Altweiberfrühling - Andrea Bernardis zweiter Fall

Altweiberfrühling - Andrea Bernardis zweiter Fall

von: Irène Mürner

Gmeiner-Verlag, 2014

ISBN: 9783839243565

Sprache: Deutsch

284 Seiten, Download: 1853 KB

 
Format:  EPUB, PDF, auch als Online-Lesen

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Altweiberfrühling - Andrea Bernardis zweiter Fall



2. Kapitel


Als er vor dem ›Abendrot‹ eintraf, stand der schwarze Wagen des Leichenbestatters vor dem Eingang. An sich nichts Außergewöhnliches für ein Alterszentrum. Nur stand er so ungünstig, dass Andrea mit dem Dienstgolf unmöglich daran vorbei kam. Gerade als er sich überlegte, ob er hupen oder doch aussteigen und drinnen nach jemandem suchen sollte, trugen zwei Männer den Sarg nach draußen.

Wer wohl in der Holzkiste lag? Ob die Person vermisst wurde? Oder niemanden hinterließ? War sie krank gewesen, und ihr Tod bedeutete damit eine Erlösung? Die Gedanken schossen ihm durch den Kopf, während er den Männern zuschaute, wie sie den Kofferraum zuschlugen, ihm entschuldigend zuwinkten, rechts und links einstiegen und dann davon fuhren. Behäbig, wie es sich für ein Gefährt mit einer solchen Fracht geziemte. Kaum waren sie aus seinem Blickfeld verschwunden, vergaß er sie sofort wieder. Als Detektiv der Stadtpolizei hatte er sich längst an den Anblick eines Toten gewöhnt. Allein im letzten Jahr waren in Zürich weit über 3000 Bewohner der Stadt gestorben. Dazu kamen rund 600 Personen – Durchreisende, Touristen oder namenlose Ausländer – die hier ihre letzte Station gefunden hatten. Im Schnitt starben pro Tag zwölf Menschen in der Limmatstadt. Selbstverständlich fielen längst nicht alle einem Gewaltverbrechen zum Opfer, sondern sie starben ganz natürlich und unauffällig, wie diese Person hier. Demzufolge bedeuteten sie keine Arbeit für Andrea und interessierten ihn auch nicht weiter.

Er war eines Diebstahls wegen hier. Problemlos konnte er das Auto jetzt auf den Besucherparkplatz rechts vom Haupteingang parken. Er packte den blauen Spurensicherungskoffer, kontrollierte noch einmal, ob eine Rolle Ersatz-Mikrospurenklebeband dabei war, und trat dann durch die sich automatisch öffnende gläserne Tür in die Halle. Hätte er es nicht besser gewusst, er hätte sich in einem Hotel gewähnt. Anerkennend blickte er sich um. Dank der Glasfassade fiel Tageslicht auf wunderschöne Landschaftsfotografien. In der linken Ecke standen kindergroße weiße und pinke Orchideen in schweren Terrakottatöpfen. Zwei Lifttüren wandten sich an Besucher, die nicht gut zu Fuß oder einfach nur bequem waren, und die Marmortreppe rechts davon mieden. Zwischen Treppen und Lift stand ein Schild, auf dem nebst einem herzlichen Willkommensgruß auch das aktuelle Unterhaltungsprogramm für Bewohner und Besucher angegeben war. Wer wollte, konnte an einer Stadtrundfahrt teilnehmen, die geschichtliche Höhepunkte aus den Anfängen des letzten Jahrhunderts anpries.

Nicht schlecht, wenn man so alt werden durfte.

