Lucia Binar und die russische Seele - Roman

Lucia Binar und die russische Seele - Roman

von: Vladimir Vertlib

Deuticke im Paul Zsolnay Verlag, 2015

ISBN: 9783552062863

Sprache: Deutsch

320 Seiten, Download: 4096 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Lucia Binar und die russische Seele - Roman



TEIL 1


IM MÄRZ

1


Wenn ich jetzt sterbe, dann kann ich damit leben. Was mir früher die Sicht auf den Tod verstellte, habe ich längst umgangen oder aus dem Weg geräumt. Mein innerer Frieden wäre ein Hort der Langeweile, wenn ich nicht gelernt hätte, Langeweile ab und zu als Zufriedenheit wahrzunehmen. Das ist in meinem Alter ein Privileg. Demzufolge kann ich nicht behaupten, dass ich sterben möchte, auch wenn ich mit mir selbst im Reinen und für die letzte Reise gerüstet bin. Doch bevor es so weit ist, würde ich gerne wieder die Kraft haben, auf die Leiter zu steigen, um aus dem obersten Bücherregal Wisława Szymborskas Gedichtband Hundert Freuden2 herauszuholen und es auf Seite 102 aufzuschlagen.

Das Nichts hat sich umgenichtet, auch für mich. Es drehte sich tatsächlich auf die andere Seite …

Früher berührte mich das Wort »Umnichtung«, und ich versuchte, mir die Umnichtung des Nichts bildlich vorzustellen. Heute habe ich das Gefühl, als ob ich selbst schon auf einer der vielen anderen Seiten wäre, die wir in jungen und mittleren Jahren immer mit anderen Menschen in Verbindung bringen.

Wo bin ich nur hingeraten – Kopf und Fuß in Planeten, unbegreiflich, dass ich einmal nicht da sein könnte

Ich kenne das Gedicht auswendig. Manchmal stelle ich ein paar Worte um oder lasse eine Zeile aus. Gute Lyrik ist immer anpassungsfähig. Was ich vermisse, ist die Sinnlichkeit jener Augenblicke, in denen ich mit dem Zeigefinger der rechten Hand über die Seite streiche, umblättere, ein Lesezeichen suche, das Buch schließe, weglege, wieder aufschlage, wie beiläufig von Zeile zu Zeile springe und wie immer an dem Satz Gestirnt aufs Geratewohl! hängen bleibe. Dafür lohnt es sich, wieder gesund zu werden.

Der Arzt meinte, dass es mindestens drei Wochen dauern wird, bis ich aus dem Haus gehen darf. Als ich von ihm wissen wollte, wann ich wieder auf die Leiter steigen kann, um an die Bücher der beiden oberen Regale zu gelangen, runzelte er die Stirn und sagte: »Ach, wissen Sie, gnädige Frau, in Ihrem Alter …« Der Rest des Satzes blieb in seinem grauen Bart hängen. Ich fragte noch einmal nach, aber er gab mir keine Antwort.

Vor meinem Unfall blieb Szymborska oft wochenlang unberührt, so lange, bis ich auf die Idee kam, die Bücher abzustauben und die Spinnweben zu entfernen. Dann fiel mein Blick wieder auf den erwähnten Gedichtband, und wenn ich in der entsprechenden melancholischen Stimmung war, genoss ich jene Augenblicke, die ich heute so schmerzlich vermisse. Seit dem Unfall starre ich unentwegt nach oben und zähle die Tage, bis Karla von ihrer Kur zurückkommt. Dann steigt Szymborska in Begleitung von Jan Skácels Wundklee und Joseph Brodskys Hügeln hinunter zu mir und auf einen Ehrenplatz am rechten Rand des Sofas, griff- und blätterbereit, Wegbegleiter in der Not, Freunde auch in besseren Zeiten.

