Was wirklich zählt, ist das gelebte Leben - Die Kraft des Lebensrückblicks

Was wirklich zählt, ist das gelebte Leben - Die Kraft des Lebensrückblicks

von: Verena Kast

Kreuz, 2011

ISBN: 9783783181333

Sprache: Deutsch

192 Seiten, Download: 720 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Was wirklich zählt, ist das gelebte Leben - Die Kraft des Lebensrückblicks



Warum Lebensrückblick?


Lebensrückblick – das klingt zunächst einmal nach Vergangenheit. Damit ist aber keinesfalls gemeint, dass man in der Vergangenheit nur schwelgt oder sie bedauert und damit der Gegenwart und der Zukunft ausweicht. Es geht darum, das gelebte Leben zu würdigen. Als junge Heranwachsende machen wir uns mehr oder weniger bewusst Pläne, wie denn unser Leben so sein sollte. Im höheren Erwachsenenalter fragen wir uns, was aus diesen Plänen geworden ist: Wir sind glücklich und auch etwas stolz auf Gelungenes, auf Erfahrungen, die weit über das hinausgehen, was wir uns einst erträumt haben, wir sind traurig und wehmütig darüber, dass sich einiges nicht realisiert hat. Es geht dabei um das Erinnern des ganzen Lebens, um Scheitern und Gelingen, um den ganzen Reichtum des Lebens. Und schließlich geht es darum, mit diesem Reichtum, der uns auch Kraft gibt, das Leben zum Tode hin gut leben zu können.

Biografiearbeit ist nüchtern und respektvoll: Es geht nicht um das Glorifizieren der Vergangenheit oder das Starren auf die eigenen Fehler, nicht darum, sich als großartiges Opfer der Umstände zu verstehen, wohl aber darum, das Schwere zu sehen, und es durchaus auch zu beklagen: keineswegs aber, um in der Klage stecken zu bleiben, sondern um das Schwierige dann auch hinter sich zu lassen und dabei wahrzunehmen, was dennoch im eigenen Leben möglich war. Bleibt man im Beklagen der Vergangenheit stecken, die man ja nicht mehr ändern kann, kann man sich nicht dem zuwenden, was wirklich war, was einem die Vergangenheit noch »sagen« will. Gesucht ist der ruhige Blick, der wahrnimmt, was war – an Gutem und an Schlechtem –, ohne daran festzuhalten. Dann kommt – was immer auch war – der Reichtum des Lebens ins Gespür und Ideen für die Zukunft, so kurz oder lang die auch noch sein mag, blitzen auf. Es gibt in jedem Leben Erfahrungen, die eingekapselt sind, die eingefroren sind, und die durch die Erinnerung wieder ins Fließen kommen und die, ins Hier und Jetzt transportiert, Ressourcen für die Zukunft darstellen können.

 

Viele ältere Menschen sagen von sich, sie würden sich vermehrt an ihre Kindheit und Jugend zurück erinnern – und das erfülle sie mit Freude, mit Erstaunen, mit Traurigkeit, mit Entsetzen. Sie erzählen gerne, wie es »damals« war, freuen sich, wenn jüngere Menschen, etwa Enkelinnen oder gar Urenkel nachfragen, es genauer wissen wollen. Manche schreiben solche Erinnerungen auf, denn sie wissen, wenn sie sterben, sind auch diese ihre Erinnerungen verloren. Ob die Nachkommen dann diese Aufzeichnungen wertschätzen, überlassen sie dem Schicksal. Ihnen jedenfalls sind diese Erinnerungen so bedeutsam, dass sie sie oft in mühsamer, wenn auch außerordentlich befriedigender Arbeit nicht nur erinnern, sondern auch noch formuliert zu Papier bringen oder sogar künstlerisch gestalten. Diese autobiografischen Erinnerungen weisen dabei über sich selbst hinaus: Es geht auch darum, dass die kulturellen Wurzeln eines Lebens und damit einer Familie erhalten bleiben. Auch die Einbettung des eigenen Lebens in die Zeitgeschichte wird dadurch sichtbar. Eine Zeitgeschichte, wie sie nicht von den Geschichtsbüchern übermittelt wird, sondern als Erfahrung von den Menschen, die sie gelebt haben, die in ihrem Lebensvollzug maßgeblich davon mit beeinflusst worden sind. Es mag ja sein, dass sich in dieser Biografiearbeit auch der Wunsch ausdrückt, in einer gewissen Weise »unsterblich« zu sein, etwas Substantielles zu hinterlassen. Wichtige Schlüsselerfahrungen im eigenen Leben werden vor den Augen der anderen Menschen, realen und vielleicht auch vorgestellten, benannt, ausgeführt, zur Disposition gestellt, den anderen Menschen geschenkt.

