Der menschliche Makel - Roman

Der menschliche Makel - Roman

von: Philip Roth

Carl Hanser Verlag München, 2015

ISBN: 9783446251229

Sprache: Deutsch

400 Seiten, Download: 3737 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Der menschliche Makel - Roman



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Als Coleman am nächsten Tag nach Athena fuhr, um sich zu erkundigen, was er dagegen unternehmen könne, um Farley ein für allemal daran zu hindern, sein Grundstück zu betreten, gab ihm sein Rechtsanwalt Nelson Primus einen Rat, den er nicht hören wollte: er solle in Erwägung ziehen, sein Verhältnis mit Faunia zu beenden. Coleman hatte Primus erstmals zu Beginn der Affäre um die dunklen Gestalten konsultiert, und da Primus ihn fundiert beraten hatte – und weil der junge Anwalt nicht nur eine gewisse vorwitzige Unverblümtheit an den Tag legte, die ihn an sich selbst in Primus’ Alter erinnerte, sondern auch keine Anstalten machte, seine Abneigung gegen Sentimentalitäten, die nichts zur Sache taten, hinter der kumpelhaften Lockerheit zu verbergen, die die anderen Rechtsanwälte des Städtchens kennzeichnete –, war er auch mit Delphine Roux’ Brief zu ihm gegangen.

Primus war Anfang Dreißig, verheiratet mit einer jungen Philosophieprofessorin, die Coleman vier Jahre zuvor eingestellt hatte, und Vater zweier kleiner Kinder. In einer neuenglischen Universitätsstadt wie Athena, wo fast alle Selbständigen ihrer Arbeit in geschmackvoll rustikaler Kleidung nachgingen, betrat dieser geschmeidig gutaussehende junge Mann mit den rabenschwarzen Haaren, groß, schlank, athletisch, seine Kanzlei jeden Morgen in eleganten Maßanzügen, auf Hochglanz polierten schwarzen Schuhen und gestärkten weißen Hemden mit diskret eingesticktem Monogramm, einer Aufmachung, die nicht nur ein starkes Selbstbewußtsein und ein Gefühl persönlicher Bedeutung verriet, sondern auch einen Widerwillen gegen jede Art von Nachlässigkeit, und außerdem darauf schließen ließ, daß Nelson Primus mehr wollte als eine Kanzlei über Talbots Geschäft gegenüber der Grünanlage. Seine Frau war hier Professorin, also arbeitete er hier. Aber nicht für lange. Ein junger Panther mit Manschettenknöpfen und Nadelstreifen – ein Panther auf dem Sprung.