Mein Sprachhunger ist stärker als das Verlangen, mir etwas Substanzielleres als Gedichte zuzuführen. Am Tag vor ihrer Abreise hat Karla den Kühlschrank und die Küchenregale vollgeräumt, doch fühle ich mich außerstande, etwas zu kochen.

Ich bin nicht anspruchsvoll. Zur Not könnte ich mich tagelang von trockenem Brot oder Snacks, die es in den großen Abfütterungsketten wie McDonald’s zu kaufen gibt, ernähren. Es gibt kaum etwas, das ich abstoßend finde. Was andere Menschen anwidert, ist mir gleichgültig. Die sechs fabriksmäßig in eine luftdichte, durchsichtige Plastikfolie verpackten Äpfel, die mir Karla vorbeibrachte und auf den Wohnzimmertisch legte, bevor sie nach Badgastein aufbrach, rühre ich jedoch nicht an, weil diese Äpfel nach einer Woche noch genauso giftgrün aussehen wie am ersten Tag. Ein solches Wunderprodukt möchte ich meinem schwachen Magen nicht zumuten.

Karla ist eine ehemalige Arbeitskollegin, die erst vor wenigen Jahren die privilegierte Position meiner besten Freundin eingenommen hatte, weil sowohl meine als auch ihre Freundinnen eine nach der anderen gestorben waren. In meinen mittleren Jahren fürchtete ich manchmal die Einsamkeit des Alters und machte mir Gedanken, wie ich dieser vorbeugen könnte. Dann ist vieles von dem eingetreten, wovor ich mich gefürchtet hatte, und ich war zu sehr mit der Bewältigung dieser Schicksalsschläge beschäftigt, um darüber zu grübeln, ob ich einsam war oder nicht.

Während ich über Szymborska und das Essen nachdenke und darüber, was Szymborska wohl gegessen hatte, bevor, während oder nachdem sie ihre Gedichte schrieb, läutet es an meiner Tür. Endlich! Das Mittagessen hätte zwischen halb eins und eins geliefert werden sollen. Inzwischen ist es drei viertel drei. Ich werde die beiden jungen Herren, mit deren Arbeit und Umgangsformen ich bis jetzt sehr zufrieden war, diesmal rügen müssen. Zwei oder drei freundliche, aber deutliche Sätze. Die beiden sind sympathisch, auch wenn sie immer so unter Stress sind, dass ich es niemals wagen würde, sie zu bitten, mir das Szymborska-Buch vom Regal herunterzuholen. Der eine heißt Selim, der andere Erwin oder Erich. Wenn sie eine halbe Stunde zu spät kommen, macht mir das nichts aus, doch eine Verspätung von zwei Stunden kann ich nicht tolerieren. Schon in jungen Jahren war ich davon überzeugt, dass wir im Leben den Rollen, die wir spielen, gerecht werden müssen, und wenn wir einmal aus der Rolle fallen, so muss es sich auch hierbei um eine überlegte und glaubwürdige Inszenierung handeln.

Die beiden Burschen tragen alberne weiße Jacken mit gelben Knöpfen, die auf den ersten Blick vergoldet aussehen, Stehkragen, in die stilisierte Kronen gestickt sind, und Schulterblätter mit goldenen Sternen und Streifen, so als wären sie Offiziere der amerikanischen Marine: viel Aufwand, um einer von der Stadt Wien geförderten Sozialeinrichtung den Anstrich eines noblen Catering-Services zu geben. Wenn man mir diesen Hauch von Noblesse vorzugaukeln versucht, erwarte ich zumindest Pünktlichkeit.

Der Klingelton wird länger, insistierender. Das ärgert mich. Die beiden Knaben wissen doch, dass ich kaum gehen kann. Glauben sie, ich bin immer noch jung und dynamisch wie mit sechzig? Szymborska schrieb kurz vor ihrem Tod ein Gedicht über eine altersschwache Schildkröte, die davon träumt, tanzen zu können: Als sie endlich das Risiko eingeht, ein paar Tanzschritte zu machen, und sich übermütig im Kreis dreht, rollt sie auf den Rücken und kann sich nicht mehr bewegen. Wie hieß das Gedicht doch gleich?