Erinnerungen sind und bleiben ein großer Schatz, zunächst einmal für die Menschen, die sich erinnern, dann aber auch für die, die diese Erinnerungen lesen und dabei in ein anderes Leben eintauchen. Sie erfahren etwas von Lebensumständen und Lebensführung, die ihnen sonst unbekannt blieben. Erinnerungen sind ein Schatz für uns Menschen: Sie sind unser Ureigenstes, sie sind das, was uns von unserem Leben als Ganzem zugänglich ist und bleibt, wenn wir uns darum bemühen und unser Gedächtnis uns nicht im Stich lässt.

Erinnern wir uns! Stellen wir uns vor, wie es damals war, als wir das erste Mal selber Rad gefahren sind: der Stolz, das Lebensgefühl, jetzt alles meistern zu können. – Für einen kurzen Moment wenigstens.

Mit den Erinnerungen tauchen wir ein in ein Leben, das schon lange vergangen ist und vergegenwärtigen es uns. Betrachten wir Familienfotos mit verschiedenen Kleinkindern und entdecken uns selbst dann endlich, dann sagen wir: »Das bin ich!« Wir sagen nicht, »Das war ich!« – offenbar sind wir es immer noch. Es gibt eine Kontinuität in unserem Leben trotz aller Veränderungen, und diese Kontinuität wird im Lebensrückblick sichtbar.

Die vielen Veränderungen in unserem Leben, die wir vor allem an markanten Punkten unseres Lebens wahrnehmen, werden durch das Erinnern verbunden. Verbinden wir aber verschiedene Erinnerungen, wird uns deutlich, dass im Netz der Erinnerungen die Essenz unseres Lebens erfahrbar ist, unsere Identität wird sichtbar. In unseren Erinnerungen begegnen wir auch den Sehnsüchten von damals, vielleicht sind es auch unabgegoltene Sehnsüchte. Und wir begegnen auch Erfahrungen, die wir lieber ungeschehen machen würden, derer wir uns schämen. Und dennoch: alle diese unsere Erfahrungen machen unser Leben aus – und nur wir können uns diesen Schatz vermiesen, indem wir unsere Erinnerungen nicht wertschätzen, sie als banal und belanglos einstufen. Doch damit tun wir aber auch unser Leben als banal und belanglos ab.