Unwillkürlich musste Andrea an seine eigene Großmutter denken. Sah Bilder ihrer schummrigen Stube vollgestopft mit Kitsch, Plastikblumen in Kristallvasen, bunten Kunstdrucken an den Wänden, dümmlich lächelnden Riesenpuppen und der unvermeidlichen Madonna vor seinem geistigen Auge. Genügsam und bescheiden war sie runzlig, lächelnd und winzig klein den ganzen Tag auf ihrem zerschlissenen Sofa gesessen. Zugedeckt von einem riesigen Berg Decken. Nie hatte sie sich darüber beklagt, dass es sie von früh bis spät fror. Was wirklich kein Wunder war, in diesen Steinhäusern ganz ohne Heizung blieb es sogar im Hochsommer stets kühl. Wenn denn auch nur die kleinste Chance auf ein paar wärmende Sonnenstrahlen zu erwarten gewesen war, hatte man sie in einen alten Polsterstuhl auf die Veranda gebettet. Wie hatte seine Nonna es geliebt, ihren Blick über die Olivenhaine – ein wogendes, silbrig schimmerndes Blättermeer bis zum Horizont – schweifen lassen zu können, im Frühling und Sommer über den roten Klatschmohn und die gelb-weißen Margeriten. Dazu den Vögeln und Insekten zu lauschen und den Geruch der Erde in seiner ganzen Intensität wahrzunehmen. Solange sein Großvater lebte, hatten die beiden gemeinsam einen kleinen Hof bewirtschaftet, auf dessen zehn Hektar großen Feldern seit jeher Bohnen, Oliven und Wein gediehen. Mit je einem guten Dutzend Schafe, Ziegen und Hühner hatten sie die Haushaltskasse zusätzlich aufgebessert. Nach Nonnos Tod übernahm Antonio, ihr ältester Sohn, das Anwesen und führte einige Neuerungen ein. Leistete sich einen Traktor und setzte ergänzend auf Pferdezucht. Mittlerweile standen sieben Rösser im Stall.

Apulien war in Cisternino noch immer, wie es seine Mutter schon als Kind erlebt hatte. Als wäre die Zeit stehen geblieben. Touristen verirrten sich höchst selten bis ins Hinterland, maximal bis Alberobello, das seiner weltberühmten, weiß getünchten runden Steinhäuser mit den spitzen Dächern wegen auch Zwergenland genannt wurde und in jedem Reiseführer Erwähnung fand.

Er erinnerte sich an einen seiner letzten Besuche, bevor Nonna nie mehr aufwachen sollte. Er hatte sie nach draußen getragen und gestaunt ob der zerbrechlichen Leichtigkeit, die seine Großmutter ausmachte. Luxus hatte niemals zu ihrem Dasein gehört, dennoch schien sie nicht unglücklich zu sein. Zeit ihres Lebens hatte sie hart gearbeitet, war aber auch niemals alleine oder einsam gewesen. Bis zu ihrem Lebensende war permanent irgendein Familienmitglied zugegen gewesen, hatte sie unterhalten, gefüttert oder ihr einfach nur Gesellschaft geleistet.

»Kann ich Ihnen helfen?« Eine ältere Frau unterbrach seine Erinnerungen und musterte ihn neugierig über ihrer Lesebrille. Sie saß auf einem mit blumigem Chintz überzogenen Polsterstuhl in der Lobby und hatte den Tagesanzeiger auf ihrem Schoß. Die Brille trug sie neckisch auf der Nasenspitze, und Andrea fragte sich instinktiv, wann sie von da wohl runter rutschte.

»Guten Morgen, ich habe einen Termin bei Frau Junker, der Heimleiterin.«

»Ach.« Der Blick wurde prüfend. Ein Handwerker war er nicht, die Kleidung und das Fahrzeug – natürlich hatte sie seine Anfahrt beobachtet – passten nicht dazu. Ebenso wenig ein Nahrungsmittellieferant. Vermutlich ein Sohn oder Enkel, der einen Platz für seine Mutter beziehungsweise Großmutter suchte. »Am besten gehen Sie die Treppe hoch, an der Rezeption wird man Ihnen weiterhelfen.«

»Danke.« Er nickte freundlich und befolgte ihren Rat. Ein Teppich, der die weißen Marmorstufen bedeckte, dämpfte seine Schritte. Auch hier hingen große Fotografien der Stadt dekorativ an der abgerundeten Wand.

