Wenn alte Menschen aggressiv werden - Demenz und Gewalt - Rat für Angehörige und Pflegende

Wenn alte Menschen aggressiv werden - Demenz und Gewalt - Rat für Angehörige und Pflegende

von: Udo Baer, Gabriele Frick-Baer, Gitta Alandt

Beltz, 2014

ISBN: 9783407223272

Sprache: Deutsch

156 Seiten, Download: 2399 KB

 
Format:  EPUB, PDF, auch als Online-Lesen

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Wenn alte Menschen aggressiv werden - Demenz und Gewalt - Rat für Angehörige und Pflegende



KAPITEL 3


Die übersehene Gewalt in den Familien
Wenn pflegebedürftige Menschen in ihren Familien aggressiv oder sogar gewalttätig werden, dann werden solche Erfahrungen von den Angehörigen oft als besonders schmerzlich, kränkend und verletzend erlebt. Dieses besondere Ausmaß liegt sozusagen in der »Natur« der Familienbindungen. Die lange gemeinsame Lebensgeschichte birgt in sich die große Chance, die Abschiedsphase eines gemeinsamen Lebens im liebevollen Miteinander geborgen und würdigend zu verbringen. Aber die besondere Nähe und Vertrautheit lassen die Verletzlichkeit auch besonders groß und den seelischen Schmerz und die Kränkung besonders tief werden.
Wir wollen an dieser Stelle den feinen, eher unauffälligen Gesichtern der Gewalt Aufmerksamkeit schenken, dem, was das Herz der Pflegenden verletzt, ihm einen Stich versetzt, was es verstört und die pflegenden Angehörigen manchmal zusätzlich zu der Lebensumstellung, die von ihnen verlangt ist, aus der Bahn wirft und oftmals verbittert. Die Aspekte, die in diesem Sinne als Gewalt, als oft übersehene »leise« Gewalt und Beziehungsgewalt, erlebt werden, sollen hier »laut« werden dürfen und Würdigung erfahren.

