Die Sommer mit Lulu - Roman

Die Sommer mit Lulu - Roman

von: Peter Nichols

Klett-Cotta, 2016

ISBN: 9783608101140

Sprache: Deutsch

512 Seiten, Download: 2810 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Die Sommer mit Lulu - Roman



2 


»Dem Bericht des Gerichtsmediziners zufolge war es Tod durch Ertrinken«, sagte der Polizeikommissar und blätterte in den Unterlagen auf seinem Schreibtisch. Er war jung und schlank, hatte ein sicheres Auftreten und kurz geschorene, mit Gel stachelförmig nach oben frisierte schwarze Haare. Er sah aus wie ein Detektiv in einer Telenovela. »Die Lungen beider Personen waren mit Wasser gefüllt. Aber es waren auch äußerliche Verletzungen vorhanden, bei Señora Davenport hauptsächlich am Kopf, bei Señor Rutledge an den Knien … Und es gibt noch weitere Hautabschürfungen …« Er schaute hoch, auf die beiden Personen mittleren Alters, die ihm gegenüber am Schreibtisch saßen. »Es scheint jedoch nichts entwendet worden zu sein. Wir haben Señora Davenports Portemonnaie in ihrer Tasche gefunden und Geld in der Hosentasche von Señor Rutledge. Es wurde ihnen nichts gestohlen, also gehen wir nicht davon aus, dass es ein tätlicher Angriff beziehungsweise ein Diebstahl war. Die erwähnten Verletzungen stammen höchstwahrscheinlich von ihrem Sturz ins Wasser.«

Er sprach Spanisch. Luc Franklin, der Sohn der Davenport-Frau, und Aegina Rutledge, die Tochter des Rutledge-Mannes – beide ingleses, wie ja die Verstorbenen auch –, hatten ihm, als sie ihm vorgestellt wurden, in fließendem Spanisch geantwortet. Die Rutledge-Frau machte auf den Kommissar den Eindruck, als sei sie auch tatsächlich durch und durch spanisch. Dunkle Haare, dunkle Augen, olivenfarbener Teint, alt genug, um seine Mutter sein, aber immer noch eine sehr attraktive Frau – mit einem gewissen Schliff, den sie vermutlich der englischen Hälfte ihrer Abstammung verdankte. Der Mann, Franklin, sprach ebenfalls ziemlich gut Spanisch, auch wenn seine Aussprache nicht ganz so perfekt war wie die der Frau. Er sah wie ein ganz normaler, ergrauender inglés mittleren Alters aus. Keiner von ihnen ließ eine Gefühlsregung erkennen, während er vom Tod ihrer Eltern sprach und die Verletzungen in allen Einzelheiten schilderte, die man an den Leichen gefunden hatte. Aber der Kommissar ließ sich dadurch nicht täuschen. Es war ihm aufgefallen, dass sie sich kaum angeschaut hatten. Sie vermieden jeden Anflug von Wärme und Trost, alles, was vielleicht zu Tränenausbrüchen hätte führen können. Nicht einmal eine Umarmung oder ein Händedruck zwischen alten Freunden, keinerlei Anzeichen von Trauer, die der Situation angemessen gewesen wären und für die der Kommissar bewährte Worte des Trostes parat gehabt hätte.

Diese beiden Personen konnten sich nicht ausstehen.

Der Kommissar fuhr fort. »Es bleibt nur die eine Frage, nämlich, warum sie überhaupt gestürzt sind.«

»Meine Mutter hatte im Dezember einen Schlaganfall«, sagte Luc Franklin. »Vielleicht ist das ja wieder passiert, und Gerald – Señor Rutledge – hat versucht, ihr zu helfen.«

»Sie waren sehr alte Freunde«, sagte die Rutledge-Frau zur Bekräftigung dieser Theorie. »Wenn sie irgendwelche Schwierigkeiten hatte, dann hätte mein Vater sicher versucht ihr zu helfen, auch wenn es ihm selbst nicht besonders gut ging.«

»Claro«, sagte der Kommissar. »Das scheint mir die wahrscheinlichste Erklärung zu sein. Señora Davenport hatte hier eine Kopfverletzung«, er berührte seine Schläfe, »die höchstwahrscheinlich von ihrem Sturz auf die Felsen herrührte, der wiederum vielleicht, wie Sie sagen, von einem zweiten Schlaganfall verursacht wurde, oder«, er sah den Franklin-Mann an und sagte behutsam, »vielleicht ist sie auch einfach nur gestürzt. Sie war ja schon recht alt und trug eine schwere Tasche. So etwas passiert.«

»Schon möglich«, sagte Luc Franklin. Er machte einen seltsam desinteressierten Eindruck. Der Kommissar hatte so etwas schon öfter gesehen: Trauer, die sich in Distanziertheit ausdrückte. Die Toten waren nun tot. Wie es dazu gekommen war, schien nicht weiter wichtig.

