Die neuen alten Frauen - Das Alter gestalten - Erfahrungen teilen - Sichtbar werden

Die neuen alten Frauen - Das Alter gestalten - Erfahrungen teilen - Sichtbar werden

von: Marie-Louise Ries, Kathrin Arioli

Limmat Verlag, 2015

ISBN: 9783038550242

Sprache: Deutsch

144 Seiten, Download: 1075 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Die neuen alten Frauen - Das Alter gestalten - Erfahrungen teilen - Sichtbar werden



Vom grauen zum bunten Vogel. Kompetenzen einbringen in die Gesellschaft


Dorothee Brunner, Annelies Saffran und Barbara Scheffer im Gespräch mit Usch Vollenwyder


Es war auf dem Heimweg von der ersten Zukunftskonferenz der «GrossmütterRevolution» im März 2010 im Kiental im Berner Oberland, wo über fünfzig Frauen in der zweiten Lebenshälfte gemeinsam zwei Tage lang über ihre Rolle in der Gesellschaft, ihre Anliegen und ihre Ideen diskutiert hatten. Angeregt von den vielen Begegnungen und Diskussionen, gingen die Gespräche auch im Zug nach Hause noch weiter. Man erzählte sich Begebenheiten aus dem eigenen Leben, tauschte Erfahrungen aus und realisierte, wieviel Potenzial in den verschiedenen Lebensgeschichten steckte. Das sollte sich für die eigene Zukunft und für die Gesellschaft nutzen lassen.

Einige der Frauen trafen sich wieder und formierten sich als Gruppe, die sich dem Projekt «Neue Frauen-Alterskultur konkret» anschloss. Verbindliche Arbeitsvereinbarungen wurden ­getroffen und Ziele formuliert. Zusammen wollte man sich auf einen Erzähl- und Reflektionsprozess über seine Lebens­ge­schich­te einlassen. In der eigenen Biografie sollten Schwerpunkte und Stärken erkannt und herausgearbeitet werden. In einem weiteren Schritt ging die Gruppe der Frage nach, wie sie diese Fähigkeiten für sich selber, ihr soziales Umfeld und im öffentlichen Raum nutzen konnten. Es war der Anfang der Stammgruppe «Kompetenzen einbringen in die Gesellschaft».

Unter dem Titel «Vom grauen zum bunten Vogel», symbolisiert durch ein Bild des leuchtend farbigen Vogels «Livesaver» von Niki de Saint-Phalle, präsentierten vier Frauen um die Initiantin Barbara Scheffer an einer Projekttagung zwei Jahre später das Ergebnis dieses gemeinsamen Prozesses. Der bunte Vogel sollte die Vielfalt von Kompetenzen zeigen, welche Frauen mit Lebenserfahrung der Gesellschaft zugutekommen lassen. Der Vogel steht dabei mit ausgebreiteten Flügeln fest auf dem Boden: Er ist sicher verankert und gleichzeitig bereit abzuheben – ein Sinnbild für Stärke und Kreativität von älteren Frauen.

Noch einmal zwei Jahre später halten drei Frauen aus dieser Gruppe Rückschau. Im Gespräch mit der Journalistin Usch Vollenwyder erzählen Barbara Scheffer (70), Annelies Saffran (66) und Dorothee Brunner (70), wie sie zu diesem Projekt gefunden und was sie daraus gewonnen haben. Sie erinnern sich an ihre Aufgaben und die Vorgehensweisen während der gemeinsamen Arbeit und sind dankbar für die persönliche Bereicherung, die sie dadurch erfahren haben. Schliesslich zeigen sie die Ergebnisse auf, die sie während dieses Prozesses erarbeitet haben.