Machtkampf und die Erniedrigung: »… du musst das für mich tun«


Beziehungsmuster, wie sie sich in den Pflegebeziehungen zwischen den Eheleuten oder zwischen den zwei Generationen, zwischen Eltern und Kindern, zeigen, sind oft nicht »neu«, sondern bestehen seit Anbeginn der Beziehung oder haben sich im Laufe der Beziehungsentwicklung eingespielt. Dass es diese eingespielten Muster gibt, ist nicht nur unabänderlich, sondern lebens- und beziehungsnotwendig und Grundlage des Zusammenlebens. Wenn Menschen nicht unter ihnen leiden, sind sie gewohnte, selbstverständliche und stabilisierende Faktoren der Beziehung, also auch der Pflegebeziehung. Oft aber werden in der aktuellen Pflegebeziehung alte Muster »auf die Spitze getrieben«, werden Eigenheiten, Kränkungen, Be- und Verurteilungen, werden das Macht-, Abhängigkeits- und Bedrohungsverhältnis besonders klar und deutlich spürbar. Was sich mehr oder weniger heimlich und ungreifbar unter der Oberfläche verbarg, wird jetzt schmerzlich wahrgenommen und gespürt. Dabei geht es nicht darum, was von außen, von anderen Menschen, als »gewalttätiges« oder »liebevolles« Verhalten und Beziehungsmuster wahrgenommen wird (welches Kind schaut nicht mit kritischem Blick auf das Beziehungsmuster der Eltern, welcher Mensch nicht kritisch auf das anderer Ehe- und Lebenspartnerschaften), sondern um das Erleben der Beteiligten.
Da gab es in einer Familie immer schon Machtkämpfe zwischen den Eheleuten:
Der Mann hatte klassischerweise immer »die Hosen an« und bestimmte entscheidend über das Leben seiner Frau und seiner Kinder. Die Frau wiederum beugte sich seinem Willen, federte die Härten für die Kinder ab, versuchte, das Beste draus zu machen. Nun hat der alte Mann einen Schlaganfall und brüllt seine ebenso alte Frau an, wenn sie nicht spurt. Dabei tut sie doch alles, um die Anforderungen des Alltags mit der Pflege ihres Mannes in Einklang zu bringen.
Da sie das ihr gemeinsames Eheleben lang so und nicht anders kennt, versteht sie zunächst nicht das Ausmaß ihres seelischen Schmerzes und Unglücks. Erst, als ihr ihre Tochter sagt, dass sie es kaum aushalten könne, wie »opferbereit« sie sei und dass sie sich das bieten lasse, werden ihr sein ungerechtfertigtes, überforderndes und als lieblos empfundenes Verhalten, ihr Bedürfnis nach Anerkennung vonseiten ihres Mannes und ihr Gefühl der Unzulänglichkeit schmerzlich bewusst.
Es gab danach keine für Außenstehende sichtbare Veränderung an diesem Beziehungsmuster, wohl aber für die Tochter. Sie konnte spüren, dass ihre Mutter begann, ein klein wenig mehr ihre Arbeit als pflegende Angehörige und sich selbst zu würdigen. Ab sofort hörte ihr Mann ab und zu mal den Satz, den er von ihr nicht kannte: »Immer mit der Ruhe. Eins nach dem anderen. Es wird nicht besser, wenn du mich beschimpfst. Ich tue, was ich kann.« Das half ihr, immer mal wieder Atem zu holen – und, mit der Unterstützung ihrer Tochter, auch Hilfe von Bekannten und professionellen Helfer/innen in Anspruch zu nehmen, auch wenn ihr Mann lautstark protestierte.
Die Machtverhältnisse zwischen Mann und Frau waren in dieser Familie schon immer sehr ausgeprägt gewesen. Durch die Abhängigkeitssituation in der Pflege begann der Mann, seine Frau noch mehr zu erniedrigen, bis diese mithilfe ihrer Tochter dagegenhalten konnte. Solchen Erniedrigungen begegnen wir häufig in unterschiedlichen Formen. Manchmal hören wir von pflegenden Kindern, dass ihre Pflegedienste von ihren Eltern bestenfalls als Selbstverständlichkeit, eher noch mit aggressiver Selbstverständlichkeit angesehen werden. Oft paart sich diese Haltung noch mit Ansprüchen, gefälligst »dankbar zu sein«, allein der Tatsache geschuldet, dass die jetzt Pflegenden einmal pflegebedürftige Kinder waren. Eine Tochter zum Beispiel pflegt ihre Mutter bis an die Grenze ihrer Belastbarkeit. Sie erntet kein Lächeln, keine kleine Geste des Einverständnisses und Dankes, keinen zarten Händedruck, sondern wiederholt den lapidaren Satz, der sie sehr kränkt und mundtot macht: »Früher habe ich dir den Hintern sauber gemacht, heute musst du das eben für mich tun.«

Vergeltung: »Die nimmt jetzt so richtig Rache an mir …«


»Die nimmt jetzt so richtig Rache an mir«, erzählt ein pflegender Angehöriger mit leiser, zittriger Stimme, in der neben Traurigkeit auch unterdrückter Zorn mitklingt. »So empfinde ich das, glauben Sie mir!« Die beiden Ehepartner haben sich versprochen, dass sie im Alter die Pflege füreinander, so gut sie können, übernehmen wollen. Und er lässt keinen Zweifel daran, dass er seine Frau pflegen will. Aber er leidet unter alten Beziehungsmustern mit umgekehrten Vorzeichen. »Jetzt, wo ich alt bin und auch meine gesundheitlichen Schwierigkeiten habe und nicht mehr so kann, zahlt sie mir alles heim, womit ich sie verletzt habe. Dass ich sie nicht genug beachtet hätte, dass sie mir nie was hätte so richtig recht machen können, dass ich so oft lieblos und unfreundlich gewesen sei usw. usw. Und richtig hämisch wird sie, wenn sie sagt, dass ich auch jeden Tag an Attraktivität verliere. Vor allem diese Häme, die tut mir richtig weh. Dagegen weiß ich mich nicht zu wehren. Egal, was ich alles falsch gemacht haben mag, und da fällt mir ’ne Menge ein – ich habe doch immer zu ihr gestanden und tue das auch immer noch. Warum macht sie das? Warum macht sie uns das Leben so schwer?«
Den Vorschlag, einen ersten Schritt zur Veränderung des eingespielten Beziehungsmusters zu versuchen, indem er seiner Frau seine Verletzung mitteilt, nimmt er an. Er erzählt ihr, was ihn kränkt. Er versichert ihr seine Liebe. Er bedauert, was er früher falsch gemacht hat. Und er offenbart ihr seine Sehnsucht nach Veränderung und Frieden. Es wirkt.

