Abschied von Vater und Mutter - Zwei Requiems

Abschied von Vater und Mutter - Zwei Requiems

von: Josef Winkler

Suhrkamp, 2015

ISBN: 9783518741399

Sprache: Deutsch

256 Seiten, Download: 4931 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Abschied von Vater und Mutter - Zwei Requiems



REISEVORBEREITUNGEN
AUF DEM LANDE


 

»Vor der Wallfahrt zum Narayama mußte sie sich auf jeden Fall – ganz gleich wie – eine Lücke in die Zähne schlagen, dachte sie. Wenn sie die Wallfahrt zum Narayama beginnen und sich auf das Brett setzen würde, das sich Tappei auf den Rücken geschnallt hätte, wollte sie wie eine schöne alte Frau mit lückenhaften Zähnen aussehen. Darum versuchte sie heimlich, sich die Zähne schartig zu schlagen, in dem sie mit dem Feuerstein dagegenhämmerte.«

 

 

KRISTINA WAR ALS KIND vom vierten bis zum achten Lebensjahr mit ihren Eltern und ihren beiden Schwestern in Indien, in Rourkela, in einer eisenerzreichen Gegend des indischen Bundesstaates Orissa, wo in den Sechzigerjahren ihr Vater als Ingenieur am Bau eines der modernsten Stahlwerke der damaligen Zeit mitarbeitete, das unter der Oberaufsicht der »Hindustan Steel Limited« von 35 großen deutschen und indischen Firmen errichtet wurde. Rourkela liegt am südöstlichen Rande eines Gebirges, am Brahmanifluß. Die Behörden enteigneten 32 Dörfer, von denen sie 16 völlig zerstörten. 13 ‌000 Adivasi wurden umgesiedelt, 6 ‌000 Ureinwohner blieben. Entwurzelt und ohne Aussicht auf Beschäftigung, lebten unzählige Adivasi als rechtlose Landarbeiter, als Schuldknechte oder als Kulis in den Slums der Städte. Wo die Adivasi mehrere tausend Jahre lang vom Ackerbau lebten, ziehen heute schwarze Rauchschwaden über riesige Slumsiedlungen, Chemikalien und Schmiermittel verschmutzen den Brahmanifluß. Rourkela war früher ein Dorf mit 2 ‌000 Einwohnern, heute ist es eine Industriestadt mit 300 ‌000 Menschen. Das Gelände für das Hüttenwerk und die geplante Wohnstadt, Steel City genannt, umfaßte über achttausend Hektar. In dieser Steel City waren 1800 Deutsche untergebracht, die man die Rourkela-Deutschen nannte, 40 ‌000 Menschen arbeiteten am Projekt. Der eine Rourkela-Deutsche hatte am Eingang seines Bungalows ein großes Wappen seiner deutschen Heimatstadt aufgepinselt, der andere hatte über dem Eingang ein riesengroßes Glas schäumenden Biers mit der Aufschrift »Krombacher Pils« aufgemalt. Im »German Club«, im deutschen Krankenhaus und im Schwimmbad war den Indern der Zutritt verboten. Bei den nächtlichen Partys im German Club sangen die Rourkela-Deutschen gerne: »Es zittern die morschen Knochen …« und »O, du schöner Westerwald …«. Einmal nachts schossen betrunkene Rourkela-Deutsche auf die Haustür einer indischen Familie, in der Hoffnung, daß diese aus Angst vor weiteren Anschlägen ihre schöne, jugendliche Tochter den Wilderern übergeben würde. Im Laufe eines knappen Jahrzehnts wurde in Rourkela im Brahmanifluß ein einziges Krokodil von den indischen Dorfbewohnern entdeckt, das schließlich von einem im deutschen Krankenhaus arbeitenden Arzt erschossen wurde. Der Affe Jimmy, der nachts zwischen den Hühnern im Hühnerstall untergebracht wurde, der Bananen gestohlen hatte und den Leuten Bananenschalen entgegenwarf, wurde erschossen, weil er die sechs Meter langen, zum Trocknen aufgehängten Saris mit Lianen verwechselte, daran herumturnte und den Orissastoff beschädigte. Da es kein Bestattungsunternehmen gab, mußten in der Anfangszeit