Ich bin froh, dass im Vorzimmer immer noch die Kommode steht, an der ich mich abstützen kann. Was für ein Tanz!

Vier kurze Klingeltöne, dann ein langer und wieder ein kurzer.

Oder war es nicht von Szymborska? Manchmal kommt es mir vor, als hätten die Würmer längst Löcher in mein Gehirn gefressen.

Wenn ich wenigstens noch die Kontrolle über meinen Körper hätte, aber mein linker Fuß macht gegen meinen Willen eine halbe Drehung nach rechts, die Finger verkrampfen sich, während ich mich damit abmühe, die Sicherheitskette zu lösen, und wenn ich versuche, den Kopf zu drehen, ist es, als ob mir jemand mit einem Holzknüppel gegen den Hinterkopf schlagen würde. Die Schmerzen, die ich an jenem sonnigen Februarmorgen erlitten hatte, waren harmlos im Vergleich zu dem Preis, den ich tagtäglich zu zahlen habe, um mein Sichtfeld zu erweitern.

Oder war es Urszula Kozioł, die das Gedicht geschrieben hat? Ich weiß es nicht.

»Ja, Himmelherrgott! Ich kann nicht schneller!«

Vielleicht sogar Ewa Lipska. Der ist alles zuzutrauen.

Vor fünfzig Jahren war ich genauso ungeduldig. Wie sehr mir doch die alten Leute auf die Nerven gingen, wenn ich zur Straßenbahnhaltestelle hastete, eine enge Treppe hinauf- oder hinunterlief oder meine Großtante in der Czerningasse besuchte und fünf Minuten gegen die Tür hämmern musste, bevor sie mir öffnete.

»Entschuldigen Sie bitte die Störung, Frau Binar …«

Eine junge Person. Höchstens zwanzig.

Es ist wirklich ein Skandal, dass die beiden uniformierten Jünglinge immer noch nicht da sind.

»Es geht um eine Unterschrift …«

Das Gesicht der jungen Frau kommt mir bekannt vor. Wahrscheinlich bin ich ihr irgendwann im Treppenhaus begegnet.

»Entschuldigen Sie, kennen wir uns?«

»Oh, Verzeihung, ich heiße Hasler, Entschuldigung, ich wollte …«

»Dafür brauchen Sie sich doch nicht zu entschuldigen. Sie können ja nichts dafür, dass Sie Hasler heißen.«

»Äääh, nein …« Ein verlegenes Lächeln, rührend – rote Ohrenspitzen und ein Blick, der abgleitet und erst an meinen Hausschuhen zur Ruhe kommt.

»Ich wohne auf Nummer sechs A.«

»Seit wann gibt’s dort ein A im Mezzanin?«

»Äääh … Da müsste man den Vermieter fragen. Als ich eingezogen bin …«

»Lassen Sie nur, so wichtig ist das auch wieder nicht.«

Nein, keine zwanzig, achtzehn, höchstens neunzehn – zierlich, schmal, fast ätherisch. Eine angenehme Stimme: dieser samtweiche, etwas getragene Unterton. Ihrer Aussprache nach zu schließen kommt sie nicht aus Wien, sondern aus dem Westen, allerdings nicht aus dem fernen Westen, also nicht aus Tirol oder Vorarlberg oder dem Pinzgau, sondern wahrscheinlich aus Oberösterreich. Oder ist sie keine Sie, sondern ein Er? Solche Jeans und weiten Pullover tragen Burschen wie Mädchen, und auch der kurze Haarschnitt sagt nichts über das Geschlecht aus. Ihr (oder sein) Gesicht, Haare, Körper verschwimmen vor meinen Augen. Vielleicht erscheinen mir deshalb alle Konturen noch weicher, als sie sind, und so bleibt das blondblauäugige...

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