Ungleichbehandlung:
»Ich war immer schon das Aschenputtel …«


Eine andere Tochter berichtet, dass sie auf ihre Berufstätigkeit verzichtet habe, um ihre Mutter liebevoll pflegen zu können. Ihre Familie sei zusammengerückt, um Platz für die Mutter und Großmutter zu haben. »Das haben wir gerne getan. Das war irgendwie selbstverständlich für uns. Aber nun … Meine Mutter nimmt alles so selbstverständlich, niemals ein Dank, selten ein Lächeln. Aber wehe, wenn meine Schwester kommt, einmal jährlich. Dann ist große Aufregung. Dann muss ich alles vorbereiten, einkaufen, kochen, damit es meine Schwester gut hat. Das verlangt meine Mutter mit unglaublicher Härte von mir. Sie dankt meiner Schwester überschwänglich für jede Kleinigkeit: dass sie den Tisch abräumt, überhaupt, dass sie den weiten Weg kommt usw. usw. Ich bin dann noch mehr Dienstmädchen als sonst. Meine Familie ist dann richtig sauer mit mir, dass ich das mit mir machen lasse. – Ich habe mir jetzt mal vorgenommen, meiner Schwester wenigstens zu sagen, wie es ist. Vielleicht bekomme ich wenigstens von ihr dann nicht mehr nur weiter gute Ratschläge aus der Entfernung, sondern mal ein bisschen Anerkennung für meine Leistung. Ich brauche das, sonst komme ich bald um vor Neid und Missgunst – die ich doch gar nicht haben will.«
Dass pflegende Kinder, die konkret die Hauptlast des Pflegealltags tragen, miterleben müssen, wie die Geschwister, die sich eher rarmachen (müssen), von den pflegebedürftigen Eltern mit spürbarer Freude und Dankbarkeit empfangen werden, geschieht unserer Erfahrung nach häufig. Oft scheint das mit früheren Geschwisterkonstellationen zu tun zu haben, und der Boden, auf dem solches Verhalten gedeiht, ist dann gut vorbereitet. Die eben erwähnte Frau meinte: »Meine Schwester war schon immer das Lieblingskind. Ich war schon immer das Aschenputtel in unserer Familie.« In anderen Familien heißt es: »Klar, wenn mein Bruder kommt, stehen meine alten Eltern kopf. Ihr Prinz, ihr Ein und Alles …«
Die pflegebedürftigen Eltern ändern zu wollen ist erfahrungsgemäß meistens verlorene Liebesmüh. Denn welches alte Elternpaar mag sich noch auf diese »Ungerechtigkeit« und »Ungleichbehandlung« ansprechen lassen! Was helfen kann, ist, dass die Geschwister die Spaltung, besonders, wenn sie aus der Vergangenheit resultiert, nicht mehr hinnehmen. Wenn sie stattdessen und aktuell untereinander Beziehungsbrücken bauen, indem sie die Verantwortung aufteilen und die oder den konkret Pflegenden, so gut es geht, unterstützen, mit Rat und Tat und vor allem mit Dankbarkeit, Achtung und Anerkennung.

Unterschwellige Aggression: »Mein Auto behalte ich …«


Als stille Gewalt, die so leise daherkommt, dass sie leicht...

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