Geht's noch? - Arbeit und Selbstwert im Alter

Geht's noch? - Arbeit und Selbstwert im Alter

von: Caitrin Lynch

J. Kamphausen, 2016

ISBN: 9783958831216

Sprache: Deutsch

352 Seiten, Download: 2082 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Geht's noch? - Arbeit und Selbstwert im Alter



VORWORT


Vom alten Eisen zum Edelstahl – Erwerbstätig bis ins hohe Alter

„Es fehlt eine ausgewogene Vorstellung davon, dass ältere Menschen nicht nur Konsumenten, sondern auch Produzenten in unserer Gesellschaft sein können – und sein wollen! Es fehlt der Gedanke, dass es den meisten ein großes Bedürfnis ist, gebraucht zu werden, tätig zu sein, etwas beizutragen. Sind wir als Gesellschaft bereit, für die große Bandbreite an Möglichkeiten im Alter eine entsprechend große Bandbreite an Gestaltungsoptionen vorzuhalten?“1

Bundespräsident Joachim Gauck am 31.3.2015

in seiner Eröffnungsrede zum „Dialog mit der Zeit“

Zu einer Gemeinschaft dazuzugehören, gebraucht und geschätzt zu werden, ist eines der zentralen Bedürfnisse von uns Menschen, und dies ganz unabhängig vom Alter. Der Arbeitsplatz ist für viele ein Schlüsselort, an dem wir uns mit unserer Persönlichkeit, unseren individuellen Talenten, Fähigkeiten und Erfahrungen einbringen; er bietet dazu ideale Möglichkeiten. Die Alten sind heute fitter denn je, vielen macht ihre Arbeit Spaß, sie möchten ihre jahrzehntelangen Erfahrungen gerne weiter nutzen und weitergeben – mit dem Erreichen des Rentenalters stürzen viele Menschen jedoch in ein emotionales, soziales Vakuum, das sie nicht zu füllen wissen. Viele macht das Nicht-mehr-gebraucht-Werden regelrecht krank; andere brauchen das Geld und wissen nicht, wie es mit der geringeren Rente weitergehen soll. Gerade auch das ehrenamtliche Engagement in vielen verschiedenen Bereichen zeigt, wie tatkräftig, sinnvoll und zeitintensiv Frauen und Männer noch lange Jahre jenseits des in Deutschland definierten Rentenalters von 67 Jahren aktiv sind und sein möchten.

Warum muss die Option in seinem Beruf weiterzuarbeiten, wenn Menschen können und wollen, ab einem bestimmten Alter – und das abrupt – wegfallen und dadurch viele nützliche Ressourcen für beide Seiten von heute auf morgen gekappt werden?

Das ausführliche Porträt über das amerikanische Unternehmen Vita Needle der Anthropologin Caitrin Lynch ist ein mehrdimensionales Musterbeispiel für die von Bundespräsident Joachim Gauck angemahnte „Bandbreite an Möglichkeiten“. Die Autorin und Wissenschaftlerin nimmt uns mit in die Welt von Vita Needle, in die sie selbst über Jahre eingetaucht ist. Sie hat die erfolgreich produzierende Nadelfabrik eng begleitet und beobachtet und schildert in ihrer detaillierten Studie den Alltag der erfolgreichen „Rentner AG“. Vielfach lässt sie die Arbeiter selbst zu Wort kommen. Diese beispielhafte und weltweit einzigartige Geschichte lenkt den Fokus auf folgende Aspekte:

Erste Dimension:

Alte und hochbetagte Menschen können einen Teil ihrer Selbstverwirklichung in einer Erwerbstätigkeit nutzen und fühlen sich dabei in einer Gemeinschaft aufgehoben – denn Arbeiten ist eine der wichtigsten Formen gesellschaftlicher Teilhabe und kann vielfach auch zu einem gesunden Leben beitragen.

Zweite Dimension:

Das Businessmodell der sehr flexiblen Teilzeitbeschäftigung im Ruhestand befindlicher Personen kann selbst in einem Betrieb mit auftragsabhängiger Industrieproduktion hochwertiger Güter ein nachhaltiges und marktfähiges Modell sein. Wenn das in der Industrie möglich ist, warum sollte es nicht auch im Bereich der Dienstleistungen funktionieren?

Dritte Dimension:

Vita Needle geht seit Jahren als ein international beachtetes Vorbild für die Wieder- und Weiterbeschäftigung alter Mitarbeiter durch die Medien vieler Länder. Dieses eindrucksvolle Beispiel regt vielfach zum Nachdenken an, jedoch die Nachahmer fehlen. Davon ist bisher nur in kleinen Ansätzen etwas zu bemerken. Woran liegt das?

Die Hindernisse für eine Verbesserung der Erwerbsbeteiligung älterer Menschen auch in Deutschland sind vielfältig: verkürzte Vorstellungen von Freiheit, unterentwickelte Verantwortungsbereitschaft, vielfach überholte Vorstellungen von Erwerbsarbeit, die mit abzulehnendem Zwang oder mit Ausbeutung gleichgesetzt werden, aber auch eine große Uninformiertheit über die gesetzlichen Regelungen zum Eintritt in den Ruhestand und der Fortsetzung von Arbeitsverhältnissen über die Regelaltersgrenze hinaus.

