Mein Leben als Sohn - Eine wahre Geschichte

Mein Leben als Sohn - Eine wahre Geschichte

von: Philip Roth

Carl Hanser Verlag München, 2015

ISBN: 9783446251304

Sprache: Deutsch

216 Seiten, Download: 3526 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

geeignet für: geeignet für alle DRM-fähigen eReader geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones Online-Lesen


 

eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Mein Leben als Sohn - Eine wahre Geschichte



1
Nun, was hältst du davon?


Als mein Vater sechsundachtzig Jahre alt wurde, hatte er auf dem rechten Auge die Sehkraft fast völlig eingebüßt; doch er erfreute sich für einen Mann seines Alters einer phänomenalen Gesundheit, als er auf einmal Beschwerden entwickelte, die der Arzt in Florida fälschlich als Facialisparese diagnostizierte, eine Virusinfektion, die eine normalerweise vorübergehende Lähmung einer Gesichtshälfte verursacht.

Die Lähmung trat ganz unvermittelt auf, und zwar nachdem er am Vortag von New Jersey nach West Palm Beach geflogen war, wo er die Wintermonate in einer gemeinsam gemieteten Wohnung mit Lilian Beloff verbringen wollte, einer siebzigjährigen pensionierten Buchhalterin, die in Elizabeth das Apartment über ihm bewohnte und mit der er ein Jahr nach dem Tod meiner Mutter im Jahre 1981 eine Beziehung eingegangen war. Am Flughafen von West Palm hatte er sich so fit gefühlt, daß er nicht einmal einen Gepäckträger bemüht (dem er, nebenbei bemerkt, ein Trinkgeld hätte geben müssen) und seine eigenen Koffer ganz allein von der Gepäckausgabe bis hinaus zum Taxistand getragen hatte. Am nächsten Morgen sah er dann im Badezimmerspiegel, daß eine Hälfte seines Gesichts nicht mehr die seine war. Was am Vortage seine eigenen Züge gewesen waren, hatte jetzt mit niemandem mehr Ähnlichkeit – das untere Lid des rechten Auges war herabgesackt, so daß das Innere des Lids zu sehen war, die Wange hing auf dieser Seite schlaff und leblos herunter, als hätte sich der Knochen darunter vom Fleisch gelöst, und die Lippen waren nicht mehr gerade, sondern zogen sich diagonal über das Gesicht herab.

Mit der Hand schob er die rechte Wange zurück an die Stelle, wo sie sich am Vorabend befunden hatte, hielt sie dort fest und zählte bis zehn. Das tat er mehrere Male an jenem Morgen – und jeden folgenden Tag doch wenn er losließ, blieb sie nicht oben. Er versuchte, sich einzureden, er habe falsch im Bett gelegen, seine Haut sei einfach vom Schlaf gefurcht, doch in Wirklichkeit glaubte er, er habe einen Schlaganfall erlitten. Anfang der vierziger Jahre hatte ein Schlaganfall seinen Vater zum Krüppel gemacht, und als er selbst ein alter Mann geworden war, sagte er mehrmals zu mir: »Ich will nicht so sterben wie er. Ich will nicht so daliegen. Das ist meine schlimmste Befürchtung.« Er erzählte, wie er frühmorgens auf dem Weg zum Büro in der Innenstadt und abends auf dem Heimweg seinen Vater im Krankenhaus besucht hatte. Zweimal am Tag zündete er eine Zigarette an und steckte sie seinem Vater in den Mund, und des Abends saß er neben dem Bett und las ihm aus der jiddischen Zeitung vor. Unbeweglich und hilflos und nur mit seinen Zigaretten als Trost siechte Sender Roth fast ein Jahr lang dahin, und bis ihm eines späten Abends im Jahre 1942 ein zweiter Schlaganfall den Rest gab, saß mein Vater zweimal täglich bei ihm und sah zu, wie er starb.

