Demenz - Der person-zentrierte Ansatz im Umgang mit verwirrten Menschen

Demenz - Der person-zentrierte Ansatz im Umgang mit verwirrten Menschen

von: Tom Kitwood

Hogrefe AG, 2013

ISBN: 9783456753058

Sprache: Deutsch

336 Seiten, Download: 2635 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Demenz - Der person-zentrierte Ansatz im Umgang mit verwirrten Menschen



[18][19]1. Einleitung

In der Welt der Natur gibt es manche Fluten, die dramatisch steigen: Die See ist ein Aufruhr gigantischer Wellen, die Klippen erzittern, und Schaum fliegt hoch empor. Andere Fluten steigen still, über Kilometer von Schlamm und Sand leise vorankriechend, und verursachen keine erkennbare Störung. Obwohl ihr Vordringen kaum wahrgenommen wird, sind sie nichtsdestoweniger mächtig und nachhaltig. So ist es auch mit den Fluten, die den Verlauf der Menschheitsgeschichte verändern.

Die steigende Flut von Demenz ist von der letztgenannten, stillen Art.1 Seit vielen Jahren steigt die Prävalenz nun schon langsam, aber stetig an und wird dies wahrscheinlich auch in Zukunft noch viele Jahre tun. Demenz ist primär ein Merkmal der industrialisierten Gesellschaften, wo das Bevölkerungsprofil während der vergangenen 100 Jahre immensen Veränderungen unterworfen war, in deren Verlauf der Anteil an Menschen höherer Altersgruppen erheblich zunahm. Viele Regionen der Welt, die früher «unentwickelt» waren, durchlaufen zur Zeit eine ähnliche demographische Verschiebung und werden zum gegebenen Zeitpunkt wahrscheinlich einer der unsrigen sehr ähnlichen Situation gegenüberstehen. Das Problem ist von enormer Tragweite. Allein in Großbritannien gehen die meisten Schätzungen davon aus, dass die Anzahl der Betroffenen zwischen 500 000 und 1 Million liegt. Unter Umständen erweist sich die Demenz als das bedeutsamste epidemiologische Merkmal des beginnenden 21. Jahrhunderts. Ihre Präsenz wird tiefgreifende und anhaltende Auswirkungen auf das gesamte Gefüge unseres[20] politischen, ökonomischen und sozialen Lebens haben – zum Guten oder zum Schlechten.

Wie müssen wir Demenz verstehen und damit eine passende Antwort darauf finden? Heutzutage wird sie überwiegend als «organisch bedingte psychische Erkrankung» hingestellt, und ein medizinisches Modell, das ich als Standardparadigma bezeichnen werde, hat sich als vorherrschend erwiesen. Nach den großen neuropathologischen Untersuchungen der sechziger Jahre schien es, als sei der Nachweis einer Organizität derart überwältigend, dass es einer «technischen» Herangehensweise an das Problem bedurfte, und zwar im Wesentlichen, um die pathologischen Prozesse zu erhellen und dann Wege zu finden, um sie zum Stillstand zu bringen oder zu verhindern. Die Psychiatrie tendierte von da an zu einem eher enggefassten Umgang mit Demenz, bei dem oft die größeren menschlichen Themen ignoriert wurden, und andere mit der Medizin verbundene Disziplinen schlossen sich dem an.

