Das neue Zeit-Alter - Warum es gut ist, dass wir immer älter werden. - Geleitwort von Pater Anselm Grün

Das neue Zeit-Alter - Warum es gut ist, dass wir immer älter werden. - Geleitwort von Pater Anselm Grün

von: Lothar Seiwert

Ariston, 2014

ISBN: 9783641141813

Sprache: Deutsch

240 Seiten, Download: 6553 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Das neue Zeit-Alter - Warum es gut ist, dass wir immer älter werden. - Geleitwort von Pater Anselm Grün



Vorwort:

Wer hat an der Uhr gedreht?

Eines Morgens im Herbst 2012 klingelte es an meiner Haustür. Ich wusste gleich: Die Post ist da!

Briefträger sind bei mir grundsätzlich immer gern gesehen. Vielleicht auch deshalb, weil sie mich an meine Jugend erinnern – in der ich selbst Postbote war. Ich bin heute beruflich sehr glücklich und erfolgreich, Leben und Arbeiten sind praktisch ein und dasselbe für mich. Aber die Zeit damals, täglich im Freien, ständig in Bewegung, von Briefkasten zu Briefkasten mein Revier durchstreifend, das war mit der beste Job meines Lebens.

Postboten und Paketlieferanten stehen bei mir natürlich auch deshalb hoch im Kurs, weil sie immer etwas für mich dabeihaben. Es ist praktisch jeden Tag Bescherung. Nachdem ich an jenem Oktobertag die hübsche Postbotin lachend mit einem Scherz verabschiedet und die Tür geschlossen hatte, begann ich mit dem Öffnen des Geschenks dieses Tages. Unter anderem hatte ich einen großen Brief der Stadt Heidelberg überreicht bekommen: einen farbig bedruckten Umschlag, aufwendig gestaltet. Auf der Rückseite waren eine stilisierte Straßenbahn, ein Nahverkehrszug und ein Bus abgebildet. In einem bunten Kreis stand: »Seit 20 Jahren.«

Hm, seit 20 Jahren was? Seit 20 Jahren öffentlicher Nahverkehr? Das konnte nicht sein. Die Eisenbahn dürfte schätzungsweise Mitte des 19. Jahrhunderts nach Heidelberg gekommen sein.

Aber welches 20-jährige Jubiläum wollte dieser Brief sonst feiern? Ich las weiter: »Karte ab 60. Viele Vergünstigungen exklusiv für Karte-ab-60-Kunden unter www.vrn.de ...«

Gruppen ab 60 Personen? Das schien mir zu groß. Fahrkarten mit 60 Tagen Gültigkeit, also so etwas wie eine doppelte Monatskarte? Hm. Ich wendete den Brief. Auf der bunten Vorderseite stand: »Wir schenken Ihnen einen Monat Bus- und Bahnfahren!«

Oh, wie schön, ein Geschenk. Aber was hat das mit 20 Jahren zu tun? Und was hat es mit den »60-Kunden« auf sich?

Ich riss den Brief auf. Innen befand sich ein Rückumschlag mit dem Hinweis »Porto übernehmen wir für Sie«, ein Anschreiben und eine große Karte zum Aufklappen. Außen auf der Karte waren wieder die stilisierten Verkehrsmittel abgedruckt und darüber stand: »Karte-ab-60-Glückwunsch-Abo. Einfach ankommen.«

Offensichtlich war dieser Brief Teil einer Kampagne und bewarb ein Abo. Ich stolperte über den unfreiwillig komischen Slogan »Einfach ankommen«. Für mich ist »ankommen« schon immer der absolute Mindestanteil eines jeden Dienstleistungsprodukts im öffentlichen Verkehr, ob ich nun ins Taxi steige oder in die Bahn. Ein Verkehrsverbund, der das einfache Ankommen zum Slogan erhebt, hat wohl keine allzu großen Ziele.

Ich klappte die Karte auf. Innen war ein fiktives Streckennetz abgebildet, ein Netzplan, dessen Verbindungslinien die Silhouette einer Torte formten, auf der eine Kerze steckte. Die fiktiven Haltestationen trugen Namen wie »Ehrenplatz«, »Konfetti« oder »Jubiläum«. Ganz offensichtlich gab es also für den Heidelberger Verkehrsverbund etwas zu feiern.

War ich jetzt plötzlich einer von denen,

für die man Seniorenteller

auf die Speisekarte schreibt?

Darüber stand mit riesigen Lettern: »Herzlichen Glückwunsch!«

Glückwunsch? Meinten die mich? Hatte ich in einer Lotterie gewonnen? Ich hatte doch an überhaupt keiner teilgenommen.

So langsam wurde ich stutzig. Mir dämmerte, um was es ging ... Als ich weiterlas, begann mein Blutdruck zu steigen: »Für frisch gebackene 60er! Sichern Sie sich ein großes Stück Mobilität: das Karte-ab-60-Glückwunsch-Abo!

Frisch gebackener 60er? In der Tat: Ich war 59 Jahre alt, und mein runder Geburtstag stand in über zwei Monaten bevor.

Ich überflog das Anschreiben: »Mit 60 fährt man besser ... Sie feiern in diesem Jahr Ihren 60. Geburtstag ... Fahren Sie einen Monat kostenlos ... Nach dem Gratismonat kostet die Karte ab 60 nur 34,20 Euro monatlich ... Bequem zum Schlemmen ins Elsass ... Wanderwege im Odenwald ... Zum Einkaufsbummel in die Stadt ...«

War es jetzt so weit? Schlug nun das Alter zu? War ich plötzlich einer von denen, für die man Seniorenteller auf die Speisekarte schreibt? Die einen moralischen Anspruch auf verminderte Eintrittspreise fürs Schwimmbad, fürs Museum oder fürs Stadion haben? Einer von denen, die zum »Autowandern« mit dem Seniorenbus ins Elsass fahren, um den lieben langen Tag mit Rumsitzen, Spazierengehen und Essen totzuschlagen?

