Jedermann - Roman

Jedermann - Roman

von: Philip Roth

Carl Hanser Verlag München, 2015

ISBN: 9783446251298

Sprache: Deutsch

176 Seiten, Download: 3467 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Jedermann - Roman



Es fing erst an, als er fast fünfzig war. Junge Frauen gab es überall – Agentinnen von Fotografen, Sekretärinnen, Designerinnen, Models, Kundenbetreuerinnen. Jede Menge Frauen, und man arbeitete und reiste und aß miteinander, und das Erstaunliche war nicht, was geschah – ihre Aneignung durch den Mann »einer anderen« –, sondern daß es so lange dauerte, bis es geschah, selbst nachdem die Leidenschaft abgeflaut und aus seiner Ehe verschwunden war. Es begann mit einer hübschen dunkelhaarigen Neunzehnjährigen, die er als Sekretärin einstellte und die schon zwei Wochen nach Arbeitsantritt mit hochgerecktem Hintern in seinem Büro auf dem Fußboden kniete und sich von ihm in voller Montur, nur sein Hosenstall stand offen, vögeln ließ. Er hatte sie nicht dazu gezwungen, nur überrascht hatte er sie – andererseits hatte er, der sich bewußt war, daß er nichts Besonderes zu bieten hatte, und der glaubte, mit seinem an den üblichen Normen ausgerichteten Leben zufrieden zu sein und sich mehr oder weniger wie alle anderen zu verhalten, sich selbst ebenfalls überrascht. Da sie sehr feucht war, drang er mühelos ein, und unter diesen tollkühnen Umständen kamen sie beide im Handumdrehen zu einem heftigen Orgasmus. Eines Morgens, als sie gerade vom Boden aufgestanden und an ihren Schreibtisch im Vorzimmer zurückgekehrt war und er noch mit gerötetem Gesicht mitten im Zimmer stand und seine Kleidung in Ordnung brachte, öffnete Clarence, sein Chef, der Projektgruppenleiter und stellvertretende Generaldirektor, die Tür und trat ein. »Wo wohnt sie?« fragte Clarence. »Ich weiß es nicht«, antwortete er. »Tun Sie es in ihrer Wohnung«, sagte Clarence streng und ging. Aber sie konnten nicht aufhören, das, was sie taten, gerade an diesem Ort und gerade auf diese Weise zu tun, selbst wenn das eine dieser Bürotrapeznummern war, bei denen jeder Beteiligte alles zu verlieren hat. Sie waren einander tagtäglich viel zu nah, um damit aufzuhören. Beide konnten an gar nichts anderes mehr denken – nur daran: wie sie in seinem Büro auf die Knie ging, wie er ihr den Rock auf den Rücken warf, sie bei den Haaren packte, ihren Slip beiseite schob und mit aller Kraft und ohne Rücksicht auf jederzeit mögliche Entdeckung in sie eindrang.

Dann kam die Fotosession auf Grenada. Er war verantwortlich dafür, und er und der von ihm angeheuerte Fotograf wählten die Models aus, zehn junge Frauen für ein Werbefoto für Handtücher, das an einem Tümpel im Regenwald aufgenommen werden sollte; die Models sollten kurze Sommerkleidchen und einen aus dem Handtuch des Klienten gewundenen Turban tragen, als hätten sie sich gerade die Haare gewaschen. Alles war arrangiert, das Konzept war abgesegnet, und er saß abseits von allen anderen im Flugzeug, um ungestört lesen und schlafen zu können.