Wie wir sehen werden, gibt es eine Menge Probleme mit dem Standardparadigma. Unser heutiges Bild des Nervensystems ist weitaus komplexer als das, welches jenem Paradigma zugrunde gelegt wurde. Vor allem gilt das Gehirn heute als ein Organ, das zu einer kontinuierlichen strukturellen Adaptation in der Lage ist; seine Schaltkreise sind nicht statisch, wie in einem Computer, sondern dynamisch und verändern sich langsam entsprechend den Anforderungen der Umgebung. Auch aus der Pflegepraxis ergeben sich Hinweise, die eine Herausforderung für das Standardparadigma bilden: Es ist heute klar, dass die früheren, extrem negativen und deterministischen Ansichten über den Prozess der Demenz nicht richtig waren. Natürlich lässt sich ein Paradigma über nahezu unbegrenzte Zeit hinweg «retten», etwa durch subtile Neudefinitionen, dadurch, daß gewisse Fakten vernachlässigt und andere hervorgehoben werden oder gar durch schlichtes Unterdrücken widersprechender Ansichten. Die Wissenschaftsgeschichte scheint indessen zu zeigen, daß sich in dem Moment, wo die Ungereimtheiten allzu offensichtlich aufscheinen, jemand findet, der die Probleme auf andere Weise darzustellen versucht: Die Zeit für ein neues Paradigma ist gekommen.

Das Hauptziel dieses Buches besteht demnach darin, die Herausforderung anzunehmen und ein Paradigma vorzustellen, in dem die Person[21] an erster Stelle steht. Es bietet ein reicheres Spektrum an Fakten und Belegen, als das medizinische Modell, und löst einige von dessen gravierendsten Ungereimtheiten. Außerdem bietet es die logische Grundlage für einen Pflegeansatz, bei dem viel mehr auf menschliche als auf medizinische Lösungen geachtet wird. Viele Menschen haben intuitiv ihren eigenen Weg zu solch einem Ansatz gefunden, und langsam entsteht eine neue Demenzpflegekultur.

Mein eigener erster Kontakt mit Demenz fand im Jahre 1975 statt. Durch Zufall war meine Frau im örtlichen Supermarkt einer gebrechlichen alten Dame um die 70 begegnet und hatte ihr bei der Auswahl eines Schmerzmittels geholfen. Es stellte sich heraus, dass sie nur 2 Kilometer entfernt wohnte, und an jenem Tag brachte meine Frau sie nach Hause. Nach und nach wurde Frau E., wie wir sie allmählich nannten, zu einer Freundin. Wir wussten, dass sie sich hin und wieder einsam und traurig fühlte, aber sie war eine ausgezeichnete Gesellschafterin, sehr gastfreundlich und liebte Kinder. Mit der Zeit fanden wir ein wenig über ihr Leben heraus. Sie war seit über 10 Jahren verwitwet und lebte allein. Ihr Haus, das der Gemeinde gehörte, hatte einst einen Blick über Felder und Ackerland gehabt, heute stand da eine große Wohnanlage, die für ihr rauhes soziales Klima berüchtigt war. Während ihrer Ehe und noch einige Zeit danach hatte sie als Schneiderin gearbeitet, und in einem Raum ihres Hauses stand noch immer die Nähmaschine. Sie war kinderlos, und ihre nächste Verwandte war eine Nichte, die rund 150 Kilometer entfernt wohnte. Frau E. war katholisch und früher eine regelmäßige Kirchgängerin gewesen. Inzwischen besuchte sie den Gottesdienst seltener, aber der Priester kam regelmäßig zu Besuch bei ihr vorbei. Gelegentlich hatten wir den Eindruck, sie könnte vielleicht nicht genug zu Essen bekommen, jedoch geschähe dies dann eher aus Nachlässigkeit oder Vergesslichkeit, als aus Gründen der Armut. Manchmal boten wir ihr ein informelles «Essen-auf-Rädern», indem wir ihr eine Portion der für unsere Familie zubereiteten Mahlzeit vorbeibrachten.

Das letzte Mal, das ich mit Frau E. als der Person zusammen war, die ich kennengelernt hatte, war der Ostersonntag 1979. Sie kam zum Mittagessen zu uns, und anschließend wuschen wir ab. Es war ein klarer, kalter Tag, und die Osterglocken leuchteten im Wind, wir waren beide guter Laune und sangen. Eines der Lieder, das sie selbst aussuchte,[22] stammte von den «Seekers», und sein Refrain lautete: «Der Karneval ist vorbei, und wir werden uns nie wiedersehen.»

