Das Herz der Dings - Geschichten über das Leben mit Demenz

Das Herz der Dings - Geschichten über das Leben mit Demenz

von: Bernhard Horwatitsch

Mabuse-Verlag, 2014

ISBN: 9783863212186

Sprache: Deutsch

147 Seiten, Download: 941 KB

 
Format:  EPUB, PDF, auch als Online-Lesen

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Das Herz der Dings - Geschichten über das Leben mit Demenz



Lasst das Radio laufen


Arm in Arm standen sie vor der Leiche ihres Sohnes, unten im Keller der Klinik. Ehrfürchtig einige Meter Abstand haltend: Arzt, Betreuer, ein Pfleger und ich.

„Oliver, wach auf“, sagte Frau Bauer.

„Der schläft“, sagte ihr Mann. Mit einer Hand stützte er sich auf seinen Stock, mit der anderen tätschelte er die Hüfte seiner Frau. Oliver lag auf dem Rücken vor ihnen auf einer kalten Stahlplatte. Mehr als zwei Zentner Fleisch ohne Leben.

„Der wacht nimmer auf“, sagte nun Frau Bauer.

Plötzlich hatte er zugeschlagen, der Tod. Eine Woche zuvor war Oliver noch ganz lebendig gewesen. Als wir, Meierhofer – der gesetzliche Betreuer – und ich die schreckliche Nachricht überbrachten, war Herr Bauer nicht mehr zu halten.

„Ich muss zu ihm“, ruft er aus, „das gibt’s doch nicht.“ Er kann es nicht glauben.

Plötzlich wurde der alte Mann flink, zog sich schnell seine Jacke an. Frau Bauer saß in der Küche, während ihr Mann an uns vorbei zur Tür rannte. „Lass mich nicht allein“, flehte sie weinend. Herr Bauer wirkte einen Moment unentschlossen, wie von einer höheren Macht gebremst, dann – die höhere Macht kann ihn nicht halten – lief er aus der Wohnung hinaus. Meierhofer rief ihm noch nach, er solle warten, wir würden gemeinsam gehen, er würde ihn hinfahren.

Aber Herr Bauer kann nicht warten, er muss zu seinem Sohn, muss ihm beistehen. Er ist der Vater.

Kurz entschlossen lief ich ihm nach. Draußen war es kalt, Schneeregen fiel aus einem grauen Himmel, Matsch lag auf der Straße, ein schmutziges, breiiges Gemisch aus Schnee und menschlichen Fußstapfen, im Hintergrund die bröckelnden Fassaden der Münchner Altbauwohnungen. Ich holte den alten Mann ein, ging neben ihm. Er rannte fast, setzte den Stock immer wieder in den Schnee, als wollte er auf die Erde einschlagen.

Plötzlich blieb er stehen, blickte auf den Boden. „Da ist es passiert“, sagte er in den Boden hinein.

Er meinte den Sturz des Sohnes. Genau hier war Oliver ausgerutscht, genau hier hatte Gevatter Tod seinen Sohn geholt, ohne dass der Vater es verhindern konnte. Sie waren gemeinsam einkaufen gewesen. Der Sohn hatte ihm beim Einkauf geholfen. Oliver lebte noch zu Hause. Er hatte nicht viel Glück im Leben, der liebe Gott hatte ihm nicht genug Verstand geschenkt, um alleine über die Runden zu kommen. Und dort, wo jetzt sein Vater gerade stehengeblieben war, dort war er gestürzt, hatte sich den Oberschenkelhals gebrochen, denn wenn zwei Zentner unbewegliches Fleisch aufs Eis knallen, bersten darunter die Knochen.

„Wieso ist er jetzt tot? Wie kann das sein?“ Olivers Vater will es nicht glauben. Jeden Pfennig, der noch irgendwie übrig war, haben sie zurückgelegt, auf Urlaub verzichtet, gespart und gespart, damit ihr liebes Kind, ihr Oliver keine Sorgen hat, wenn sie einmal nicht mehr sind. Und jetzt? Jetzt sind sie, aber Oliver nicht mehr.

Daran stirbt man doch nicht.

Inzwischen waren wir alle, Herr und Frau Bauer, der Betreuer und ich in der Klinik angekommen. Voller Unruhe lief Herr Bauer den Gang auf und ab. Einmal durchquerte er das Stationszimmer.

„Da dürfen Sie nicht durch“, rief ihm eine junge Krankenschwester nach.

Aber das kam ihm gerade recht. Olivers Vater drehte sich um und blaffte sie an. „Was? Das dürfen Sie nicht …?“, wiederholte er. „Wo sind wir hier, in Dachau? Schlimmer als Dachau“, schimpfte er.

Ich versuchte ihn zu beruhigen, Regeln gäbe es nun mal überall, die Krankenschwester mache doch nur ihren Job, könne das alles doch nicht wissen. „Das sind halt Krankenhausvorschriften“, sagte ich. Aber ich konnte ihn nicht richtig beruhigen. Er streifte weiter durch den Gang, unruhig, wie ein eingesperrter Tiger.

„Ich muss noch mal zu seinem Bett“, stieß er atemlos aus und riss die Tür des Krankenzimmers auf. Aber das Bett war längst leer, frisch bezogen.

Daneben ein weiteres Bett, es ist belegt. Mit großen Augen sieht der überraschte Patient den alten Mann auf das leere, sehr weiße Bett starren, richtet sich auf in seinem Bett. Er weiß nichts, weiß nichts von Olivers Verbleib.