Der Kommissar redete weiter, beschrieb eine Szene, die sich mehr oder weniger von selbst erklärte. »Ja. Und Señor Rutledge war da«, er sah zu der Tochter hinüber, während er versuchte, mit seinem Gesicht die selbstlose Güte zum Ausdruck zu bringen, die er ihrem Vater zuschrieb, »und wollte ihr helfen. Sie fielen, vielleicht zusammen, erst auf die Klippen, die die Straße säumen, und dann – sie sind nicht besonders breit, die Felsen dort, ich bin hingegangen und habe es mir angeschaut – sind sie hinunter ins Wasser gestürzt. Die Verletzungen stimmen mit einem derartigen Ablauf überein. Es sei denn, Sie hätten Grund zur Annahme, dass sie von jemandem angegriffen wurden –«

»Nein, nein, keineswegs«, sagte der Franklin-Mann, auf einmal ungeduldig.

»Ich bin mir sicher, dass es ein Unfall war«, sagte die Rutledge-Frau.

Der Kommissar nickte ernst. »Ein tragischer Unfall, bei solch alten Freunden.« Er stand auf. »Mein tief empfundenes Beileid.«

Sie fuhren zusammen im Aufzug hinunter zur Tiefgarage der Polizeidienststelle. Sie schwiegen. Schließlich sagte Aegina: »Luc, das mit deiner Mutter tut mir leid.«

»Und mir das mit deinem Vater«, sagte Luc und betrachtete ihr Spiegelbild auf der Oberfläche der Fahrstuhltüren aus gebürstetem Aluminium, genau in dem Augenblick, als sich die Türen öffneten und ihr Bild auslöschten.

Sie gingen in Richtung ihrer geparkten Autos.

»Luc.« Aegina blieb stehen. »Du glaubst doch nicht – ganz ehrlich –, dass sie sich in Wahrheit gestritten haben?«

»Aegina …« Er zuckte mit den Schultern. »Ich habe keine Ahnung.«

»Aber warum waren sie überhaupt zusammen? Sie haben sich seit … seit Algeciras nicht mehr gesehen.«

Als das Wort »Algeciras« fiel, wandte Luc den Blick ab und starrte in eine besonders trostlose Ecke der Tiefgarage. »Keine Ahnung.«

»Ich kann mir einfach nicht vorstellen, was er dort wollte, draußen, vor dem Hotel«, sagte Aegina. Aber während sie sprach, fielen ihr einige Vorkommnisse aus der Vergangenheit ein. Sie sah Luc an. »Wie fühlst du dich?«

»Wie betäubt«, sagte er. »So wie ich mich ihr gegenüber schon immer gefühlt habe.«

»Ich bin sicher, dass das nicht stimmt.«

»Ach, egal, was soll’s.« Er drehte sich wieder zu ihr. »Es tut mir wirklich leid mit deinem Vater. Ich mochte ihn.« Er machte kehrt und ging zu einem weißen Landrover. Lulus Auto. Als er auf den Funkschlüssel drückte, um die Türen zu öffnen, blinkten die Scheinwerfer des Autos kurz auf und es hupte einmal.

»Bleibst du länger hier?«, rief sie.

»Weiß nicht«, antwortete Luc und öffnete die Autotür. Er kletterte in den Wagen, schloss die Tür und ließ den Motor an. Aegina ging zur Seite, als der Landrover rückwärts aus der Parklücke fuhr. Dann sah sie zu, wie er in Richtung der Ausfahrt davonraste.

Aegina blickte sich in der farblosen Betonhöhle um und versuchte sich daran zu erinnern, was für ein Auto sie sich an diesem Morgen gemietet hatte. Sie war direkt vom Flughafen in Palma zu Pompas Fúnebres González gefahren, um die Leiche zu identifizieren, und von dort aus weiter zur Polizeistation.

Während sie den langen, nach wie vor ungeteerten Weg nach C’an Cabrer, dem Bauernhaus ihres Vaters, hinauffuhr, konnte Aegina nicht fassen, dass er nicht mehr dort sein würde. Jedes Mal war die Fahrt von Palma zum Haus mit der Erwartung, mit der Gewissheit verbunden gewesen, ihn am Ende zu sehen. Durch die Dörfer, oder mittlerweile meist auf irgendwelchen Umgehungstraßen um die Dörfer herum, an unzähligen neu gebauten kastenförmigen, kleinen Villen vorbei, bis sich endlich vor ihr das glitzernde Meer ausbreitete, dann nur noch den Hügel hinauf und zwischen den Olivenbäumen hindurch – jede Reise von London oder irgendeinem anderen Ort der Welt hierher war von dieser Erwartung erfüllt gewesen. Er war während ihres gesamten Lebens nur zweimal nach London gekommen. Ansonsten hatte sie ihn immer nur hier gesehen, an diesem einen Ort. Es hatte noch nie einen Moment gegeben, an dem sie im Haus war und ihr Vater nicht. Oder wenn, dann war er nur kurz unterwegs und würde jeden Augenblick zurückkommen. Diese Gewissheit war so beständig gewesen wie die Steine, aus denen das Haus gebaut war, oder wie das Land, das es umgab.

Hoch oben auf dem Hügel beschrieb die Auffahrt eine scharfe Kurve und führte an einer Reihe von Zitronenbäumen entlang zum alten Schweinestall – die Werkstatt ihres Vaters, die direkt neben dem Haus lag. Aegina hielt und stieg aus. Es war heiß, und die Luft war vom Summen der Zikaden erfüllt.

Sie stieg die Treppen an der Seite des Hauses hinauf, betrat die riesige Küche und blieb reglos stehen. In dem hölzernen Abtropfgestell über der...

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