die deutschen Monteure für ihre bei der Arbeit tödlich verunglückten Kollegen eigenhändig ein Grab ausheben und bei der Beerdigung behilflich sein. Es war auch davon die Rede, daß indische Firmen, die bei Todesfällen unter ihren Arbeitern den Witwen nur dann eine Abfindung zahlten, wenn eine Leichenbeschau abgehalten wurde, dem Toten bei der Entrichtung der Abfindung das linke Ohr abgeschnitten und als Quittung einbehalten wurde, da es vorgekommen war, daß man einen Verstorbenen mehr als einmal vorgezeigt hatte. Indische Mädchen im Alter von fünfzehn bis zwanzig Jahren, von denen die meisten Christinnen waren und aus den umliegenden Adivasidörfern stammten, wurden als Haushaltskräfte in die Monteursunterkünfte gelockt, verführt und sexuell mißbraucht. Es soll häufig vorgekommen sein, daß die Monteure am abendlichen Biertisch im German Club die Mädchen einander weitervermittelten. Um den Mädchen den Zugang zum Hotelkomplex, in dem sechshundert deutsche Monteure, vor allem Junggesellen, untergebracht waren, zu verwehren, wurde von der »Hindustan Steel Limited«, die um ihren Ruf fürchtete, das Hotelgelände eingezäunt. Die Monteure empfanden den Stacheldrahtzaun und die Polizeiposten vor ihren Unterkünften als Freiheitsberaubung, als Beschneidung persönlicher Freiheit und als Rassendiskriminierung und legten den Zaun, der aus Betonpfeilern und Maschendraht bestand und fast eine halbe Meile lang war, kurz nachdem er vollendet worden war, in einer einzigen Nacht um. Mindestens zwei deutsche Firmen sollen regelmäßig Fotos von nackten, am Brahmanifluß fotografierten indischen Mädchen nach Deutschland geschickt haben, um deutsche Arbeiter zu überreden, Verträge für Indien abzuschließen. Abgesehen von einem deutschen Mundharmonika-Trio, das im German Club deutsche Volkslieder und Schlager spielte, wurden von den Monteuren auch Rourkela-Lieder gedichtet und gesungen: Rourkela war im Flug in meinen Träumen, mit Mädchen und mit Affen auf den Bäumen. Ich träumte hunderttausend schöne Sachen, von Bier, von Schnaps, vom dicken Portemonnaie. Und als ich plötzlich war im heißen Klima, da war das alles gar nicht mehr so prima. Man sagt, ich würde sehnlichst schon erwartet, und man brachte mich zum Hotel gleich hin. Rourkela, Rourkela, Rourkela …

 

In den vier Jahren ihres Indien-Aufenthaltes mit Eltern und Geschwistern ging Kristina in den indischen Kindergarten, später in die deutsche Schule. Einmal, so erzählte sie, als während eines heftigen Monsunregens die ganze Familie auf der überdachten Terrasse des Bungalows saß, näherte sich ihnen eine lange schwarze Kobra, die sich aber, als ihr Vater einen Korbsessel aufhob und mit den Stuhlbeinen voran auf die Schlange zuging, sofort verzog, in Sekunden verschwunden war und nie mehr wiedergesehen wurde. Eine Brillenschlange soll sich an einem warmen Nachmittag zwischen zwei im Bett schlafende Zwillinge gelegt haben. Als sich die beiden Kleinkinder beim Aufwachen bewegten, biß die Schlange zu und tötete sie. Die Familie reiste mit den toten Kindern nach Deutschland und kehrte nicht mehr nach Indien zurück. Immer wieder erzählte Kristina von Indien, starrte in Rom, Paris oder Berlin oder wo auch immer wir sonst gemeinsam waren, die Straße entlanggehende Inder an und begann wieder, von Indien zu erzählen. So entschieden wir uns für eine Reise nach Indien, denn auch ich wollte einmal das Land sehen, in dem sie vier Jahre ihrer Kindheit verbracht hatte.