»Ich habe keinen Zweifel daran, daß Farley ein Psychopath ist«, sagte Primus. Er sprach die Worte mit stakkatohafter Präzision und ließ Coleman dabei nicht aus den Augen. »Wenn er um mich herumschleichen würde, wäre ich ernstlich besorgt. Aber ist er um Sie herumgeschlichen, bevor Sie ein Verhältnis mit seiner Exfrau angefangen haben? Damals wußte er nicht mal, daß Sie existierten. Der Brief von dieser Roux ist etwas ganz anderes. Sie wollten, daß ich ihr einen Brief schreibe – wider bessere Einsicht habe ich das getan. Sie wollten einen Schriftexperten konsultieren – wider bessere Einsicht habe ich Ihnen einen vermittelt. Sie wollten, daß ich das Gutachten dieses Experten an ihren Anwalt schicke – wider bessere Einsicht habe ich es ihm zugeschickt. Obwohl ich mir wünschte, Sie hätten die Größe, ein läppisches Ärgernis als das zu behandeln, was es ist, habe ich alles getan, was Sie mir aufgetragen haben. Aber Lester Farley ist kein läppisches Ärgernis. Delphine Roux kann ihm nicht das Wasser reichen, weder als Psychopathin noch als Gegnerin. Farley ist die Welt, die Faunia nur mit knap-per Not überlebt hat und die sie zwangsläufig mitbringt, wenn sie durch Ihre Tür tritt. Lester Farley arbeitet beim Straßenbau, stimmt’s? Wenn wir eine einstweilige Verfügung gegen ihn beantragen, wird sehr bald Ihr ganzes friedliches Provinzstädtchen Ihr Geheimnis kennen. Und wenig später wird dieses Städtchen Ihr Geheimnis kennen, und dann das College – und Ihre jetzige Situation ist nichts im Vergleich zu dem bösartigen Puritanismus, der Ihnen entgegenschlägt, wenn man Sie teert und federt. Ich weiß noch, mit welcher Präzision das hiesige wöchentliche Käseblatt den lachhaften Vorwurf gegen Sie und die Beweggründe für Ihren Rücktritt mißverstanden hat. ›Rassismusvorwurf zwingt Exdekan zum Rücktritt‹. Ich erinnere mich auch an die Bildunterschrift: ›Eine herabsetzende Bemerkung im Seminar beendet Professor Silks akademische Karriere.‹ Ich weiß noch, wie es damals für Sie war, ich glaube zu wissen, wie es jetzt für Sie ist, und ich kann mir ziemlich genau vorstellen, wie es für Sie sein wird, wenn der ganze Landkreis über die sexuellen Eskapaden des Mannes informiert ist, den ein Rassismusvorwurf zum Rücktritt gezwungen hat. Ich will damit nicht sagen, daß das, was sich hinter Ihrer Schlafzimmertür abspielt, irgend jemanden außer Ihnen etwas angeht. Ich weiß, daß es nicht so sein sollte. Immerhin leben wir im Jahr 1998. Es ist schon eine Weile her, seit Janis Joplin und Norman O. Brown die Dinge zum Besseren verändert haben. Aber wir haben hier in den Berkshires Leute – Hinterwäldler oder Collegeprofessoren –, die sich einfach weigern, ihre Wertvorstellungen zu revidieren und der sexuellen Revolution freundlich freie Bahn zu gewähren. Es gibt engstirnige Kirchgänger, Schicklichkeitsfanatiker und alle möglichen rückständigen Spießer, die nur darauf warten, einen Mann wie Sie bloßzustellen und zu bestrafen. Die können Sie ins Schwitzen bringen, Coleman – allerdings auf andere Art als Ihr Viagra.«

Schlauer Junge – so ganz aus eigenen Überlegungen heraus auf Viagra zu kommen. Ein bißchen selbstgefällig, aber bis jetzt war er sehr hilfreich, dachte Coleman, also unterbrich ihn nicht, verpaß ihm keinen Dämpfer, ganz gleich, wie irritierend er darauf hinweist, was für ein kluger Kopf er ist. Gibt es keine Lücke des Mitleids in seinem Panzer? Soll mir recht sein. Du hast ihn um Rat gefragt, also hör ihn dir auch an. Du willst doch keinen Fehler machen, nur weil du dich nicht hast warnen lassen.

»Ich kann natürlich eine einstweilige Verfügung bekommen«, fuhr Primus fort. »Aber wird ihn das von irgend etwas abhal-ten? Eine einstweilige Verfügung wird ihn erst richtig in Rage bringen. Ich hab Ihnen einen Schriftexperten verschafft, und ich kann Ihnen auch eine einstweilige Verfügung und eine kugelsichere Weste verschaffen. Was ich Ihnen nicht verschaffen kann, ist etwas, was Sie nie haben werden, solange Sie ein Verhältnis mit dieser Frau haben: ein Leben ohne Skandal, ohne Mißbilligung, ohne Farley. Den Frieden, der daher rührt, daß niemand um Ihr Haus schleicht. Oder sich über Sie lustig macht. Oder abfällige Bemerkungen macht. Oder Sie verurteilt. Ist sie übrigens HIV-negativ? Haben Sie sie einen Test machen lassen, Coleman? Benutzen Sie Kondome, Coleman?«