Erinnerungen gruppieren sich um Schlüsselerfahrungen, oft um Erfahrungen, die wir das erste Mal gemacht haben: Der erste Schultag – den erinnern wir meistens recht genau. Den letzten meistens auch. Die vielen Schultage dazwischen erinnern wir nur, wenn etwas Besonderes geschah, etwas Wunderbares oder etwas Schreckliches. Der erste Kuss, die erste Liebe, der erste Liebeskummer – sie sind uns meistens präsent. Wir erinnern uns auch an vieles aus der Adoleszenz, vermutlich, weil da so vieles begann, aber auch, weil wir in diesem Alter uns schon Gedanken machen um unsere Biografie, vor allem auch darüber, was für ein Mensch wir werden wollen. Wir entwickeln einen Traum von unserem Leben: Da will einer ein wichtiger Forscher werden, eine andere eine berühmte Filmschauspielerin, ein berühmter Musiker, eine erfolgreiche Fußballerin … Es ist interessant, sich zurückzuerinnern: Was war denn mein Traum damals – und wie habe ich diesen Traum ausgefüllt – oder eben auch nicht. Natürlich waren das damals Größenideen, denn aus dem Leben soll ja etwas Großes werden. Natürlich hat man diese Träume nicht einfach umsetzen können – aber etwas davon ist doch in den meisten Leben realisiert worden. Gelingt es, sich nicht an der Größenidee zu messen, sondern an der Richtung, die darin sichtbar wurde, sehen wir eine Entwicklungslinie vom Traum zu unseren wichtigen Lebensthemen, zu den Themen, die zu verwirklichen uns immer wichtig waren, oder aber wir haben den Eindruck, etwas »falsch« gemacht zu haben. Nun mag es ja sein, dass der Traum zu weit von den Realisierungsmöglichkeiten entfernt war, vielleicht aus einer schwierigen Lebenssituation heraus, die es notwendig machte, einer Größenidee nachzuhängen, um das Leben überhaupt aushalten zu können. Aber sogar in diesen Situationen findet man oft noch ein Körnchen dessen, was zu verwirklichen uns später im Leben wichtig war.

Aber nicht nur, was wir das erste Mal erlebt haben, was unsere Psyche noch unvorbereitet traf, bleibt in unseren Erinnerungen, sondern auch Erfahrungen, die das letzte Mal betreffen. Das letzte Mal mit einem Menschen gesprochen haben, den wir später nie mehr gesehen haben, der aus unserem Leben verschwand oder gar starb. Diese letzte Unterhaltung bekommt dadurch eine Bedeutung und wir holen sie in unsere Erinnerung zurück, versuchen das Gespräch und die Atmosphäre minutiös zurückzuholen in unsere Erinnerung, verknüpfen sie unbewusst mit Erfahrungen von Ende und Tod – und deshalb können wir uns auch später gut daran erinnern. Aber es muss nicht das letzte Mal im Zusammenhang mit einem realen Tod sein: Das letzte Mal in eine Firma gehen, das letzte Mal diesen bestimmten Schreibtisch aufräumen, das letzte Mal gemeinsam frühstücken … Was dazwischen ist, zwischen dem ersten und dem letzten Mal, rückt zusammen, verdichtet sich, ist schwer auf Einzelheiten zu durchdringen. Aber da, wo etwas Besonderes geschieht, etwas Herausragendes, da wird unsere Erinnerung wieder präziser: etwa bei Lebensübergängen oder bei Krisen, die mit diesen Lebensübergängen verbunden sein können. An runde Geburtstage erinnern wir uns meistens, vielleicht auch noch an die Zeit davor und an die Zeit danach. Lebensübergänge – ob normative, die zu unserem Leben gehören, wie etwa die runden Geburtstage –, oder individuelle, wie etwa die Geburt eines Kindes, der Tod eines geliebten Menschen, haben eine spezifische Dynamik.

Zeiten der Lebensübergange haben ihre eigene Dynamik: Was kurz zuvor noch gültig und verlässlich schien, wird plötzlich bezweifelt, hinterfragt. Unzufriedenheit wird erlebt, Unruhe, Angst. Irgendwie sollte alles anders werden, es sollte sich aber auch nichts verändern. Je mehr wir festhalten wollen, umso mehr hinterfragen wir kritisch das Festgehaltene. Das heißt aber auch, dass wir den Lebensabschnitt, der zu Ende geht, in unserer Erinnerung noch einmal vergegenwärtigen: Es wird uns bewusst, was war, was gut war, was veränderungsbedürftig – und möglicherweise gibt...

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