Herr Bauer streichelte mit seiner alten Hand das leere Bett. „Dort hat er gelegen. Gestern noch, da hab ich doch mit ihm geredet. Warum?“

Lange mussten wir warten. Der zuständige Arzt versuchte, den Mann mit dem Schlüssel für die Leichenkammer zu verständigen. Aber der hatte gerade keine Zeit. Herr Bauer lief währenddessen weiterhin unruhig den Gang auf und ab, dabei immer wieder durch das Stationszimmer, das zwei Gänge miteinander verband. Wir alle wurden dadurch immer nervöser. Auch Meierhofer, der Betreuer, wirkte gehetzt, hatte einen angestrengten Blick. Frau Bauer saß im Wartezimmer, weinte still. Sie war von uns allen die Ruhigste. Sie saß nur da und weinte geräuschlos.

Herr Bauer kommt wieder durch das Stationszimmer auf unsere Gangseite zurück, bleibt kurz stehen, schaut mich einen Augenblick an. Warum dauert das so lange, scheint er mich zu fragen. Er zweifelt immer noch am Tod des Sohnes, hält alles für eine Verschwörung der Ärzte. Das Wort „Dachau“ fällt noch einmal, dort war er als junger Mann, weil er nicht in den Krieg ziehen, weil er nicht der Erfüllungsgehilfe von Hitlers Mörderstaat sein wollte. Und jetzt nehmen die mir auch noch meinen Sohn, scheint er zu denken. Wo ist sein Sohn? Er will jetzt seinen Sohn sehen. Er glaubt, die Ärzte verstecken ihn, haben Oliver irgendwo hingebracht. Tot kann er nicht sein, er hat doch eben noch gelebt.

„Beruhigen Sie sich, Herr Bauer“, sagte Meierhofer und griff ihm vorsichtig an die Schulter. „Der Mann mit dem Schlüssel hat grade keine Zeit.“

„Der Mann mit dem Schlüssel“, denke ich und finde den Satz schon fast symbolisch.

„Was heißt das? Was ist das hier für ein Krankenhaus. Da war ja Dachau noch besser“, schimpfte Herr Bauer und riss sich los, tigerte wieder den Gang auf und ab.

Der Arzt, ein junger, schmaler, blasser Typ, mit randloser Brille, blondes, schon leicht schütteres Haar wie Flaum auf dem Kopf. Endlich kam er. Und er wirkte wirklich betroffen. Ganz ernst war er. Auch für Ärzte ist der Tod schwer zu begreifen. Immer wieder musste er Herrn Bauer erklären, wie es passiert ist.

„Lungenembolie.“

Herr Bauer begreift nicht: „Wie kann das sein?“

„Wir haben noch versucht, ihn zu reanimieren.“

„Wie? Was war das? Lungenembolie?“

Der Arzt bleibt geduldig, auch wenn es ihm sichtlich schwer fällt.

Der Tod ist mächtig. Irgendwann, irgendwann holt er uns alle. Als ich dem Arzt unten vor der Leichenkammer zuflüstere, dass Herr Bauer erst gestern erfahren hat, dass er schwer krebskrank sei, nur noch Wochen, maximal Monate zu leben habe, schnauft er: „Schlimm.“ Schicksal dämpft die Stimme. Laut kann keiner sein im Angesicht eines toten Menschen.

Auch der Tod kommt mit leisen Sohlen daher, man bemerkt ihn nicht. Niemand will den Zeitpunkt seines Todes wissen.

Sei mal ganz leise, ganz still. Hörst du ihn? Besser nicht, macht das Radio wieder an.

Tage später schaute ich mir den Film Das Beste kommt zum Schluss an. Jack Nicholson und Morgan Freeman spielen darin zwei Krebskranke, die es noch mal richtig krachen lassen, sich eine „Löffelliste“ zusammenstellen, was sie noch alles tun wollen, bevor sie „ins Gras beißen“. Und einmal sind sie in Ägypten, bei den Pyramiden, und da referiert Morgan Freeman über die Todesvorstellung der Ägypter. Wenn man an die Himmelspforte kommt, werden dem Toten zwei Fragen gestellt. Erst wenn man die Fragen beantwortet, wird man eingelassen. Erste Frage: Hast du jemals Freude empfunden in deinem Leben? Zweite Frage: Hast du jemals dafür gesorgt, dass ein anderer Freude empfindet?

Jack Nicholson wehrt ab, ach, das sind die typischen Fragen.

Als wir wieder bei den Bauers zu Hause sind – alle waren wir erschöpft, niedergeschlagen –, saß das alte Ehepaar am Bettrand, kaum ansprechbar.

„Der schläft jetzt, tief und fest“, sagte Olivers Vater zu seiner Frau und schüttelte den Kopf.

50 Jahre waren die beiden verheiratet, 45 Jahre alt wurde der Sohn.

Meierhofer und ich ließen die beiden in ihrer Wohnung allein zurück. Ein gutes Gefühl hatten wir dabei nicht.

Trösten? Wie sollten wir die beiden trösten?

Das macht die Zeit.

Auf leisen Sohlen kommt der Tod. Es ist gut, dass er nicht marschiert. Ich habe dem Ehepaar Bauer ein Radio mitgebracht, mit Kassettendeck und CD-Player. Lasst das Radio laufen. Damit es nicht zu still...

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