Die Demütigung - Roman

Die Demütigung - Roman

von: Philip Roth

Carl Hanser Fachbuchverlag, 2015

ISBN: 9783446251373

Sprache: Deutsch

144 Seiten, Download: 3441 KB

 
Format:  EPUB

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Die Demütigung - Roman



Aufgelöst in Luft


Er hatte seinen Zauber verloren. Der Impuls war erloschen. Auf der Bühne hatte er nie versagt – alles, was er getan hatte, war stark und erfolgreich gewesen, doch dann war das Schreckliche geschehen: Er konnte nicht mehr spielen. Auf die Bühne zu treten wurde zur Qual. An die Stelle der Gewissheit, dass er wunderbar sein würde, trat das Wissen, dass er versagen würde. Es geschah dreimal hintereinander, und beim letzten Mal interessierte es niemanden mehr, es kam niemand mehr. Er erreichte das Publikum nicht. Sein Talent war tot.

Wenn man ein Talent hatte und es nicht mehr hat, bleibt einem selbst natürlich immer etwas anderes als allen anderen. Ich werde immer anders sein als alle anderen, sagte Axler sich, und zwar weil ich bin, wie ich bin. Das bleibt mir – an das wird man sich immer erinnern. Doch die Aura, die er gehabt hatte, all die Manierismen, die exzentrischen Verhaltensweisen und persönlichen Eigenheiten, alles, was bei Falstaff und Peer Gynt und Wanja so gut funktioniert und Simon Axler den Ruf eingetragen hatte, der letzte der großen klassischen amerikanischen Bühnenschauspieler zu sein, funktionierte jetzt bei keiner Rolle mehr. All das, was ihn ausgemacht hatte, ließ ihn nun auf der Bühne wie einen Verrückten aussehen. Auf der Bühne war er in jedem Augenblick auf denkbar schlimmste Weise befangen. Früher hatte er, wenn er gespielt hatte, an gar nichts gedacht. Alles, was er gut gemacht hatte, war seiner Intuition entsprungen. Jetzt dachte er über alles nach, und alles Vitale, Spontane wurde abgetötet: Er versuchte, es bewusst zu steuern, und dadurch zerstörte er es. Na gut, sagte Axler sich, er steckte in einer schlechten Phase. Er war zwar bereits über sechzig, aber vielleicht würde es vorübergehen, solange er noch erkennbar er selbst war. Er war nicht der erste erfahrene Schauspieler, dem derlei widerfuhr. Es gab viele, denen es ebenso erging. Das ist für mich nichts Neues, dachte er, ich werde schon einen Weg finden. Ich weiß zwar noch nicht, wie ich es dieses Mal schaffen werde, aber ich werde schon etwas finden. Es wird vorübergehen.

Es ging nicht vorüber. Er konnte nicht mehr spielen. Die Präsenz, die er früher gehabt hatte! Jetzt graute ihm vor jeder Vorstellung, es graute ihm von morgens bis abends. Er verbrachte den ganzen Tag mit Gedanken, die er sein Leben lang nie vor einer Vorstellung gedacht hatte: Ich werde es nicht schaffen, ich werde es nicht können, ich spiele die falschen Rollen, ich habe mich übernommen, ich wirke unecht, ich habe nicht die leiseste Ahnung, wie ich auch nur den ersten Satz sprechen soll. Und dabei versuchte er, die Stunden mit hundert scheinbar nötigen Vorbereitungen zu füllen: Ich muss mir diese Passage noch einmal ansehen, ich muss mich ausruhen, ich muss üben, ich muss mir jene Passage noch einmal ansehen – und wenn er dann im Theater eintraf, war er erschöpft. Und ihm graute davor, auf die Bühne zu treten. Sein Auftritt rückte immer näher, und er wusste, dass er es nicht schaffen würde. Er wartete darauf, dass die Freiheit begann und der Augenblick Wirklichkeit wurde, er wartete darauf, dass er vergaß, wer er war, und der Mensch wurde, der dies alles tat, doch statt dessen stand er nur da, vollkommen leer, und spielte, wie man spielt, wenn man nicht weiß, was man tut. Er konnte nicht geben und nicht zurückhalten, er war weder schwungvoll noch konzentriert. Das Schauspielern wurde zum allabendlichen Versuch, sein völliges Unvermögen zu vertuschen.

