Solange du lebst - Roman

Solange du lebst - Roman

von: Louise Erdrich

Suhrkamp, 2010

ISBN: 9783518734407

Sprache: Deutsch

396 Seiten, Download: 2392 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Solange du lebst - Roman



Die Taubenplage


Im Jahr 1896 rief mein Großonkel, einer der ersten katholischen Pfarrer indianischer Herkunft, die Mitglieder seiner Gemeinde auf, sich mit ihren Skapulieren und Meßbüchern vor Sankt Joseph zu versammeln. Von dort wollten sie in einer weiten Kette über die Felder ausschwärmen und die Tauben wegbeten. Seine Gemeindekinder hatten zum Pflug gegriffen und beackerten ihr Land wie die deutschen und norwegischen Siedler. Anders als die Franzosen, die sich mit meinen Vorfahren vermischt hatten, zeigten diese Siedler wenig Interesse an indianischen Frauen und heirateten sie nicht. Die Norweger zumal behandelten jeden mit Verachtung außer sich selbst und hielten fest zusammen. Aber die Tauben fraßen auch ihre Felder kahl.

Wenn die Vögel kamen, zündeten die Indianer und die Weißen große Feuer an und versuchten sie in Netze zu treiben. Die Tauben fraßen die Weizensaat und den Roggen und machten sich über den Mais her. Sie vertilgten die sprießenden Blumen, die Apfelknospen, die harten Eichenblätter, selbst die vorjährige Spreu. Geräuchert schmeckten die fettgefressenen Tauben köstlich, aber man konnte ihnen zu Hunderten oder Tausenden den Hals umdrehen, ohne ihre Zahl merklich zu verringern. Die Lehmkaten der Mischlinge und die Rindenhütten der traditionellen Indianer brachen unter der Last der Vögel zusammen. Sie wurden in der Pfanne und am Spieß gebraten, zu Pasteten und Suppen verarbeitet, in Fässern gepökelt oder mit Knüppeln erschlagen und liegengelassen. Aber die toten Tauben dienten den lebenden zum Fraß, und jeden Morgen wurden die Leute erneut vom Scharren, Flügelschlagen und dem fürchterlichen Gemurre, Geraune und Gegurre der Tauben empfangen, und diejenigen, die noch ein intaktes Fenster besaßen, von den neugierigen, sanften Blicken dieser Kreaturen.

Mein Großonkel hatte in aller Eile ein Gitter aus Stöcken gebastelt, um die Scheiben seiner hochtrabend als Pfarrhaus bezeichneten Hütte zu schützen. In der Ecke schlief sein kleiner Bruder, den er vor einem allzu ungebundenen Lebenswandel bewahren wollte, auf einem Strohsack und einem Lager aus Tannenzweigen. Ein so weiches Bett hatte der Junge noch nie besessen, und er weigerte sich, es zu verlassen, doch mein Großonkel warf ihm die Roben der Chorknaben an den Kopf und befahl ihm, den Leuchter zu putzen, den er bei der Prozession tragen sollte.

Aus dem Jungen wurde später der Vater meiner Mutter, mein Mooshum. Getauft war er auf den Namen Seraph Milk, und da er über hundert wurde, hatte ich mit meinen etwa elf Jahren immer mal wieder Gelegenheit, mir die Geschichte vom folgenschwersten Tag seines Lebens anzuhören, der mit dem Versuch begann, die Tauben zu vertreiben. Er saß auf einem harten Stuhl zwischen unserem ersten Fernseher und der kleinen Büchernische, die in die Wand unseres Hauses eingelassen war, das der Regierung gehörte und auf dem Reservatsgebiet des Büros für Indianische Angelegenheiten stand. Mooshum also erzählte uns, wie er die Tauben, die auf den Fenstergittern seines Bruders herumkletterten, mit den Füßen kratzen hörte. Ihm graute vor dem Gang zum Klohäuschen, weil viele Vögel in den Kot unter dem Loch gefallen waren und so verzweifelt um Hilfe schrien, daß sich ihre Artgenossen von außen gegen das Häuschen warfen, um sie zu retten. Doch er wagte nicht, sich woanders zu erleichtern. Also bahnte er sich einen Weg durch das Geflatter, mit schlurfenden Schritten, um nicht auf Füße oder Leiber zu treten, und erledigte sein Geschäft mit geschlossenen Augen im Klohäuschen. Hinterher machte er die Tür fest zu, damit nicht noch mehr Tauben in die Falle gerieten.

