Demenz - Praxisbezogene Tipps und Hilfen für Angehörige und Pflegekräfte - mit einem Vorwort von Prof. Erwin Böhm

Demenz - Praxisbezogene Tipps und Hilfen für Angehörige und Pflegekräfte - mit einem Vorwort von Prof. Erwin Böhm

von: Elvie Nern

Nomen Verlag, 2016

ISBN: 9783939816317

Sprache: Deutsch

112 Seiten, Download: 1809 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

geeignet für: geeignet für alle DRM-fähigen eReader geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones Online-Lesen


 

eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Demenz - Praxisbezogene Tipps und Hilfen für Angehörige und Pflegekräfte - mit einem Vorwort von Prof. Erwin Böhm



Einleitung – Wenn das große Vergessen beginnt


„Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, werdet
ihr nicht ins Himmelreich kommen.“

Dieses Bibelzitat habe ich vorangestellt, da es das Lebensziel sehr gut beschreibt: Das Himmelreich in uns selbst zu verwirklichen. Ich bin der Überzeugung, dass es den Menschen, die an Demenz erkranken, verloren gegangen ist – sie werden nicht wie die Kinder, sondern kindisch. Es gibt kein „kindliches Staunen“, keine Freude mehr am Leben. Angst, Misstrauen und Unmut herrschen vor. Für Angehörige ist es schwer, damit leben zu müssen, wie sich ein vertrauter Mensch immer mehr in einen Fremden verwandelt. Es ist ein täglicher Abschied von einem lieben Menschen, und dieser Abschied hört bis zum Tod nicht auf. Ein Abschied von einem Menschen, der einmal mitten im Leben stand und sein Leben meisterte. Der nun sein Leben und die Verantwortung dafür an die Angehörigen und das Pflegepersonal übergeben hat und sich immer mehr aus der Realität zurückzieht, in eine Welt, zu der Sie keinen Zugang haben.

Es ist der Rückzug in das Vergessen. Aus einem Leben voller Sorgen und Probleme oder durch die immer wieder auftauchenden Kriegserlebnisse. Der Geist ist erschöpft und es ist so, als würde dieser Mensch sich körperlich und seelisch hängen lassen. Andere sollen über sein Leben bestimmen und es leben.

Die heute 80-Jährigen oder die noch Älteren stammen aus einer Generation, in der über Gefühle nicht geredet wurde – geschweige denn, dass sie be- oder verarbeitet wurden. Alle haben den Krieg erlebt. Das Erlebte wie Entbehrungen, Angst, Hunger, Vertreibung, Flucht, Not, Entwurzelung, auch Vernachlässigung und Überforderung – bei Frauen oft auch Vergewaltigung – wurde unter den Teppich gekehrt. Es wurde nie darüber geredet, da diese Ereignisse als lebensbedrohlich empfunden wurden.

Sie als Ehepartner denken jetzt sicher: Den Krieg habe ich auch erlebt und schalte trotzdem nicht ab. Aber mein Partner tut es und ich bin allein mit allen Problemen, und Sie haben eine große Verantwortung und Last zu tragen – ob Sie das wollen oder nicht. Sie sind mit dieser Last überfordert, sind ratlos und ohne jede Hoffnung auf eine Besserung der Lebenssituation.

Das Leben der Generation der heute Dementen bestand seit frühester Jugend aus harter, körperlicher Arbeit. Urlaub, Entspannung, Erholung und Freizeit gab es nicht. Diese Menschen haben das ganze Leben lang funktioniert und steigen im Alter aus dem Leben aus – die Sicherung ist durchgebrannt. Das Ziel des Lebens – und damit das der Seele – wurde nicht beachtet. Die Seele blieb in der Vergangenheit und auf der Strecke – bis heute. Die Verantwortung für das eigene Leben wurde aufgegeben. Und doch kommen viele Dinge immer wieder in das Bewusstsein. Die Bearbeitung der Probleme wurde nicht gelernt und es blieb nichts anderes übrig, als das Gehirn abzuschalten und so die Gedanken zum Schweigen zu bringen. Anstatt – wie es in der Bibel heißt – wieder zu Kindern zu werden, voller Vertrauen, kindlicher Zuversicht und Neugier auf das, was das Leben noch bringt, werden diese Menschen kindisch, sind nicht mehr ansprechbar und unerreichbar für die Außenwelt. Deprimierend ist – im Gegensatz zum Kind –, dass es keine Besserung gibt, sondern scheinbar nur noch Ausweglosigkeit.

Wenn die Stimme fehlt, sind die alten Menschen im übertragenen Sinne entmündigt. Es ist ihnen unmöglich, mit der Außenwelt in Kontakt zu treten, und sie lassen sich von Außenstehenden sagen, was gut für sie ist. Sie überlassen der Umwelt die Sorge für ihr Leben und Wohlbefinden. Sie haben weder ein Ziel, noch die Hoffnung, den Weg des Lebens wieder zu finden. Sie finden weder Entspannung noch Erleichterung. Die äußere Unruhe, das ständige Reden müssen, zeigen die innere Anspannung und die Ängste aus der Vergangenheit. Manchen gelingt es – eben durch Krankheit –, diese Ereignisse auf Dauer aus der Erinnerung zu streichen, um so der Bedrohung zu entgehen.