Bei einer Zwischenlandung in der Karibik stieg er aus, ging in die Wartehalle und sah sich um, sah die Models und begrüßte sie, bevor sie dann alle in ein kleineres Flugzeug stiegen und den Katzensprung zu ihrem Ziel hinter sich brachten, wo sie von mehreren Autos und einem kleinen jeepähnlichen Fahrzeug abgeholt wurden, in das er mit einem der Models stieg, das ihm schon bei der Einstellung aufgefallen war. Sie war die einzige Ausländerin der Gruppe, eine Dänin namens Merete und mit Vierundzwanzig wahrscheinlich die älteste der zehn; die anderen waren Amerikanerinnen, achtzehn und neunzehn Jahre alt. Jemand saß am Steuer, Merete in der Mitte und er ganz außen. Es war Nacht und stockdunkel. Sie saßen dicht aneinandergepreßt, und er hatte den Arm oben um ihre Sitzlehne gelegt. Kaum waren sie losgefahren, hatte er seinen Daumen in ihrem Mund, und ohne daß er es ahnte, war seine Ehe unter Beschuß geraten. Der junge Mann, der einst gehofft hatte, niemals zwei Leben zu leben, war drauf und dran, sich mit einem Hackbeil in zwei Stücke zu spalten.

Im Hotel ging er auf sein Zimmer und lag dort fast die ganze Nacht wach, weil er nur immer an Merete denken konnte. Als sie sich am nächsten Tag trafen, sagte sie zu ihm: »Ich habe auf dich gewartet.« Die ganze Sache ging so schnell, war so intensiv. Sie fotografierten den ganzen Tag an dem Tümpel im Dschungel, arbeiteten fleißig und ernsthaft von morgens bis abends, und als sie zurückkamen, erfuhr er, daß die mitgereiste Agentin des Fotografen ein Haus am Strand nur für ihn allein gemietet hatte – zum Dank dafür, daß er ihr zu einem guten Geschäft verholfen hatte; also zog er aus dem Hotel aus, nahm Merete mit, und sie verbrachten drei Tage zusammen. Wenn er morgens nach einem ausgiebigen Bad im Meer den Strand hinauf kam, erwartete sie ihn, nur mit einem Bikinihöschen bekleidet, auf der Veranda. Und ehe er sich auch nur abtrocknen konnte, legten sie los. An den ersten beiden Tagen fummelte er, während sie ihm einen blies, ständig an ihrem Hintern herum, bis sie schließlich aufblickte und sagte: »Wenn dir dieses kleine Loch so gut gefällt, warum benutzt du es nicht mal?«

Natürlich traf er sich auch noch in New York mit ihr. Jeden Tag, wenn sie Zeit hatte, ging er in der Mittagspause zu ihr nach Hause. Dann schlenderten eines Samstags er, Phoebe und Nancy die Third Avenue hinunter, und plötzlich sah er Merete mit ihrer lockeren, aufrechten, schlafwandlerischen Haltung, deren animalische Sicherheit ihn jedesmal um den Verstand brachte, auf der anderen Straßenseite entlanggehen, als ginge sie nicht mit einer Tüte Lebensmittel im Arm auf die Ampel an der Seventysecond Street zu, sondern zöge gelassen durch die Serengeti: Merete Jespersen aus Kopenhagen, die inmitten von tausend afrikanischen Antilopen das Gras der Savanne weidete. Models hatten in diesen Tagen nicht alle spindeldürr zu sein, und noch bevor er sie an ihrem gleitenden Gang erkannte und die Garbe goldenen Haars auf ihrem Rücken erblickte, erkannte er am Gewicht ihrer Brüste unter der Bluse und an ihrem schwingenden Hinterteil, dessen kleines Loch für sie beide zu einem solchen Freudenspender geworden war – sein höchsteigenes Kleinod, die Beute des weißen Jägers. Ihr Anblick löste bei ihm äußerlich weder Schrecken noch Erregung aus, doch innerlich fühlte er sich ganz krank und konnte den ganzen Rest des Nachmittags an nichts anderes mehr denken, als daß er sie unbedingt anrufen mußte. Hier ging es nicht um eine Sekretärin, die man im Büro auf dem Fußboden nahm. Hier ging es um den nackten Triumph ihrer Kreatürlichkeit über seinen Überlebensinstinkt, der selbst eine Macht war, mit der man zu rechnen hatte. Hier ging es um das gefährlichste Wagnis seines Lebens, das, wie ihm erst noch undeutlich dämmerte, alles andere auslöschen konnte. Nur flüchtig kam ihm der Gedanke, daß es sich um eine Wahnidee handeln könnte, wenn man als Fünfzigjähriger glaubte, es sei möglich, ein Loch zu finden, das alles andere ersetzen könnte.