Dazu liefert die erweiterte deutsche Ausgabe des Buchs neben dem amerikanischen Erfolgsbeispiel konkrete Informationen zu den bestehenden Möglichkeiten und Hintergründen hierzulande: Wie ist die Situation in Deutschland? Wie stellen sich die Deutschen ihren sogenannten Ruhestand vor? Ist es möglich jenseits des Rentenalters zu arbeiten, und welche rechtlichen Hürden gilt es dabei zu überwinden?

Das größte Hindernis für die weitere Entfaltung der vorhandenen Potenziale des Alters ist nach wie vor das gesellschaftlich vorherrschende defizitorientierte Altersbild und die damit zusammenhängende stereotype Unterschätzung der vielfältigen Möglichkeiten des Alters. Dieses Vorurteil nistet sich fast automatisch als „Selbstverzwergung“2 in die Köpfe der alten und alternden Menschen selbst tief ein. Dieses Buch schreibt mutig und vorwärts gewandt gegen diese gesellschaftliche Entwicklung an. Catrin Lynch zeigt am Leben einzelner Menschen eindrucksvoll, dass es auch anders geht und propagiert einen neuen, zeitgemäßen Umgang mit dem Alter und seinem vielfältigen Potenzial.

Warum ist eine längere Lebensarbeitszeit sinnvoll und notwendig?

Politisch propagierte und zugleich verharmlosende Aussagen wie „Wir werden älter, wir werden weniger, wir werden bunter“ verbergen demografische Entwicklungen mit einer enormen gesellschaftlichen Sprengkraft:

1. Es besteht keinerlei Zweifel, dass die Zahl der Erwerbsfähigen in Deutschland in den kommenden Jahren sinken wird. Strittig sind die Annahmen, die man den Voraussagen zugrunde legt. Das Institut für Arbeitsmarkt und Berufsfeldforschung (IAB) hat in einer Studie aus dem Jahr 2011 unter drei plausiblen Trend-Annahmen (steigende Erwerbsquoten von Frauen, Verlängerung der Lebensarbeitszeit und Nettozuwanderung von 100.000 erwerbsfähigen Personen pro Jahr) bis zum Jahr 2030 eine Verminderung des Erwerbspersonenpotenzials bis zum Jahr 2030 um 5,45 Millionen und bis zum Jahr 2050 eine Verminderung in Höhe von 12 Millionen Personen prognostiziert.3

Keine Industrienation der Welt kann einen solchen Rückgang der Erwerbsfähigen ohne Schaden bewältigen, selbst wenn man einen großzügigen Wegfall von Arbeitsplätzen durch Digitalisierung und Industrie 4.0 einrechnet. Dabei ist eine Zuwanderung von 100.000 Personen pro Jahr bereits eingerechnet. Allein im Jahr 2014 wurden circa 420.000, 2015 1,1 Millionen Personen in Deutschland aufgenommen. Wie viele dieser Personen tatsächlich erwerbsfähig sind oder durch entsprechende Qualifikationsmaßnahmen später in den Arbeitsmarkt integriert werden können, ist unklar. Der Chef der Arbeitsagentur und des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, Frank-Jürgen Weise, hat im November 2015 bei einer Versammlung der „Charta der Vielfalt“ in Berlin erklärt, dass nach Schätzungen 10 % der Flüchtlinge und Asylbewerber in 5 Jahren in den Arbeitsmarkt aufgenommen werden können. Insofern wäre die Prognose der IAB von 2011 auch unter Berücksichtigung der aktuellen Lage realistisch. Wie viele Migranten insgesamt dauerhaft bleiben dürfen und wollen, steht wiederum nicht fest. Bei der aktuellen Geschwindigkeit der Abnahme von Fachkräften ist nicht zu erwarten, dass dieser Mangel auch im Zuge von Rationalisierungen und Produktivitätssteigerungen aufgefangen werden kann. Schon heute verzeichnen wir nach einer Studie des Kölner Instituts der deutschen Wirtschaft in 139 Berufsgattungen, von insgesamt 615 Berufsgattungen, Fachkräfteengpässe.4

2. Die Zahl der Rentenempfänger, also Personen über 65 Jahre, steigt bis 2030 um 10 Millionen Menschen5. Weiterhin steigt die Lebenserwartung jedes Jahr um drei Monate. So hat sich die Rentenbezugsdauer seit der Einführung der gesetzlichen Rentenversicherung verdoppelt. Dem Kostendruck wurde politisch mit der Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre entgegengewirkt. Eine Milchmädchenrechnung, denn die Rente mit 67 wird erst 2029 vollständig eingeführt sein. Bis dahin haben diejenigen, die es betrifft, schon eine drei Jahre längere Lebenserwartung, also auch eine entsprechend erhöhte Rentenbezugsdauer.

Professor Axel Börsch-Supan, Direktor des Munich Center for the Economics of Aging (MEA) am Max-Planck-Institut, schätzt diese Maßnahme in ihren Effekten daher als sehr begrenzt ein.5 Die begleitende Absenkung des Rentenniveaus auf 43 % ist für die Leistungsfähigkeit der Rentenversicherung notwendig, in ihren sozialen Auswirkungen jedoch durchaus kritisch zu betrachten.

Wer wird künftig (ohne andere Einnahmequellen) schon von...

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