Barbara Scheffer: In unseren Gesprächen wollten wir nicht einfach Fakten und Daten aus unserem Leben aufzählen. Vielmehr wollten wir die Geschichten dahinter erkunden. Deshalb schrieben wir unsere wichtigsten Lebensabschnitte auf und dachten schreibend darüber nach. Dann schickten wir einander die Texte per Mail zu. Wir setzten uns intensiv damit auseinander, fragten nach und gaben Feedbacks. In regelmässigen Abständen trafen wir uns zu weiteren Diskussionen – jeweils im privaten Rahmen. Damit machten wir auch äusserlich deutlich, dass wir unsere beruflichen Rollen abgelegt hatten und sich niemand mehr als Berufsfrau einbringen musste.

Annelies Saffran: Für mich war es spannend zu erleben, wie sich aus dem einfachen Erzählen und Aufschreiben heraus Fragen ergaben: Woher kommen wir? Was hat uns geprägt in unserer Kindheit, während der Ausbildung, im Beruf, während der Familienphase? Es war nicht immer einfach, solchen Fragen nachzugehen und löste zeitweise auch Widerstände aus. Da galt es Blockaden zu überwinden, genau hinzuschauen, ehrlich und schonungslos mit sich selber zu sein. Vieles tat weh. Aber es lohnte sich: In diese Phase unserer gemeinsamen Arbeit fiel die Trennung von meinem Mann – nach 33 Jahren. Ich stand vor einem Scherbenhaufen. Beim Schreiben und bei unseren Gesprächen realisierte ich jedoch, dass ich nicht etwa ohne Boden dastand. Im Gegenteil: Ich hatte schon viele schwierige Situationen gemeistert. Diese Erkenntnis gab mir in dieser für mich unglaublich dramatischen und komplizierten Zeit Kraft und Zuversicht.

Dorothee Brunner: Für mich war es schwierig, beim Reflektieren und Schreiben konsequent bei mir selber zu bleiben. Ich war oft versucht, bestimmten Vorstellungen nachzuhängen, statt ehrlich über mich selber und mein Leben nachzudenken.

Annelies Saffran: Ganz wichtig waren unsere gegenseitigen Rückmeldungen. Ich bekam so viel Wertschätzung zu hören, dass ich oft dachte: Wow, das stimmt, darauf kann ich stolz sein, diese Phase habe ich gut bewältigt! Eine solch wertschätzende Haltung versuche ich seither auch in meinem privaten Umfeld auszustrahlen. Wenn mir jemand von einer schwierigen Situation erzählt, hake ich nach und lenke den Blick auf das, was gelungen ist. Das gibt dem Gegenüber Selbstvertrauen und Mut.

Dorothee Brunner Wir sind ja drei sehr unterschiedliche Frauen. Jede Biografie ist anders. Wir lernten, trotz unterschiedlicher Lebenserfahrungen respektvoll und eben wertschätzend aufeinander zuzugehen. Es war für mich befreiend zu spüren: Ich werde geschätzt, so wie ich bin, mit der Wahl, die ich für mein Leben getroffen habe. Ich bin frei, meinen eigenen, für mich richtigen Weg zu gehen – auch in der Kirche, auch in der Partei.

Barbara Scheffer: Wertschätzung zeigt sich bereits am Interesse und an der Anteilnahme am Leben anderer. Diese Neugierde haben wir einander signalisiert: Wer bist du? Wie hast du das gemacht? Wie hast du diese Herausforderung gemeistert, jenes Problem bewältigt? Gemeinsam kam die Erkenntnis: Wir haben zwar auch Fehler gemacht, aber alles in allem sind wir vorwärts gekommen. Schwierige Situationen waren schmerzhaft, doch sie haben uns letztlich weitergebracht. Darauf können wir auch für die Zukunft bauen: Wir werden Neues erleben – Schönes und Schwieriges – und werden uns weiter entwickeln! Uns ist bewusst, dass nur wir selber für uns und unser Glück verantwortlich sind. Diese Verantwortung können und wollen wir nicht abschieben.