Alles hatte damit begonnen, dass man mit ihm gesprochen hatte. Schon mit drei, vier Jahren war er davon fasziniert gewesen, dass er mit anderen sprach und andere mit ihm sprachen. Er hatte von Anfang an das Gefühl gehabt, in einem Theaterstück zu sein. Wo schlechtere Schauspieler auf billige Effekte zurückgriffen, verstand er Intensität durch Zuhören und Konzentration zu erzeugen. Auch abseits der Bühne hatte er diese Gabe besessen, besonders in jüngeren Jahren und in Gesellschaft von Frauen, die gar nicht wussten, dass sie eine Geschichte hatten, bis er ihnen zeigte, dass sie nicht nur eine Geschichte, sondern auch eine Stimme und einen unverkennbaren Stil besaßen. Bei Axler wurden sie zu Schauspielerinnen, zu Heldinnen ihres eigenen Lebens. Nur wenige Bühnenschauspieler konnten sprechen und zuhören wie er, und doch war er zu keinem von beiden mehr imstande. Es war, als würde der Klang, der ihm sonst immer ins Ohr gegangen war, nun zum Ohr hinausgehen, und jedes Wort, das er sagte, erschien ihm nicht gesprochen, sondern gespielt. Der Urgrund seines Spiels war immer in dem gewesen, was er gehört hatte – seine Antwort auf das Gehörte war der Kern gewesen, und wenn er nicht mehr zuhören, nicht mehr hören konnte, verlor er den Boden unter den Füßen.

Man bot ihm den Prospero und den Macbeth im Kennedy Center an – es war schwer, sich ehrgeizigere Gegensätze vorzustellen –, und er scheiterte schrecklich in beiden Rollen, besonders aber als Macbeth. Er konnte keinen sanften Shakespeare, und er konnte keinen harten Shakespeare, und dabei hatte er sein Leben lang Shakespeare gespielt. Sein Macbeth war lächerlich, und jeder, der ihn gesehen hatte, sagte das auch – ebenso wie viele, die ihn nicht gesehen hatten. »Jetzt brauchen sie nicht mal mehr dagewesen zu sein, um einen zu beleidigen«, sagte er. Viele seiner Kollegen hätten zur Flasche gegriffen; es gab die alte Anekdote von dem Schauspieler, der immer trank, bevor er auf die Bühne ging, und als man ihm sagte, das dürfe er nicht, erwiderte: »Was? Ich soll ganz allein da rausgehen?« Doch Axler trank nicht, er brach zusammen. Sein Zusammenbruch war kolossal.

Das Schlimmste war, dass er seinen Zusammenbruch ebenso durchschaute wie sein Spiel. Der Schmerz war furchtbar, und doch bezweifelte er seine Echtheit, was das Ganze nur um so schlimmer machte. Er wusste nicht, wie er durch den Tag kommen sollte, sein Geist fühlte sich an, als zerschmelze er, er hatte Angst, allein zu sein, fand nachts nur noch zwei, drei Stunden Schlaf, aß beinahe nichts mehr und dachte täglich daran, sich auf dem Speicher mit dem Gewehr umzubringen – einer Remington-870-Repetierflinte, die er in seinem abgelegenen Farmhaus zur Selbstverteidigung angeschafft hatte –, und doch schien das alles nur gespielt, schlecht gespielt. Wenn man jemanden spielt, der zusammenbricht, so ist diese Rolle geordnet und strukturiert, aber wenn man sich selbst beim Zusammenbrechen zusieht, wenn man die Rolle des eigenen Niedergangs spielt, dann ist es anders, dann ist es erfüllt von Angst und Entsetzen.

