Exit Ghost - Roman

Exit Ghost - Roman

von: Philip Roth

Carl Hanser Verlag München, 2015

ISBN: 9783446251328

Sprache: Deutsch

304 Seiten, Download: 3555 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Exit Ghost - Roman



2 Gebannt


AUF DEM WEG VON MEINEM HOTEL zur West 71st Street ging ich in ein Spirituosengeschäft und kaufte zwei Flaschen Wein für meine Gastgeber, dann setzte ich meinen Weg fort, um mir das Ergebnis dieses Wahlkampfs anzusehen, von dem ich, zum erstenmal seit 1940, als Willkie von Roosevelt geschlagen worden war und ich begonnen hatte, Wahlkämpfe zu verfolgen, so gut wie nichts wusste.

Ich war mein Leben lang ein eifriger Wähler gewesen, der den Republikanern niemals eine Stimme gegeben hatte. Als Student hatte ich für Stevenson geworben, und meine jugendlichen Erwartungen hatten schwere Rückschläge erlitten, als Eisenhower ihn 52 und 56 vernichtend geschlagen hatte; und ich hatte meinen Augen nicht trauen wollen, als ich sah, dass ein so durch und durch pathologischer, offensichtlich betrügerischer und bösartiger Mensch wie Nixon 1968 Humphrey besiegte und dass in den achtziger Jahren ein von sich selbst eingenommener Holzkopf von unübertrefflicher Hohlheit, dessen abgedroschene Phrasen und absolute Blindheit für alle komplexen historischen Zusammenhänge zum Gegenstand nationaler Verehrung wurden, als »großer Kommunikator« gefeiert wurde und bei beiden Wahlen Erdrutschsiege einfuhr. Und gab es je einen Wahlkampf wie den von Gore gegen Bush, der auf so niederträchtige Weise entschieden wurde, auf eine Art, die perfekt geeignet war, die letzten verschämten Reste der Naivität gesetzestreuer Bürger zu beseitigen? Ich hatte mich kaum je aus parteipolitischen Kämpfen herausgehalten, doch nachdem ich beinahe ein Dreivierteljahrhundert lang von amerikanischer Politik in Bann geschlagen worden war, hatte ich nun beschlossen, mich nicht mehr alle vier Jahre von den Gefühlen eines Kindes überwältigen zu lassen – von den Gefühlen eines Kindes und dem Schmerz eines Erwachsenen. Jedenfalls nicht, solange ich mich in meinem Häuschen vergraben konnte, wo es mir gelang, in Amerika zu sein, ohne mich von Amerika vereinnahmen zu lassen. Ich schrieb Bücher und befasste mich noch einmal, ein letztes Mal, mit den ersten großen Schriftstellern, die ich gelesen hatte – der ganze Rest, der einst so wichtig gewesen war, hatte seine Bedeutung vollkommen verloren, und ich hatte gut die Hälfte, wenn nicht sogar mehr, der politischen Werte und Ziele, die mein Leben bestimmt hatten, über Bord geworfen. Nach dem 11. September hatte ich all den Widersprüchen den Rücken gekehrt. Denn sonst, hatte ich mir gesagt, wirst du der typische verrückte Leserbriefschreiber, der Dorfnörgler, an dem sich das Syndrom in seiner ganzen Lächerlichkeit manifestiert: Du wirst beim Lesen der Zeitung schäumen und wüten, du wirst dich, wenn du abends mit Freunden telefonierst, lautstark über das bösartige Profitdenken ereifern, für das der authentische Patriotismus der verwundeten Nation von einem schwachköpfigen König ausgenutzt werden wird – und das in einer Republik: ein König in einem freien Land, trotz all der Slogans von Freiheit, mit denen amerikanische Kinder aufwachsen. Die gnadenlose Verachtung, die einen gewissenhaften Bürger in der Zeit von George W. Bushs Präsidentschaft auszeichnete, war nichts für jemanden, der ein starkes Interesse daran entwickelt hatte, als einigermaßen gelassener Mensch zu überleben – und so begann ich, den beständigen Wunsch, etwas herauszufinden, nach und nach abzutöten. Ich kündigte Zeitschriftenabonnements, hörte auf, die Times zu lesen, und kaufte nicht einmal mehr hin und wieder eine Ausgabe des Boston Globe, wenn ich hinunter zum Lebensmittelgeschäft fuhr. Die einzige Zeitung, die ich regelmäßig las, war der Berkshire Eagle, eine lokale Wochenzeitung. Im Fernsehen sah ich mir nur Baseballspiele an, im Radio hörte ich lediglich Musik, und damit hatte es sich.