Annelies Saffran: In der eigenen Lebensgeschichte liess sich ein roter Faden entdecken, dem wir auch die nächsten Jahre entlang gehen werden. Bei mir ist es mein grosses Interesse an ­anderen Menschen. Daraus hat sich mein Menschenbild ent­wickelt: Auf andere zugehen, ihnen mit einer positiven Grundhaltung begegnen und sie dann grundsätzlich annehmen, so wie sie sind. Vielleicht ergibt sich eine Begegnung, eine Beziehung daraus, kürzer oder länger …

Barbara Scheffer: Mein roter Faden – ich habe ihn erst beim freien Erzählen realisiert – ist mein umfassendes interkulturelles Interesse. Von klein auf war ich umgeben von unterschiedlichen Menschen – auf einem Bauernhof in Hessen, wo in der Nachkriegszeit verschiedene Familien zwangseinquartiert waren und auf engstem Raum zusammenleben mussten. Unsere Familie lebte in einem Zimmer, mein Vater hatte als Landarzt zwei Praxisräume, die Toilette war auf der Etage – ein Privileg! Was für meine Mutter der gefürchtete soziale Abstieg war, bedeutete für mich spannendes Abenteuer. Ich entdeckte den ganzen Reichtum verschiedener Kulturen. Ich lernte verschiedene Dialekte, andere Essgewohnheiten, unterschiedliche Lebenswege, fremde Denkweisen kennen. Dieses Interesse ist in mir bis heute lebendig!

Dorothee Brunner: Mein roter Faden ist unser Familienhalt. Ich war eine urtypische Frau – mit Mann und Kindern, einer kleinen Familie. Ich arbeitete im Haushalt, unterstützte meinen Mann und war zufrieden. Mein eigenes Leben habe ich erst viel später in die eigenen Hände genommen. Heute habe ich vier Enkelkinder. Die Familie ist mir durch alle Höhen und Tiefen eine Quelle der Freude und Zufriedenheit geblieben.

Barbara Scheffer: Noch etwas: Wir haben den gleichen Humor. Wir haben ernsthaft diskutiert und gearbeitet und trotzdem viel gelacht. Das hat vielen Ereignissen in unserem Leben auch ein bisschen von ihrer Schwere genommen.

Im weiteren Gespräch haben Barbara Scheffer, Annelies Saffran und Dorothee Brunner den Phasen in ihrem Leben nachgespürt, welche für sie besonders prägend waren. Sie sprachen von Dreh- und Angelpunkten, die sie auf einen anderen Weg brachten; von Zufällen, die ihrem Leben eine neue Wende gaben. Sie erzählten von Türen, die sich öffneten und von anderen, die sich schlossen. Sie erinnerten sich an schöne und schwierige Momente in ihrer Biografie, die so wichtig waren, dass sie sie bis heute nicht vergessen haben. Prägend erlebten sie aber auch ihr familiäres Umfeld und den gesellschaftlichen Kontext, in welchem sie jung waren.

Annelies Saffran: Meine ersten sechs prägenden Jahre verbrachte ich in Südfrankreich – in einem liebevollen, warmherzigen Umfeld. Das war ein Glück. Durch die Geschäftstätigkeit meines Vaters kam ich mit Menschen aus ganz Europa zusammen. Zurück in der Schweiz, fiel ich als Kind geschiedener Eltern und mit meiner Sprache mit dem französischen Akzent auf. Lebenswelten prallten aufeinander. Zum ersten Mal wurde ich mit Vorurteilen konfrontiert. Ich litt unter autoritären Lehrern und einer rigiden religiösen Erziehung. Das änderte sich erst 1968, als ich ein halbes Jahr in Kalifornien lebte: Lustvolle Auseinandersetzungen und Gespräche in einem multikulturellen Umfeld aktivierten in mir brachliegende Fähigkeiten. Ich begann, mich aktiv in gesellschaftspolitische Fragen einzumischen und Position zu beziehen.

Dorothee Brunner: Die 68er-Jahre gingen völlig an mir vorbei. Die Jugendunruhen nahm ich als kriegerischen Ausnahmezustand wahr. Ich lebte in einer anderen Welt, in...

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