Er konnte sich ebensowenig davon überzeugen, verrückt zu sein, wie er sich selbst oder irgend jemand sonst davon überzeugen konnte, Prospero oder Macbeth zu sein. Auch als Verrückter war er künstlich. Die einzige Rolle, die er spielen konnte, war die eines Mannes, der eine Rolle spielte. Eines Gesunden, der einen Verrückten spielte. Eines gefestigten Mannes, der einen gebrochenen Mann spielte. Eines selbstbeherrschten Mannes, der einen unbeherrschten Mann spielte. Eines Mannes, der bedeutende Leistungen und Ruhm in der Theaterwelt vorzuweisen hatte – eines breitschultrigen, kräftigen, einen Meter dreiundneunzig großen Schauspielers mit einem großen, kahlen Kopf und dem starken, behaarten Körper eines Schlägers, mit einem Gesicht, das so vieles auszudrücken vermochte, einem entschlossenen Kinn, strengen dunklen Augen und einem breiten Mund, den er vielsagend verziehen konnte, mit einer von tief in der Brust aufsteigenden leisen und befehlsgewohnten Stimme, in der immer ein leichtes Knurren war, eines bewusst in großem Maßstab gehaltenen Mannes, der wirkte, als könne er es mit allem aufnehmen und sämtliche Männerrollen mit Leichtigkeit ausfüllen, als wäre er die Verkörperung unüberwindlichen Widerstandes und hätte den Egoismus eines verlässlichen Riesen in sich aufgesogen –, und dieser Mann spielte die Rolle eines unbedeutenden Niemands. Er schrie laut auf, wenn er mitten in der Nacht erwachte und feststellte, dass er noch immer in der Rolle des Mannes gefangen war, der seiner selbst, seines Talents, seines Platzes in der Welt beraubt war, eines abstoßenden Mannes, der bloß aus der Summe seiner Defekte bestand. Morgens versteckte er sich stundenlang im Bett, doch anstatt sich vor der Rolle zu verstecken, spielte er sie. Und wenn er dann schließlich aufstand, konnte er nur an Selbstmord denken und nicht an dessen Simulation. Ein Mann, der leben wollte, spielte einen Mann, der sterben wollte.

Inzwischen ließen Prosperos berühmteste Worte ihm keine Ruhe, vielleicht weil er sie kürzlich so falsch gesprochen und gespielt hatte. Sie wiederholten sich so regelmäßig in seinem Kopf, dass sie bald zu einem bloßen Geräusch wurden, quälend sinnentleert, auf keine Realität verweisend und doch erfüllt von der Kraft eines mit großer persönlicher Bedeutung aufgeladenen Fluchs. »Das Fest ist jetzt zu Ende; unsre Spieler,/Wie ich Euch sagte, waren Geister, und/Sind aufgelöst in Luft, in dünne Luft.« Er schaffte es nicht, die Worte »dünne Luft« auszublenden, diese drei Silben, die sich, während er morgens hilflos im Bett lag, willkürlich wiederholten und die Aura eines obskuren Urteils besaßen, auch wenn sie immer mehr an Sinn verloren. Seine gesamte komplizierte Persönlichkeit war ganz und gar der Gnade der »dünnen Luft« ausgeliefert.

Axlers Frau Victoria konnte sich nicht mehr um ihn kümmern, sie brauchte inzwischen selbst Pflege. Wenn sie ihn am Küchentisch sitzen sah, den Kopf in die Hände gestützt und nicht imstande, die Mahlzeit, die sie zubereitet hatte, zu essen, brach sie in Tränen aus. »Probier doch wenigstens mal«, bat sie ihn, doch er aß nichts und sagte nichts, und bald geriet Victoria in Panik. Sie hatte ihn noch nie so angeschlagen gesehen,...

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