwillen; er empfahl trotz der vorsorglich genannten Nebenwirkungen die Goserelinspritze. Nur so sei die Behandlung auch sicher wirksam und würde die Überlebenschance um fünfzehn Prozent erhöhen; angesichts dessen seien die erwähnten Nebenwirkungen in Kauf zu nehmen, auch wenn sie bloß eine verschwommene Wahrnehmung, eine getrübte Sicht vielleicht bewirkten, was ja auch helfen könne, mit den neuen Tatsachen zu leben.

Getrübte Aussicht, dachte er mit Blick auf die hungernden Wapitis, Endstation Rehalp, Einzelgrab in der Buchenallee. Er nahm sich vor, öfter mal wieder Friedhöfe zu besuchen, sich die Bepflanzung genau anzusehen und sich allfällige botanische Besonderheiten und Raritäten zu merken, auch den Schattenformen, die auf die Gräber fielen, zu folgen und die Aussicht auf Sonne festzuhalten, dem Gesang der Vögel zu lauschen, durchaus mit dem Gedanken, wie tröstlich es sein könnte, um das Singen der Vögel über dem Grab zu wissen.

Er hatte dem Chefarzt die Hand gereicht, war in den Korridor hinausgetreten.

Wetlistraße.

Die Türen sprangen klackend auf.

Er nickte zur Buchhandlung hinüber, die er lange schon kannte. Eine Schlange von Lesenden stand bereits am frühen Morgen vor dem Eingang, um vor der Arbeit noch schnell ein Buch zu erstehen. Das freute ihn.

Eine Frau, fast zwei Meter groß, mit einem winzig kleinen Hund setzte sich ihm gegenüber. Er sah an ihren Knien, an ihren Waden vorbei auf den Hund. Dieser trug um den Hals einen nach vorne offenen mächtigen Plastiktrichter, der seinen Kopf vom Körper trennte. Als der Hund sich hinlegte, zog die Frau den Trichter an ihre Unterschenkel, hielt Trichterkontakt. Er erinnerte an ein altes Grammophon; wie der Hund so lag, machte es den Eindruck, als sei der Kopf abgetrennt vom Leib, das Tier in seine Einzelteile zerlegt.

Es schien einfach, ihn zu verpacken, erst den Kopf, dann den Trichter, schließlich den kleinen Leib, die Beine und den Schwanz abzuschrauben und alles in eine holzwollegepolsterte Schachtel zu legen wie den Hamster im Winterschlaf. So könnte er leicht per Post spediert werden. Er wäre beim Eintreffen der Reisenden schon am Ziel, könnte in seiner Schachtel am Empfang abgeholt, ausgepackt und bräuchte nur noch zusammengeschraubt zu werden.

Burgwies stieg die Frau aus.

Ach so, rief einer, hab ich mir schon gedacht, direkt ins Tram-Museum.

Der Hund oder die Frau? Alle lachten.

Balgrist.

Er sprang auf.

Fünf Minuten zu Fuß bis zum Eingang.

Er kannte den Weg.

Als sich die Lifttür öffnete, strebte er gleich auf einen der Stühle zu, grüßte knapp, sah...

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