Spiritualität und Spiritual Care - Orientierungen und Impulse

Spiritualität und Spiritual Care - Orientierungen und Impulse

von: Birgit Heller, Andreas Heller

Hogrefe AG, 2013

ISBN: 9783456753522

Sprache: Deutsch

259 Seiten, Download: 7031 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Spiritualität und Spiritual Care - Orientierungen und Impulse



2. Spiritualität versus Religion/Religiosität?


Birgit Heller

Alltagsverständnis und aktuelle Begriffsdebatte


Spiritualität ist heute ein Modewort, ein schillernder und unscharfer Begriff. Wer das Wort Spiritualität verwendet, muss zwangsläufig nach seiner Bedeutung fragen. In der Literatur zu Spiritual Care bzw. genereller in den Gesundheitswissenschaften schwankt der Begriff zwischen konfessionellen, transkonfessionellen, religiösen, anthropologischen und existenziell-psychologischen Perspektiven. Spiritualität wird als Basisqualität des Menschen aufgefasst – als eine Dimension oder Fähigkeit, die allen Menschen eigen ist – daher wird Spiritual Care auch als Angebot für alle gefordert. Sinnsuche, Sinngebung und Fähigkeit zur (Selbst-)Transzendenz sind Kategorien, die in den Definitionen von Spiritualität überwiegen.

In der Frage nach der Beziehung zwischen Spiritualität und Religion/Religiosität spaltet sich die aktuelle Begriffsdiskussion. In ihr spiegelt sich die Selbsteinschätzung eines repräsentativen Anteils der Bevölkerung in Europa und in den USA hinsichtlich Religiosität bzw. Spiritualität.

Religiös und/oder spirituell oder keins von beiden


In den vergangenen Jahren wurden in Europa und in den USA verschiedene Untersuchungen durchgeführt, die in ihren Fragestellungen erstmals zwischen Religiosität und Spiritualität differenziert haben.1 Demnach betrachtet sich ein Teil der Befragten als religiös und spirituell zugleich, wobei es hinsichtlich der Größenordnung dieser Gruppe offenbar große Unterschiede zwischen einzelnen europäischen Ländern (die Zahlenangaben schwanken hier extrem zwischen rund 10% und 37%) und generell zwischen Europa und den USA (rund 40–55%) gibt. Wer sich selbst als religiös und spirituell bezeichnet, verfügt prinzipiell über verschiedene Möglichkeiten, das Verhältnis von Religiosität und Spiritualität näher zu bestimmen: Den Begriffen kann die gleiche Bedeutung zugeschrieben werden, sie können einander überschneidend verwendet oder einer dem anderen untergeordnet werden. Ein großer Teil der EuropäerInnen stuft sich als weder religiös noch als spirituell ein – die Zahlenangaben schwanken hier zwischen 35% und fast 50%. In den USA hingegen zählt sich nur eine kleine Minderheit zu dieser Kategorie. Der Rest der Befragten teilt sich in diejenigen, die sich als religiös, aber (eher) nicht spirituell und umgekehrt in diejenigen, die sich als spirituell, aber (eher) nicht als religiös verstehen.2 Für diese Menschen haben Religiosität und Spiritualität also wenig bis nichts miteinander zu tun – sie bezeichnen sich selbst als religiös oder eben als spirituell. In Ländern wie Deutschland oder Österreich versteht sich ein relativ großer Prozentsatz (um die 30%) als eher oder ausschließlich religiös, in anderen europäischen Ländern und in den USA fällt diese Zahl geringer aus. Jene Menschen, die sich selbst als eher oder ausschließlich spirituell bezeichnen, bilden allerdings in Europa eine Minderheit: Es sind kaum mehr als 10% der Gesamtbevölkerung.3 Für die USA liegen hier weitaus höhere Zahlen vor. Ungeachtet dieser Größenordnungen, die in den einzelnen Studien auch mehr oder weniger stark variieren (was wohl auch mit den unterschiedlichen Befragungsmodi zu tun hat) und daher nur bestimmte Trends aufzeigen, ist aus allen empirischen Untersuchungen klar ersichtlich, dass sowohl Religiosität als auch Spiritualität heute für viele Menschen wichtige Kategorien der Selbstbezeichnung sind, wobei die Bezeichnung «religiös» (noch?) deutlich häufiger verwendet wird. Spiritualität wird sowohl auf Religiosität bezogen als auch davon abgegrenzt. Aber nur eine Minderheit trennt de facto scharf zwischen Religiosität und Spiritualität, und zwar deshalb, um sich von christlich-kirchlicher Religiosität abzugrenzen.

Verschiedene Verhältnisbestimmungen von Religion/Religiosität und Spiritualität


In der aktuellen Begriffsdebatte, die von Fachleuten aus unterschiedlichen Disziplinen im Rahmen von Spiritual Care bzw. in den Gesundheitswissenschaften geführt wird, zeigen sich dieselben Muster. Teilweise wird Spiritualität als Synonym für Religion bzw. Religiosität gebraucht. Dieses integrierende Verständnis von Religion(en) und Spiritualität schließt sowohl die verschiedenen etablierten religiösen Traditionen als auch die Formen individualisierter Spiritualität ein – Religion(en) und Spiritualität gehören eng zusammen und beziehen sich auf eine transzendente, metaphysische Dimension der Wirklichkeit. Für die meisten überschneiden sich diese Begriffe irgendwie. Einige betrachten Spiritualität als eine Unterform der Religiosität. Häufig gilt jedoch Spiritualität als der weitere Begriff und meint dann so etwas wie eine zentrale, Sinn stiftende Lebenseinstellung, die sich sowohl auf eine überweltliche (göttliche) Dimension als auch auf nichtmaterielle Dimensionen (wie Humanität, Familie, Freundschaft, Natur, Kunst, Arbeit, Selbstentfaltung), die die empirische Wirklichkeit nicht transzendieren müssen, beziehen kann.