Ihr ganzes bisheriges Leben war geplant, verplant. Es wurde eventuell ein Geschäft aufgebaut und geführt, ein Haus gebaut, die Kinder wurden versorgt und erzogen. Sie hatten alles im Griff, das Geschäft lief, die Familie funktionierte und war gesund. Die Überforderung mit diesen Aufgaben war so groß, dass nur noch der Rückzug übrig blieb.

Die Geister der Vergangenheit beeindruckt das alles nicht, sie lassen nicht los, sie möchten be- und verarbeitet werden. Sie sind unbequem und lassen sich nicht vertreiben. Eine Loslösung von den alten Erinnerungen kommt nicht zustande und der Mensch zieht sich zurück – das Gehirn schaltet ab –, er verliert im wahrsten Sinne des Wortes den Verstand. Die Lebensträume, die sich nicht verwirklicht haben, drängen ins Bewusstsein und oft rückt der Gedanke an den eigenen Tod näher. Vielleicht wird auch Bilanz gezogen und es stellen sich die Fragen: „War das nun schon alles? Was ist aus meinen Wünschen und Träumen geworden? Sind sie gelebt und verwirklicht worden? Habe ich mich der Vorstellung anderer angepasst und meine Träume immer wieder auf später verschoben? Es waren immer wieder die gleichen Gedanken: „Wenn das Geschäft aufgebaut ist, ...“ „Wenn das Haus gebaut ist, ...“ „Wenn die Kinder groß sind, dann ...“ „Was hat mir das Leben gebracht – außer Arbeit?“ Viele Berufswünsche blieben auf der Strecke. Einige Kranke erzählten, dass sie einen anderen Beruf gewählt hätten, sich aber anpassen mussten, weil das elterliche Geschäft weitergeführt werden sollte, weil es galt, die Familie zu ernähren, weil der Krieg dazwischen kam.

In meiner Familie – wie wohl auch in vielen anderen Familien – wurde nie darüber gesprochen, auch nicht darüber, was jeder einzelne Mensch während des Krieges erlebt hatte. Weder von dem Leben zu Hause noch von der Front wurde erzählt, von Hunger und Ängsten schon gar nicht.

Ich weiß, dass mein Großvater sein ganzes Leben lang unter den Kriegserlebnissen litt und panische Angst davor hatte, irgendwann einmal oben an der Himmelstür zu stehen und nicht in den Himmel zu dürfen, weil er im Krieg Menschen getötet hatte. Er war ein gläubiger Mensch. Die 10 Gebote wurden von ihm geachtet und befolgt – bis der Krieg kam und er nur die Wahl hatte, entweder selbst durch Missachtung von Befehlen getötet zu werden oder „Feinde“ zu erschießen.

Mit zunehmendem Alter rücken diese „unerledigten“ Erlebnisse wieder stärker ins Gedächtnis und ins Bewusstsein. Es sollte nun die Aufarbeitung beginnen, das heißt der Mensch sollte sich der Innen- oder Seelenwelt zuwenden und damit dem Heimweg der Seele. Diese Aufarbeitung und die Integration aller verdrängten Ereignisse würde mit großer Wahrscheinlichkeit die Krankheit verhindern. Doch die Seelenarbeit wird verweigert. Entspannung, ein gesunder Schlaf und ein ruhiges Leben sind so unmöglich geworden. Wie können wir ermessen, was die Seele durchmacht, während der Körper, in der fortgeschrittenen Demenz ans Bett gefesselt, nicht sterben kann und darf, weder hüben noch drüben ist und seinen Weg nach Hause nicht findet oder nicht gehen darf?

Die Gedanken an das Erlebte von damals suchen die kranken Menschen – fast täglich, überwiegend in den Nachmittags-, Abend- oder Nachtstunden – immer wieder heim, da ihre erlernten Verdrängungsmechanismen, zum Beispiel die Flucht in die Arbeit, nicht mehr funktionieren. Diese Mechanismen wurden der im Grunde nötigen Aufarbeitung vorgezogen – um nicht von den Gefühlen aus der Vergangenheit überwältigt zu werden, um dem Leidens- und Belastungsdruck standhalten zu können. Panikattacken, Wahnvorstellungen, Verwirrtheit, aber auch Depressionen, Orientierungslosigkeit und eine ganze Reihe weiterer Auswirkungen sind zu beobachten.

Die im Stress aktivierte Energie ist schockgefroren. Diese Energie kann nicht mehr ausagiert werden und benutzt als Ventil zum Beispiel das „Laufen-Müssen“ als Linderung und Ausgleich. Sie bleibt trotzdem im Organismus latent wirksam und belastet auf allen Ebenen. Ein Teil der Persönlichkeit möchte das Entsetzliche unzerstört überleben und nutzt die Möglichkeit zur Flucht in die innere Emigration – in die Demenz. Das Laufen-Müssen kann auch Ausdruck dafür sein, dass der Partner vermisst oder das Zuhause gesucht wird – doch das bleibt eine Spekulation. Für den dementen Menschen gibt es keine Möglichkeit, sich auszudrücken, die Sprache gibt es nicht mehr und nur Laufen und Laute machen bleibt als einzige Ausdrucksmöglichkeit. Die Trippelschritte vieler Dementen demonstrieren den inneren Drang zu gehen und zeigen damit die Rastlosigkeit – aber auch, dass den Schritten die richtige Richtung fehlt –, denn die Menschen können nicht sicheren Schrittes in die Zukunft gehen. Sie drehen sich im Kreis...

Kategorien

Service

Info/Kontakt