Oben angekommen, erreichte er eine großzügig wirkende Halle. Sein suchender Blick fiel geradeaus auf eine Theke, hinter der ihn eine gepflegte Dame erwartungsvoll anlächelte.

»Bernardi, Stadtpolizei. Ich komme wegen der Diebstähle.«

»Ach, sehr gut. Wir haben Sie schon erwartet.« Behände bewegte sie sich um den Tresen herum und packte ihn geschäftig am Arm. »Bitte folgen Sie mir, die Chefin möchte Sie höchstpersönlich informieren.« Wenige Meter weiter klopfte sie an eine beige Tür, und eine tiefe Frauenstimme rief sogleich: »Herein bitte.«

»Gehen Sie nur.« Seine Führerin drückte auf die Klinke und stieß ihn dann ermunternd ins Zimmer.

Die Tür fiel mit einem satten Plumps hinter ihm ins Schloss und verschluckte jedes Geräusch von draußen. Der Raum war geschmackvoll eingerichtet, und hinter einem riesigen Mahagonitisch saß eine füllige Endvierzigerin. Als sie sich aus ihrem bequem ausschauenden tiefen Drehstuhl erhob und mit ausgestreckter Hand auf ihn zukam, erinnerte sie ihn irgendwie an eine Wurst in einer zu engen Haut. Ihr Körper wollte an allen Enden aus dem knappen Kleid quellen. »Sie müssen von der Polizei sein. Schön, dass sie so schnell kommen konnten. Junker.«

Andrea schüttelte eine weiche Hand und ließ sich an einen runden Tisch neben dem Fenster führen. Sie rückte ihm einen Stuhl zurecht, und er nahm das Angebot an, indem er sich hinsetzte. Auf dem Tisch standen in einer sandgestrahlten Glasvase gelb leuchtende Tulpen. Es roch nach Leder, Holzpolitur und ihrem teuren Parfüm.

Allmählich ging Andrea auf, warum er vom Chef an diesen Tatort geschickt worden war. Üblicherweise nämlich kein Einsatz für die Kripo, so etwas nahm für gewöhnlich die Streife entgegen. Aber im ›Abendrot‹ war man etwas Besseres, und gemeine Polizisten reichten wohl nicht aus.

Außerdem war der Boss noch immer nicht gut auf ihn zu sprechen. Er machte Andrea persönlich dafür verantwortlich, dass ihnen vor Jahresende ein Drogendealer durch die Lappen gegangen war. Mit solch kleinen Nadelstichen, wie diesem Fall, der im Prinzip unter der Würde eines Detektivs lag, bestrafte er seine Untergebenen. Andrea ließ sich dadurch nicht irritieren. Er kannte Jörg, in einigen Wochen würde er sich wieder beruhigt haben und ein anderes Opfer finden. Zudem hatte er im Moment ohnehin nicht viel zu tun. Auftrag war Auftrag, und so ein Diebstahl kostete ihn ein müdes Lächeln, welches er nun allerdings in ein charmantes verwandelte. Er schenkte seine ganze Aufmerksamkeit der Leiterin der Seniorenresidenz, die ihn über ihre Probleme aufklärte und ins Bild zu setzen versuchte.

Mindestens zum dritten Mal war Geld im Alterszentrum verschwunden. Da es sich bei den ersten beiden Opfern um leicht debile Insassen handelte – Andreas Übersetzung für verwirrte Bewohner, wie Frau Junker sie höflicher nannte – hatte man zuerst angenommen, sie hätten das Geld in ihrer Unbeholfenheit selber irgendwo verlegt. Als nun aber eine dritte Dame über den Verlust von 300 Schweizer Franken klagte, begann man die Sache ernst zu nehmen. Es war nicht auszuschließen, dass tatsächlich ein Langfinger sein Unwesen im Haus trieb.

Man durfte doch mit äußerster Diskretion rechnen? Der tadellose Ruf der Residenz stand auf dem Spiel und lag Frau Junker am Herzen. Sollte sich...

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