Zu meiner Überraschung brauchte ich bloß einige Wochen, um mit der eingefleischten Gewohnheit zu brechen, die den größten Teil meines nicht auf das Schreiben gerichteten Denkens geprägt hatte, und mich ganz und gar wohl dabei zu fühlen, dass ich nicht wusste, was in der Welt geschah. Ich hatte mein Land aus meinen Gedanken ausgeschlossen und war meinerseits von allen erotischen Kontakten mit Frauen ausgeschlossen – infolge einer Kriegsneurose verloren für die Welt der Liebe. Ich hatte einen Verweis erteilt. Ich hatte mein Leben und meine Zeit hinter mir gelassen. Oder konzentrierte mich vielleicht nur auf das Wesentliche. Mein Häuschen hätte ebensogut auf hoher See dahintreiben können, anstatt in vierhundert Meter Höhe an einem Feldweg in Massachusetts zu stehen, eine dreistündige Autofahrt westlich von Boston und etwa ebensoweit nördlich von New York.

Als ich eintraf, war der Fernseher eingeschaltet, und Billy versicherte mir, die Wahl sei gelaufen – er stehe in Kontakt mit einem Freund im Hauptquartier der Demokratischen Partei, und deren Umfragen zeigten, dass Kerry all die Bundesstaaten gewonnen habe, die er brauche. Billy nahm dankend den Wein entgegen und sagte, Jamie sei ausgegangen, um etwas zu essen zu kaufen, und werde gleich wieder zurück sein. Wieder war er überschwenglich liebenswürdig und verströmte eine joviale Sanftheit, als läge Autorität ihm noch fern, als würde sie ihm vielleicht immer fernliegen. Ist er ein Relikt, dachte ich, oder gibt es sie noch immer, diese jüdischen Jungen aus der Mittelschicht, durchdrungen von der familientypischen Empathie, die einen, trotz der unvergleichlichen Befriedigung, die sie durch ihre Geborgenheit vermittelt, den Bosheiten seitens weniger freundlicher Menschen schutzlos ausliefert? Besonders im literarischen Milieu von Manhattan hätte ich etwas anderes erwartet als diese von Sanftheit erfüllten braunen Augen und die vollen, engelsgleichen Wangen, die ihn zwar nicht wie einen behüteten kleinen Jungen, aber doch wie einen großzügigen jungen Mann wirken ließen, gänzlich außerstande, zu verletzen oder verächtlich zu lachen oder auch nur die kleinste Verantwortung abzulehnen. Ich nahm an, dass Jamie jemand war, dem die nette Selbstlosigkeit dieses Mannes, dessen Worte und Gesten ausnahmslos von seinem Anstand kündeten, nicht annähernd gewachsen war. Die vertrauensvolle Unschuld, die Milde, das mitfühlende Verständnis – was für eine Einladung an einen Schurken, der es darauf anlegte, die Frau zu verführen, deren Untreue für diesen Mann unvorstellbar war.