Der Arzt, der meinem Vater sagte, daß er Facialisparese habe, versicherte ihm, daß die Gesichtslähmung in kurzer Zeit weitgehend verschwinden würde, wenn nicht sogar ganz. Das wurde ihm während der auf die Prognose folgenden Tage von drei verschiedenen Menschen bestätigt, die in seinem Flügel der riesigen Eigentumswohnanlage wohnten, dieselben Beschwerden gehabt hatten und genesen waren. Einer von ihnen hatte sich fast vier Monate gedulden müssen, doch schließlich war die Lähmung auf ebenso geheimnisvolle Weise verschwunden, wie sie gekommen war.

Die seine verschwand nicht.

Bald schon konnte er auf seinem rechten Ohr nichts mehr hören. Der Arzt in Florida untersuchte das Ohr und maß den Gehörverlust, sagte aber, das habe nichts mit der Facialisparese zu tun. Es sei schlicht eine Alterserscheinung – er habe wahrscheinlich das Gehör des rechten Ohres ebenso allmählich verloren wie die Sehkraft des rechten Auges, es aber erst jetzt bemerkt. Als mein Vater fragte, wie lange er nach Meinung des Arztes noch warten müsse, bis die Facialisparese verschwinde, sagte der Doktor diesmal, daß sie in Fällen, die so lange dauerten wie der seine, manchmal nie wieder verschwinde. Wissen Sie, Sie sollten sich klarmachen, wie gut Sie dran sind, sagte der Arzt; abgesehen von einem blinden Auge, einem tauben Ohr und einem halbgelähmten Gesicht sei er so gesund wie ein zwanzig Jahre jüngerer Mann.

Wenn ich sonntags anrief, hörte ich, daß seine Sprechweise infolge des herabhängenden Mundes verschwommen und er deshalb schlecht zu verstehen war – er klang manchmal wie jemand, der gerade aus dem Zahnarztsessel kam und bei dem die Betäubung noch nicht nachgelassen hatte; als ich nach Florida flog, um ihn zu besuchen, sah er zu meiner Bestürzung so aus, als könne er überhaupt nicht sprechen.

»Nun«, sagte er in der Halle meines Hotels, wo ich mich mit Lil und ihm zum Abendessen verabredet hatte, »was hältst du davon?« Das waren seine ersten Worte, noch während ich mich herabbeugte, um ihm einen Kuß zu geben. Er saß neben Lil zusammengesunken auf einem kleinen, stoffbezogenen Sofa, doch sein Gesicht war direkt zu mir emporgerichtet, so daß ich sehen konnte, was geschehen war. Während des vergangenen Jahres hatte er hin und wieder eine schwarze Klappe über seinem blinden Auge getragen, um es vor Reizung durch Licht und Wind zu schützen, und durch diese Augenklappe, die Wange, den Mund und die Tatsache, daß er stark abgenommen hatte, wirkte er auf mich grauenhaft verändert – in den fünf Wochen, seitdem ich ihn das letzte Mal gesehen hatte – zu einem hinfälligen alten Mann. Es war schwer zu glauben, daß er noch vor etwa sechs Jahren, im Winter nach dem Tod meiner Mutter, als er bei seinem alten Freund Bill Weber in Bal Harbour wohnte, keinerlei Schwierigkeiten gehabt hatte, die wohlhabenden Witwen im selben Gebäude – die sofort angefangen hatten, voller Interesse den geselligen, gerade verwitweten Mann in dem neuen Kreppleinenjackett und der pastellfarbenen Hose zu umschwärmen davon zu überzeugen, daß er gerade erst die Siebzig erreicht habe, obwohl wir uns doch alle im Sommer zuvor in meinem Haus in Connecticut versammelt hatten, um seinen achtzigsten Geburtstag zu begehen.