Gehörte ich jetzt zum alten Eisen?

Und seit wann gratulierte man zwei Monate im Voraus zum Geburtstag? Und was hatte die Stadt Heidelberg damit zu schaffen, dass ich zufällig 60 Jahre alt wurde?

Ich soll alt sein?

Ja, sind die denn verrückt!

Ich pfefferte den Brief auf den Tisch. Was für eine Beleidigung! Wenn ich eines wusste, wenn es eines gab, das ich mir schwor: Niemals, nie in meinem ganzen restlichen Leben würde ich auch nur ein einziges Mal in einem Restaurant einen Seniorenteller bestellen! Niemals würde ich ein ermäßigtes Ticket in Anspruch nehmen. Niemals würde ich verlangen, in irgendeiner Weise mitleidsvoll bevorzugt zu werden gegenüber den jungen, tatkräftigen, »echten« Erwachsenen.

In unserer Gesellschaft gibt es offenbar drei Gruppen: erstens Kinder und Jugendliche, zweitens Erwachsene und drittens Alte. Die Trennlinie zwischen den ersten beiden Gruppen verläuft ungefähr bei den 20-Jährigen, die Trennlinie zwischen den letzten beiden offenbar bei den 60-Jährigen. Das wurde mir mit diesem Brief schlagartig klar.

Aber es fühlte sich so falsch an! Ich sollte alt sein? Ja, waren die denn verrückt?

An jenem Tag im Oktober 2012 reifte in mir die Idee zu diesem Buch.

Ich gelte als Experte für die Zeit und den Umgang damit. Da kann es mich nicht kaltlassen, wenn sich die Zeiten ändern. Und die Zeiten ändern sich gravierend – auszwei Perspektiven betrachtet:

Perspektive Nummer eins: Die Zeiten ändern sich aus der individuellen Sicht für jeden Einzelnen, der »in die Jahre« kommt. Das Leben fühlt sich anders an, die Menschen um einen herum ändern ihren Umgang mit einem, man wird plötzlich anders gesehen und behandelt. Aus dem Berufstätigen wird der Ruheständler. Aus dem fitten Problemlöser wird der träge Problemverursacher. Aus der attraktiven Frau wird die nette Oma. Aus dem Rentenkassenbeitragszahler wird der Rentenkasseninanspruchnehmer ...

Dieser persönlich erlebte Wandel ist nicht einfach. Nein, er ist sehr schwer, bisweilen hart und grausam. Altern ist nichts Schönes. Jedenfalls sehen das die meisten Menschen so. Wer altert schon gerne?

Aber ist das wirklich angemessen? Haben wir ein realistisches Bild davon, wie wir alt werden?

Perspektive Nummer zwei: Die Zeiten ändern sich für unsere ganze Gesellschaft. Bei der näheren Beschäftigung mit dem, was gemeinhin mit dem abstrakten und dadurch distanzierten Begriff »demografischer Wandel« bezeichnet wird, ist mir erst so richtig klar geworden, welcher gesellschaftlichen Revolution wir gegenüberstehen, wie umwälzend die Veränderungen in unserer Bevölkerungsstruktur sind, wie groß die Herausforderungen für uns alle, für die Politik, die sozialen Systeme, die Infra-struktur, die Wirtschaft und die ganze Arbeitswelt.

Uns ist nicht wirklich klar,

welche Konsequenzen

das Älterwerden hat.

Wir sind nicht darauf vorbereitet.

Ganz ehrlich: Ich war verblüfft, nein, schockiert. Die einzelnen Fakten kannte ich zum größten Teil aus Presse und Fernsehen, aber als ich mich damit beschäftigte zu verstehen, wie die einzelnen Fakten miteinander in Wechselwirkung standen und sich gegenseitig im negativen Sinne verstärkten, wurde mir angst und bange. Ich dachte, ich sei gut informiert, doch in Wahrheit war mir überhaupt nicht klar, welcher Tsunami da auf uns zurollte. Und ich bin sicher, den meisten meiner Leser geht es genauso.

Das Schlimmste daran ist die im historischen Kontext rasende Geschwindigkeit, kombiniert mit den gewaltigen Ausmaßen der Veränderungen. Wir sind eine Gesellschaft, die nicht nur immer älter, sondern gerade schlagartig steinalt wird. Jahrzehntelang war die Rede vom »demografischen Wandel« – jetzt ist er da! Und die Folgen, die uns nun bevorstehen, sind desaströs.

Aber ist dieses Bild von einer demografischen Katastrophe wirklich richtig? Ist es tatsächlich nur negativ zu sehen, dass wir immer älter werden?

Je mehr ich mich in das Thema aus diesen zwei Perspektiven vertiefte, desto drängender wurde für mich die Frage: Sind wir auf die massiven Auswirkungen der Altersstruktur der Bevölkerung in angemessener Weise vorbereitet? Meine Antwort lautet: Nein. Wir alle sind es nicht! Uns ist nicht wirklich klar, welche Konsequenzen das Älterwerden hat – für das Individuum und für die Gesellschaft als Ganzes. Wir sind nicht darauf vorbereitet.

Eine weißhaarige Gesellschaft von Ziellosen,

die ihre Zeit vor dem...

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