Das Telefon läutete, als Billy im Begriff war, eine der Weinflaschen zu öffnen, und er reichte sie mir, damit ich sie entkorkte, während er zum Hörer griff und fragte: »Was gibt’s Neues?« Nach einer Sekunde sah er mich an und sagte: »New Hampshire ist sicher.« Und dann, an den Freund am anderen Ende der Leitung gerichtet: »Und Washington, D.C.?« Wieder zu mir: »In D.C. steht’s acht zu eins für Kerry. Das ist die Entscheidung – die Schwarzen sind massenhaft zur Wahl gegangen. Okay, sehr gut«, sagte Billy in den Hörer und wandte sich, nachdem er aufgelegt hatte, strahlend mir zu. »Wir leben also doch in einer liberalen Demokratie.« Und damit wir auf die zunehmende freudige Erregung anstoßen konnten, schenkte er zwei große Gläser Wein ein. »Diese Kerle hätten das Land zugrunde gerichtet«, sagte er, »wenn sie ein zweites Mal gewonnen hätten. Wir hatten ja schon schlechte Präsidenten und haben’s überlebt, aber der hier schlägt alles. Ernsthafte kognitive Defizite. Dogmatisch. Ein unglaublich beschränkter Dummkopf, der im Begriff war, etwas sehr Großes zu zerstören. In Macbeth gibt es eine Zeile, die ihn perfekt beschreibt. Wir lesen uns laut vor, Jamie und ich. Im Augenblick die Tragödien. Die Stelle ist im dritten Akt, in der Szene mit Hekate und den Hexen. ›Ein verkehrter Sohn‹, sagt Hekate, ›trotzig und voll Übermut.‹ Das ist George Bush in sieben Worten. Es ist alles so ekelhaft. Wenn Sie für Ihre Kinder und für Gott sind, müssen Sie die Republikaner wählen – dabei sind diejenigen, die am meisten verarscht werden, genau diejenigen, die ihn unterstützen. Es ist schon erstaunlich, dass diese Leute es bei der letzten Wahl geschafft haben. Und entsetzlich, sich auszumalen, was sie in einer zweiten Amtszeit gemacht hätten. Das sind schreckliche, böse Menschen. Aber ihre Arroganz und ihre Lügen haben sie schließlich doch zu Fall gebracht.«

Mir gingen eigene Gedanken durch den Kopf, und ich ließ ihn noch ein paar Minuten lang zusehen, während die ersten Ergebnisse eintrafen, bevor ich ihn fragte: »Wie haben Sie und Jamie sich eigentlich kennengelernt?«

»Wie durch ein Wunder.«

»Sie haben zusammen studiert.«

Er lächelte überaus freundlich, während er doch, angesichts meiner Gedanken, besser daran getan hätte, den Dolch zu zücken, der Duncans Schicksal besiegelte. »Das macht das Wunder nicht kleiner«, sagte er.

Ich erkannte, dass ich mich nicht aus Angst vor Entdeckung zu zügeln brauchte. Offenbar vermochte Billy sich nicht einmal ansatzweise vorzustellen, dass ein Mann meines Alters ihn nach seiner jungen Frau fragte, weil er an nichts anderes mehr denken konnte. Mein Alter führte ihn in die Irre, und meine Berühmtheit ebenfalls. Wie könnte er einem Schriftsteller, dessen Werke er in der Highschool gelesen hatte, so überaus niedrige Beweggründe unterstellen? Es war, als säße ihm Henry Wadsworth Longfellow gegenüber. Wie konnte der Verfasser von »Das Lied von Hiawatha« ein unzüchtiges Interesse an Jamie haben?

Vorsichtshalber galt meine nächste Frage seiner Person.

»Erzählen Sie mir von Ihrer Familie«, sagte ich.

»Tja, ich bin der einzige in meiner Familie, der liest, aber das heißt nichts; es sind gute Menschen. Seit inzwischen vier Generationen in Philadelphia. Mein Urgroßvater hat das Familienunternehmen gegründet. Er stammte aus Odessa und hieß Sam. Seine...

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