Beim Abendessen im Hotel begann ich zu verstehen, was für eine Behinderung die Facialisparese war, von der Entstellung ganz abgesehen. Er konnte nur noch trinken, wenn er einen Strohhalm benutzte; sonst rann ihm die Flüssigkeit aus dem gelähmten Mundwinkel. Und das Essen war eine Mühe von Biß zu Biß, belastet von Frustration und Peinlichkeit. Nachdem er seine Krawatte mit Suppe bekleckert hatte, ließ er es sich widerstrebend gefallen, daß Lil ihm eine Serviette um den Hals band – es gab schon eine Serviette auf seinem Schoß, die mehr oder weniger die Hose schützte. Gelegentlich reichte Lil mit ihrer eigenen Serviette hinüber und entfernte zu seiner Verärgerung ein Stück Speise, das ihm aus dem Mund gerutscht war und am Kinn klebte, ohne daß er es merkte. Einige Male erinnerte sie ihn daran, er solle weniger auf die Gabel nehmen und bei jedem Bissen versuchen, etwas weniger als gewohnt zum Mund zu führen. »Ach ja«, murmelte er und starrte unglücklich auf seinen Teller, »ach ja, natürlich«, und nach zwei oder drei Bissen vergaß er es schon wieder. Weil das Essen zu einer deprimierenden Qual geworden war, hatte er soviel abgenommen und sah so erbärmlich unterernährt aus.

Alles wurde zusätzlich dadurch erschwert, daß sich während der letzten Monate der graue Star in seinen beiden Augen verstärkt hatte, so daß selbst auf seinem guten Auge die Sicht verschwamm. Seit einigen Jahren hatte mein New Yorker Augenarzt, David Krohn, die Entwicklung des grauen Stars bei meinem Vater verfolgt und sich um sein abnehmendes Sehvermögen gekümmert, und als mein Vater im März von seinem unglücklichen Aufenthalt in Florida nach New Jersey zurückkehrte, fuhr er nach New York, um David zu bedrängen, er möge ihm den grauen Star aus dem guten Auge entfernen; da es nicht in seiner Macht stand, etwas wegen der Facialisparese zu unternehmen, war er besonders darauf erpicht, daß man etwas tat, um sein Sehvermögen wiederherzustellen. Doch nachdem mein Vater ihn konsultiert hatte, rief David mich am späten Nachmittag an, um zu sagen, er operiere das Auge nur ungern, ehe nicht durch weitere Tests die Ursache der Gesichtslähmung und des Gehörverlustes ermittelt worden sei. Er sei nicht so ganz überzeugt, daß es sich um Facialisparese handle.

Und damit hatte er recht. Harold Wasserman, der Arzt meines Vaters in New Jersey, hatte dafür gesorgt, daß die Kernspintomographie, die David verordnet hatte, an Ort und Stelle gemacht wurde, und als Harold den Laborbericht erhielt, rief er mich am frühen Abend desselben Tages an, um mir die Ergebnisse mitzuteilen. Mein Vater habe einen Hirntumor, »einen massiven Tumor«, wie Harold sich ausdrückte; zwar könne man anhand der Aufnahmen der Kernspintomographie nicht zwischen einem gutartigen und einem malignen Tumor unterscheiden, sagte Harold. »Doch so oder so, an solchen Tumoren stirbt man.« Der nächste Schritt sei die Konsultation eines Neurochirurgen, um die Art des Tumors exakt zu bestimmen und festzustellen, was sich unternehmen ließe, falls überhaupt. »Optimistisch bin ich nicht«, sagte Harold, »und das sollten Sie auch nicht sein.«

Es gelang mir, meinen Vater zum Neurochirurgen zu bringen, ohne ihm zu sagen, was die Kernspintomographie schon gezeigt hatte. Ich log und sagte, die Tests hätten nichts erbracht, doch da David besonders vorsichtig sei, wolle er eine letzte weitere Diagnose abwarten, ehe er sich an die Entfernung des grauen Stars mache. Inzwischen richtete ich es so ein, daß die Aufnahmen der Kernspintomographie zum Essex House Hotel in New York geschickt wurden. Claire Bloom und ich lebten dort vorübergehend,...

Kategorien

Service

Info/Kontakt