Einige Monate später flog er nach Paris, um sich mit ihr zu treffen. Sie arbeitete seit sechs Monaten in Europa, und daß sie dreimal täglich heimlich miteinander telefonierten, hatte ihre Sehnsucht nicht stillen können. Eine Woche vor dem Samstag, an dem er und Phoebe nach New Hampshire fahren wollten, um Nancy aus dem Sommerferienlager nach Hause zu holen, erklärte er Phoebe, er müsse am Wochenende für eine Fotosession nach Paris. Donnerstag abend fliege er ab, Montag morgen sei er wieder zurück. Ezra Pollock, der Kundenbetreuer, werde ihn begleiten, und drüben würden die europäischen Kollegen sie beide in Empfang nehmen. Er wußte, Ez war an diesem ersten Septemberwochenende bis Montag mit seiner Familie auf einer winzigen Insel, ohne Telefon, ein paar Meilen vor South Freeport in Maine, so weit weg von allem, daß man auf der Felseninsel nebenan ganze Scharen von Robben beobachten konnte. Er gab Phoebe Namen und Telefonnummer des Pariser Hotels und grübelte dann täglich zehnmal darüber nach, ob er das Risiko, daß sie ihm auf die Schliche kam, wirklich auf sich nehmen sollte, bloß damit er und Merete ein Wochenende in der Welthauptstadt der Liebespaare verbringen konnten. Aber Phoebe schöpfte keinen Verdacht und schien sich darauf zu freuen, Nancy allein abzuholen. Den ganzen Sommer war sie weggewesen, und sie sehnte sich nach ihrem Zuhause, so wie er sich nach anderthalb Monaten der Trennung nach Merete sehnte, und als er am Donnerstag abend abflog, dachte er nur noch an dieses kleine Loch und alles, was sie ihn damit anstellen ließ. Ja, auf dem ganzen Atlantikflug mit Air France träumte er von nichts anderem.

Aber dann spielte das Wetter nicht mit. Starker Wind und heftige Gewitter fegten über Europa hin, und Sonntag und Montag wurden alle Flüge gestrichen. Merete, die mitgekommen war, um sich bis zum allerletzten Augenblick an ihn zu klammern, wartete die beiden Tage mit ihm im Flughafen, doch als feststand, daß die ersten Flüge von de Gaulle aus frühestens wieder am Dienstag starten konnten, fuhren sie mit dem Taxi zur Rue des Beaux Arts zurück, zu Meretes mondänem kleinen Lieblingshotel am linken Seineufer, wo ihr Zimmer, das mit Rauchglas verspiegelte Zimmer, noch zu haben war. Während jeder ihrer abendlichen Taxifahrten in Paris führten sie das gleiche schamlose Stückchen auf, und jedesmal so, als geschehe es unabsichtlich und zum erstenmal: er legte ihr eine Hand aufs Knie, und sie öffnete die Beine gerade so weit, daß er unter ihr Seidenkleidchen – im Grunde nicht mehr als ein Stück Luxuswäsche – fahren und sie befingern konnte; sie drehte dann den Kopf zum Fenster und betrachtete müßig die am Taxi vorbeiziehenden beleuchteten Schaufenster, während er sich lässig nach hinten lehnte und tat, als sei er kein bißchen fasziniert davon, wie sie, selbst wenn er spürte, daß sie bald kommen würde, immer noch so tun konnte, als fasse sie niemand an. Merete trieb alles Erotische an die äußerste Grenze....

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