Dieses Lied erwies sich als tragische Vorahnung, denn ein paar Monate später befand sich Frau E. in einer Einrichtung, um nie wiederzukehren. Erst später fand ich nach und nach heraus, was geschehen war. Scheinbar war sie in ihrem eigenen Zuhause unsicher geworden und wenigstens einmal ins Feuer gefallen. Außerdem hatte man sie dabei beobachtet, wie sie nachts durch die Straßen wanderte. Mitglieder ihrer Kirchengemeinde hatten zu helfen versucht, aber ein Sozialarbeiter war hinzugezogen worden, und man hatte Kontakt zu Frau E.’s Nichte aufgenommen. Eines Tages kamen die Nichte und ihr Mann bei «Tantchen» vorbei, um sie zu besuchen, wie sie es oft getan hatten. Sie sagten, sie würden sie auf eine Spazierfahrt mitnehmen, aber diesmal endete der Ausflug in der örtlichen Psychiatrie, wo sie zur Begutachtung aufgenommen wurde. Nach kurzem Klinikaufenthalt wurde Frau E. in eine Einrichtung des Sozialdienstes (Social Services Home) eingewiesen. Es war ein riesiges Gebäude aus geschwärztem Stein, das an einem öden Hang in Bradford lag. Als ich sie besuchte, war ich entsetzt über die Veränderung, und sie schien mich überhaupt nicht zu erkennen. Ich blieb nicht lang. Ich dachte, es hätte keinen Zweck, wo sie doch jetzt so offensichtlich «senil» geworden war. Zu meiner Schande war dies mein einziger Besuch, nachdem sie von Zuhause weggebracht worden war. Frau E. starb ein paar Monate darauf. Ich war überrascht, wie viele Menschen zu ihrer Beerdigung kamen.

Zu der Zeit, als Frau E. zu meinen Bekannten zählte, arbeitete ich als Psychologe an der Universität, versagte jedoch gänzlich darin, mein berufliches Wissen zu ihren Gunsten anzuwenden. Ich nahm einfach die Vorstellung als gegeben hin, dass manche Menschen eben «senil» werden und dann außer der Befriedigung körperlicher Grundbedürfnisse nicht mehr das Geringste für sie getan werden könne. Es kam mir nicht einmal in den Sinn, meine Vorstellungskraft auf den Versuch eines Verständnisses dessen zu verwenden, was Frau E. da erleben könnte, oder meine Kreativität zu nutzen, um einen neuen Weg der Kommunikation zu bahnen. Wie viele andere Menschen damals und heute stand ich völlig unter dem Einfluss der vorherrschenden Sichtweise: Demenz ist ein «Tod, der den Körper zurücklässt».

[23]Einige Zeit später, im Jahre 1985, begann ich mit und für Menschen mit Demenz zu arbeiten. Dabei ging die Initiative zunächst nicht von mir aus: Ein Psychiater und ein klinischer Psychologe baten mich, ihr «Doktorvater» zu sein. Ich konnte ihnen eine allgemeine Anleitung in Forschungsmethoden bieten und ihren Ideen ein geneigtes, aber dennoch kritisches Ohr leihen, besaß jedoch kein substantielles Wissen auf ihrem Gebiet. Dies alles änderte sich allerdings sehr bald, und ich sah mich zunehmend in ihre Arbeit hineingezogen. Ich wurde Mitglied der «Alzheimer Disease Society» und begann, die monatlichen Treffen der Ortsgruppe zu besuchen. Außerdem begann ich, bei einem kleinen kommunalen Fürsorgeprogramm mitzuwirken. Ich stellte fest, dass ich Menschen mit Demenz mag. Oft bewunderte ich ihren Mut. Ich spürte, dass ich etwas von ihrer Zwangslage verstand, und bisweilen entdeckte ich, dass ich mit ihnen auf scheinbar fruchtbare Weise interagieren...

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