 

Unsere erste gemeinsame Reise nach Indien fand im Frühling des Jahres 1993 statt. Wir wohnten damals noch im Bauernhaus meiner Eltern in Kamering, im Kärntner Drautal. Mein damals fünfundachtzigjähriger Vater, der zu dieser Zeit seinen Bauernhof noch nicht übergeben hatte, noch selber arbeitete, den Pflug an den Traktor spannte, mit der Sense auf die Felder und mit der Axt im tiefen Winter in die Wälder ging, schüttelte nur den Kopf, wenn ich von unserer geplanten Reise nach Indien sprach. Die Mutter seufzte wie immer und sagte – wie immer – kein Wort. Ich vor allem, weniger die indienerfahrene Kristina, hatte Angst vor gesundheitlichen Schäden, denn häufig wenn in Zeitungen und im Fernsehen von Indien berichtet wurde, war von Malaria, Cholera und Typhus, auch von der Pest die Rede. Ich hatte aber immer die Hoffnung, daß ich mich von meinen katholischen, dörflichen Themen eine Zeitlang würde lösen und neues Material zum Schreiben, vielleicht sogar für einen ganzen Roman, auf einem anderen Kontinent, in einer anderen, mir vollkommen fremden Welt würde finden können, denn der Stoff war mir vorläufig ausgegangen, ich wußte nicht mehr, worüber ich schreiben sollte, denn in der Zwischenzeit hatte ich auch, nach Jahren der Abwesenheit zum Vater zurückgekehrt, ihm Schritt auf Tritt folgend, eine Rückkehr des verlorenen Sohnes geschrieben, hatte ihm morgens und abends bei seiner Stallarbeit geholfen, war mit ihm auf die Felder und in die Wälder gegangen, um ihn zu beobachten, auszuhorchen, mir von seiner Kindheit und Jugend und auch neuerlich seine Kriegsgeschichten erzählen zu lassen und um wieder, aus anderer Perspektive, mit meinem Filmkamerakopf die hintersten und verborgensten Winkel meiner Kindheit ausleuchten zu können. Ich machte ihn im Fernsehen auf jede Kriegsdokumentation aufmerksam, saß mit Füllfeder und Notizbuch, wenn Hitler wieder auf der Mattscheibe auftauchte, neben dem Vater und schrieb seine Kommentare auf, aber dieser Sohn, der, um ein neues Buch schreiben zu können, den Alten mehrere Jahre lang nicht aus den Augen gelassen hatte, mußte wieder aufbrechen und fortgehen aus dem Haus, in dem er geboren wurde und in dem die kinderlose Gote, oder »gute Haut«, wie sie genannt wurde, die immer wieder, vor allem solange die Großeltern lebten, in ihrem Geburtshaus im bäuerlichen Haushalt mithalf, die bei allen möglichen Festanlässen ihre Verwandtschaft mit Torten und Kuchen versorgte und mir bis zu meinem vierzehnten Lebensjahr in der Karwoche den Osterhasen gebracht hatte – neue Sonntagskleider oder Lederschuhe und den mit Staubzucker bestreuten Guglhupf, in dem immer ein Zehnschillingtaler steckte –, mit der blutigen Waschschüssel in der Hand Geburtshilfe leistete unter dem großen, breit und schwarz eingerahmten Heiligenbild der Muttergottes, die das Jesukind auf dem Schoß und eine weiße Lilie in der Hand hält, und das blutige Wasser in einem Schwall auf den Misthaufen...

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