Manche bemühen sich darum, Spiritualität und Religion/Religiosität deutlich voneinander abzugrenzen. Während Religion meist als System betrachtet bzw. an eine Glaubensgemeinschaft gebunden wird, gilt Religiosität als die subjektive Dimension von Religion. Spiritualität tritt neben die Religion und wird als Gegensatz oder Alternative zu religiösen Organisationsformen (vor allem Kirchen) gesehen. Spiritualität gilt als modern, offen, erfahrungsorientiert und authentisch – Religion hingegen als rückständig, einengend, formal und dogmatisch.

Im Rahmen von psychologischen Forschungen zur Lebensqualität umfasst der Begriff der Spiritualität schließlich schlicht personale Ressourcen, die das subjektive Wohlbefinden stärken, das als spirituelles Wohlbefinden bezeichnet wird (so bereits Moberg, 1971). Von diesem Standpunkt aus ist es eigentlich nur ein kleiner Schritt zum Ersatz des spirituellen Wohlbefindens durch das existenzielle Wohlbefinden, wenn die so genannten «religiösen Anteile» der Spiritualität als unwesentlich oder sogar kontraproduktiv erachtet werden (vgl. Edmondson et al., 2008).

Übrig bleiben Sinn, Wert und Würde. Im Grunde ein logisches Unterfangen, das sich in die Gleichung bringen lässt: Spiritualität minus Religion ergibt Existenz. Diese kritische Abgrenzung von Religion ist für die Begriffsdebatte hilfreich und klärend, weil sie aufzeigt, dass die Trennung von Spiritualität und Religion in eine Sackgasse führen muss. Spiritualität verdunstet, wenn sie sich nicht von anthropologischer Existenzialität unterscheidet.

Spiritualität: ein offener, aber schwammiger Begriff


Der Begriff Spiritualität bringt einerseits eine größere Offenheit als Religion mit sich und andererseits tendiert er zum Sammelbehälter für eine Fülle disparater Inhalte. Häufig wird bedauert, dass er so unklar und schwammig sei, manchen gilt seine Unschärfe aber auch als spezifische Stärke (so Roser, 2007: 50 und 2009: 53), weil der Begriff dadurch anschlussfähig werde an das weite Feld individuell verschiedener (religiöser und nichtreligiöser) Lebensentwürfe und die Unverfügbarkeit des Patienten verbürge. Die Begriffsoffenheit wird positiv auf die Personzentrierung im modernen Gesundheitswesen und die individuellen Ausprägungen selbstbestimmter Spiritualität bezogen. Das eigentliche Problem der terminologischen Unbestimmtheit besteht aber doch darin, dass Spiritualität teilweise so weit gefasst wird, dass darunter nur mehr eine vage Sinnsuche oder eine existenzielle Lebenseinstellung verstanden wird. Die Definitionen von Spiritualität klaffen jedenfalls so weit auseinander, dass die daraus resultierende Begriffsunschärfe zwar vielleicht der Vielfalt individueller Spiritualitätsentwürfe entsprechen mag, aber einem schlüssigen Konzept für Spiritual Care hinderlich ist.

Darüber hinaus drängt sich der Verdacht auf, dass die ganze mühsame Begriffsdiskussion letztlich pragmatischen – klinischen oder professionsbezogenen – Interessen dient (in diese Richtung denken auch Rumbold, 2002a: 19; Körtner, 2009: 5; Roser, 2009, 49). Die verschiedenen Definitionen von Spiritualität sind keineswegs «objektiv» im Sinne einer rein sachlichen Beschreibung, die unabhängig von den involvierten Subjekten zustande kommt. Sie geben vielmehr Auskunft über die weltanschauliche Position derer, die sich damit auseinandersetzen. Die jeweiligen Definitionen sind nicht nur Ausdruck von Erkenntnis, sondern privilegieren bestimmte Perspektiven, dienen bestimmten Interessen und begründen teilweise auch Kompetenzansprüche und professionelle Zuständigkeit. Es ist aufschlussreich, in den verschiedenen Spiritual-Care-Ansätzen nach Antworten auf die folgenden Fragen zu suchen:

  • Wozu dient die Verknüpfung bzw. die Trennung von Religion/Religiosität und Spiritualität?
  • Wem nützt sie?
  • Welche Erkenntnis ermöglicht sie?
  • Welche Praxis begründet sie?

Zunächst geht es jedoch darum, die Bedeutungsvielfalt von Spiritualität näher auszuloten.

Was ist Spiritualität?


Der Begriff Spiritualität umfasst verschiedene Bedeutungsebenen, die sich überschneiden. Aus religionswissenschaftlicher Perspektive bildet Spiritualität zunächst einen wesentlichen Teil der organisierten religiösen Traditionen. Das lateinische Wort spiritualis bezeichnete im christlich geprägten europäischen...

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