Er hält sich für hip, aber im Grunde kann er es nicht fassen, daß dieser alte Mann ein Sexualleben hat. Das findet er ausgesprochen abnorm. Aber wer kann mit Zweiunddreißig schon verstehen, daß es mit Einundsiebzig ganz genauso ist? Er denkt: Wie und warum macht er das eigentlich? Meine Altmänner-Männlichkeit und der Ärger, den sie bereitet. Mit Zweiunddreißig, dachte Coleman, hätte ich das ebenfalls nicht verstanden. Darüber, wie es zugeht in der Welt, spricht er allerdings mit der Autorität eines zehn oder zwanzig Jahre älteren Mannes. Und wie viele Erfahrungen kann er gemacht haben, wie viele Schwierigkeiten des Lebens hat er gemeistert, daß er zu einem Mann, der mehr als doppelt so alt ist wie er, so herablassend spricht? Sehr, sehr wenige, wenn nicht keine.

»Und wenn Sie nichts benutzen, Coleman«, sagte Primus, »benutzt sie dann was? Und wenn sie sagt, daß sie es tut, können Sie dann sicher sein, daß sie es tut? Selbst vom Leben gebeutelte Putzfrauen nehmen es von Zeit zu Zeit mit der Wahrheit nicht so genau und versuchen manchmal sogar einen Ausgleich für all die Scheiße zu kriegen, die sie durchgemacht haben. Was passiert, wenn Faunia Farley schwanger wird? Vielleicht denkt sie, was viele Frauen denken, seit Jim Morrison und die Doors dafür gesorgt haben, daß die Zeugung eines Bastards nichts Schändliches mehr ist. Es könnte doch sein, daß Faunia nur zu gern die Mutter des Kindes eines berühmten Professors wäre, auch wenn Sie immer wieder geduldig darauf hinweisen, daß es nicht so ist. Die Mutter des Kindes eines berühmten Professors zu sein könnte eine willkommene Abwechslung darstellen, nachdem sie bis jetzt die Mutter der Kinder eines verrückten Totalversagers war. Und wenn sie erst mal schwanger ist und beschließt, keine niederen Arbeiten mehr tun zu wollen, ja überhaupt nicht mehr arbeiten zu wollen, wird ein verständnisvoller Richter nicht zögern, Sie zu Unterhaltszahlungen für das Kind und die alleinerziehende Mutter zu verurteilen. Ich kann Sie im Vaterschaftsprozeß vertreten und werde dann mein möglichstes tun, um die Zahlungen auf die Hälfte Ihrer Pension zu begrenzen. Ich werde tun, was ich kann, um dafür zu sorgen, daß auf Ihrem Bankkonto noch ein bißchen Geld liegt, wenn Sie sich den Achtzig nähern. Hören Sie auf mich, Coleman: Das ist ein schlechtes Geschäft. Und zwar in jeder nur denkbaren Hinsicht. Wenn Sie zu einem Lebenslustberater gehen, wird er Ihnen was anderes sagen, aber ich bin Ihr Rechtsberater, und ich sage Ihnen, es ist ein verdammt schlechtes Geschäft. Ich an Ihrer Stelle würde mich nicht Lester Farleys wildem Haß in den Weg stellen. Ich an Ihrer Stelle würde den Faunia-Vertrag zerreißen und zusehen, daß ich verschwinde.«

Nachdem er alles gesagt hatte, was es für ihn zu sagen gab, stand Primus von seinem Schreibtisch auf, einem großen, sorgfältig polierten Schreibtisch, der gewissenhaft von allen Papieren und Unterlagen freigehalten wurde und bis auf die gerahmten Fotos von Primus’ junger Frau, der Professorin, und seiner zwei Kinder betont leer war, einem Schreibtisch, dessen Oberfläche die sprichwörtliche Tabula rasa versinnbildlichte und in Colemans Augen keinen anderen Schluß zuließ als den, daß diesem redegewandten jungen Mann nichts Ungeordnetes im Weg stand, weder Charakterschwächen noch extreme Ansichten oder übereilte Begierden, ja nicht einmal die Möglichkeit...

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