Das letzte Tabu - Über das Sterben reden und den Abschied leben lernen

Das letzte Tabu - Über das Sterben reden und den Abschied leben lernen

von: Henning Scherf, Annelie Keil

Verlag Herder GmbH, 2016

ISBN: 9783451810947

Sprache: Deutsch

256 Seiten, Download: 3834 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Das letzte Tabu - Über das Sterben reden und den Abschied leben lernen




1 Ein Dialog über die Kunst des Abschiednehmens

Uta von Schrenk: Warum ist es immer noch tabu, über das eigene Sterben und den eigenen Tod zu reden?
Annelie Keil: Wir sind ja schon dabei, dieser Verdrängung entgegenzuwirken. Dazu tragen etwa die Kriegsberichterstattung in den Medien bei, die öffentliche Diskussion über Krankheiten, die zum Tod führen, aber vor allem die Arbeit der Hospizbewegung, die sich aktiv um die Verbesserung der Situation Sterbender und ihrer Angehörigen und um die Integration von Sterben und Tod ins Leben bemüht. Dennoch wird das Tabu vor allem durch zwei Faktoren immer noch gestützt: Der eine ist die Angst aller Menschen vor dem Ende des Lebens und die Schwierigkeit, hierüber schon mitten im Leben einen offenen und freien Dialog zu führen. Das hat zu einer großen Einsamkeit und Isolation der Menschen am Lebensende geführt und das Leiden verstärkt. Der andere Grund ist das, was Ivan Illich die »Medikalisierung der Gesellschaft« und die »Nemesis der Medizin« genannt hat. Der Wahn der Machbarkeit haben Gesundheit und Krankheit zu einer medizinischen Ware und den Tod »manipulierbar« gemacht. Der natürliche Tod erscheint wie ein Phantom, das sich dem technischen Eingriff entzieht. Alter wird zur behandlungsnotwendigen Krankheit, und Gesundheit ist der Enteignung durch »Experten« zum Opfer gefallen.
U.v.S.: Warum ist es so wichtig, dass wir über das Sterben reden?
Henning Scherf: Das Sterben gehört zum Leben. Darum ist das Reden darüber ein Teil unseres Lebens. Wenn ich selbst über mein Sterben reden kann, trage ich dazu bei, dieses Thema wieder in die Mitte unserer Gesellschaft zurückzuholen. So haben wir die Chance, bewusst und ohne Verdrängung der Endlichkeit unseres Lebens die uns bleibende Zeit zu erleben.
U.v.S.: Sind die Abschiede im Leben, die jeder von uns meistern muss, eine kleine Vorbereitung auf den letzten Abschied, den Tod?
A.K.: Ich glaube, dass man das Sterben nicht lernen kann, aber den Umgang mit der Tatsache, dass wir sterblich sind, schon. Abschiednehmen ist die Grundstruktur allen Lebens. Unser Leben beginnt mit einer Entbindung, wir müssen uns nach neun Monaten von der ersten Heimat verabschieden. Kindergarten, Schule, der Auszug aus dem Elternhaus, das Ende der Erwerbsarbeit – alles Abschiede. So lange wir leben, müssen wir uns immer wieder einbinden, uns neu verorten – so wie die vielen Flüchtlinge, die jetzt zu uns kommen. Das Sterben selbst können wir sicher nicht lernen, aber es gibt wie bei großen Verlusten auch unterschiedliche Annäherungen, denn all diese Abschiede im Leben sind Teile des letzten Abschieds, in dem es um das Loslassen von allem geht, was einmal war.

H.S.: Mir hat bei meinen Abschieden im Leben immer geholfen, mich auf das, was mir verblieben ist, zu konzentrieren. Man kann zwar nicht mehr alles haben, aber das was verblieben ist, ist noch so reich und spannend, dass es sich lohnt, damit zu leben. Eine solche Haltung gibt auch dem Sterben eine neue Qualität. Im Grunde müssen wir im Prozess des Sterbens die Perspektive wechseln: Es geht nicht mehr darum, sich auf immer wieder Neues einzustellen und weiterzumachen. Nun geht es darum, etwas zu beenden, Bilanz zu ziehen, sich auf das zu konzentrieren, was war und auf das, was noch ist. Ich denke zunehmend über das nach, was war. Was mir gelungen ist und was nicht. Wo ich etwas bewirkt habe und wo nicht. Ich denke nicht mehr daran in der Hoffnung, dass ich noch etwas korrigieren kann – das Geschehene ist nicht mehr zu ändern. Aber mir das noch einmal bewusst zu machen, mir das noch einmal zu vergegenwärtigen, finde ich kostbar und wichtig, darin übe ich mich.
U.v.S.: Das Christentum des Mittelalters übte sich in der ars moriendi, der Kunst des Sterbens – mit Blick auf das Paradies als Faustpfand. Geht es für uns heute darum, eine moderne oder sogar postreligiöse ars moriendi zu finden?
H.S.: Wir beide wollen die Mutlosigkeit und die Sinnlosigkeit, die viele in unserem Kulturkreis mit dem Sterben verbinden, aufbrechen und sagen: Es gibt ein Leben im Sterben und es gibt ein Sterben im Leben. Beides gehört untrennbar zusammen. Es geht uns darum, nicht vor dem Sterben und den Sterbenden wegzulaufen, kein Tabu darüber zu legen und zu sagen, wir juxen jeden Tag, so gut wir können, und dann fallen wir plötzlich wie vom Blitz getroffen um. Denn so wird es nicht sein. Uns geht es darum, dass Menschen, die mit dem Sterben befasst sind, um sich herum Menschen finden, die sagen: Wir sind bei dir und wir bleiben bei dir. Eine solche Haltung würde ich nicht unbedingt postreligiös nennen, sondern human. Eine Haltung, die von der Hoffnung auf den Menschen geprägt ist.
U.v.S.: Also eine ars moriendi, die man auch dem aufgeklärten Menschen anbieten kann, der davon überzeugt ist, dass das Leben mit dem Tod zu Ende ist.
A.K.: Ja. Die ars moriendi zieht sich durch die gesamte Geschichte der Philosophie und Ideengeschichte– zu der für mich auch die Religionen gehören. Schon immer war die Kunst des Sterbens auch mit der Kunst des Lebens verbunden. Das Geheimnis des Lebens ist, dass es höchst Unterschiedliches für jeden von uns bereithält. Insofern sind Menschen wie wir, die sich mit ihrem Lebenswerk identifizieren können, in einem sehr privilegierten Zustand. Ich erlebe aber sehr viele Menschen, denen der Stolz auf ihre Lebensleistung abhandengekommen ist.
U.v.S.: Wie meistert man die Erkenntnis, nicht alles zu können, was von einem erwartet wird?
A.K.: Zur Lebenskunst gehört so etwas wie Schicksalsergebenheit. Das ist etwas sehr Spirituelles oder auch Religiöses für mich, und etwas tief Menschliches. Schicksalsergebenheit ist die Kunst, das, was im Leben nicht gelaufen ist, was nach einem Abschied nicht weiter ging, mit Schmerz- und Trauerarbeit anzunehmen und dann bereit zu sein, bei Null oder besser: wieder bei Eins zu beginnen. Ohne zwischendurch im Leben aufzuräumen geht es nicht – damit man Klarheit darüber gewinnt, was noch geht und was nicht mehr geht. Das betrifft auch die kleinen Gemeinheiten des Alters: Man kann nicht mehr richtig hören, man kann nicht mehr richtig gehen. Aber es braucht diesen Moment, zu akzeptieren, dass ein Hörgerät es richten kann, dass ein Rollator über die Straße hilft, sogar den Einkauf schleppt oder auch mal dem blöden Nachbarn in die Hacken fährt. Diese Potenzialität öffnet sich aber nur dann, wenn du den Blick auf das wendest, was bleibt.

H.S.: Die Frustrationstoleranz, die wir Kindern und Heranwachsenden beizubringen versuchen, ist eine Voraussetzung dafür, mit den Abschieden des Lebens klarzukommen.

A.K.: Was man in der Lebenskunst nicht gelernt hat, lernt man auch nur schwer in der Sterbekunst. Eine der ganz großen Fähigkeiten, um leben und sterben zu können, ist Geduld. Als Kindern wird uns diese Fähigkeit zur Geduld oft genommen – etwa wenn wir aus unserem Spiel herausgerissen werden. Unser Erwachsenenleben ist nicht von Geduld gekennzeichnet, in dieser Zeit, in der alles effektiv und sofort sein muss. So effektiv übrigens, dass man heute oft ungeduldig auf die Sterbenden schaut und sich fragt, wie viele Sterbende die Gesellschaft sich leisten kann, die auf ihre Weise und im eigenen Rhythmus zu Hause oder in unseren Hospizen sterben dürfen. Eine Debatte, die uns dahin bringt, über aktive Sterbehilfe nachzudenken.
H.S.: Ich habe mir den Begriff Demut angeeignet. Demütig werden heißt ja nicht, resignativ zu sein und aufzugeben. Demut meint, ich werde bescheiden in meinen Ansprüchen und versuche aus dem, was mir geblieben ist, im Respekt vor dem, was ich noch kann, etwas Gutes zu machen.

A.K.: Geduld und Demut gehören zusammen. Demut ist eine tief geistige, spirituelle Haltung. Denn in der Demut kommt noch die Dankbarkeit dazu. Gute Politik muss meiner Meinung nach spirituell ausgerichtet sein, sich um das Gemeinwohl kümmern, die Würde des Menschen achten und »Ehrfrucht vor dem Leben« zum Kern ihres Handelns machen. Und auch eine menschlichere Kultur am Lebensende braucht eine solche Ausrichtung. Als Sterbender gehöre ich zu jener Minderheit gegenüber der Masse der Lebenden,...

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