Das Drama im Klohäuschen, mit dem er den Bericht vom folgenschwersten Tag seines Lebens stets begann, enthielt all die Details, die meinen Bruder und mich interessierten. Obwohl wir inzwischen Kanalisation hatten, war uns das Häuschen wohlbekannt, und die Schrecken eines Todes in der Kloake sowie andere Details seiner Geschichte fanden wir sehr fesselnd. Was Spannung und Unterhaltung betraf, kam Mooshum gleich nach dem Fernsehen. Doch unser Vater hatte die Knöpfe vom Fernseher abgezogen und versteckt. Vergeblich durchsuchten wir das ganze Haus und fanden uns schließlich mit dem Gedanken ab, daß er sie ständig bei sich trug. Fortan hielten wir uns an Mooshum und seine Geschichten. Er erzählte, und wir saßen auf den Küchenstühlen und zwirbelten unser Haar. Unsere Mutter hatte ihm eine rote Kaffeedose hingestellt, in die er seinen Tabaksaft spuckte. Er trug alte grüne Arbeitskleidung von Sears, ausgelatschte braune Schnürstiefel und eine Baseballkappe, auch im Haus. Seine Augen leuchteten aus Schlitzen hervor, die sich tief in sein Gesicht einkerbten. Die obere Hälfte seines linken Ohrs war ihm abhanden gekommen, weshalb er ein wenig schief aussah. Er war krumm und ausgemergelt, weiße Strähnen wucherten ihm um die Ohren und in den Nacken. Wenn er sprach, sahen wir manchmal seine braunen Zahnstummel. Doch seine Geschichte erzählte er mit einer solchen Überzeugungskraft, daß es uns nicht schwerfiel, in ihm den zwölfjährigen Jungen zu sehen.

Sein großer Bruder kleidete sich ins Ornat, das beste, das er besaß – gebraucht bekommen von einer Gemeinde in Minneapolis. Da an echten Weihrauch nicht zu denken war, füllte er das Rauchfaß mit trockenem, zu Kugeln gerolltem Salbei. In der Hütte gab es eine Handpumpe mit Ausguß, und Mooshums Bruder oder Halbbruder, Father Severine Milk, befeuchtete einen Kamm und kämmte erst sein Haar zurück, dann das Haar seines kleinen Bruders. Seit etwa einer Stunde schon trafen die Pferdewagen ein. Die Kirche war eine große Hütte auf der anderen Hofseite, in der jetzt die Gemeinde wartete, und der ganze Hof stand voller Pferdewagen, und auf jedem waren ein oder zwei Hunde angebunden, damit sie die Vögel und ihre Exkremente von den Strohballen fernhielten, auf denen die Leute saßen. Das ständige Hin und Her der Vögel machte die Pferde nervös. Viele trugen Scheuklappen und außerdem Kamillesträußchen am Geschirr, damit sie ruhig blieben. Als unser Mooshum den Hof überquerte, sah er die Tauben auf dem Kirchendach, die immerfort wie im Spiel zum heiligen Kreuz aufflogen, das die Hütte als Kirche kenntlich machte, um den Vogel, der es gerade besetzte, von seinem Platz zu vertreiben und gleich darauf vom nächsten vertrieben zu werden. Mein Großonkel war ein hagerer, furchtsamer Mensch von über einem Meter achtzig, der den allgemeinen Lärm mit gereizter Stimme übertönte, als er seine Gemeinde Aufstellung nehmen ließ. Die beiden Brüder bildeten die Mitte, und die lieben Gemeindeglieder schwärmten zu beiden Seiten aus, während sich die Kette langsam den Hang hinabbewegte, auf das erste Feld zu, das von den Tauben befreit werden sollte.

An dem Tag war die Sonne in Dunst gehüllt und matt, es herrschte drückende Windstille, der beißende Qualm aus dem Weihrauchfäßchen stand unbewegt in der Luft. Zügig schritten die Leute voran. Doch schon auf dem ersten Acker saßen die Tauben so dichtgedrängt, daß Unruhe unter den Frauen ausbrach, weil sie nicht weiterkamen, ohne daß ihnen die Tiere unter die Röcke gerieten. Die Vögel in ihrer Panik verfingen sich in den Unterkleidern. Abrupt kam die Kette zum Stehen, und die Frauen begannen – vor Mooshums Augen – mit einem wilden Tanz. Sie wirbelten herum, stampften mit den Füßen, schlugen um sich, schüttelten die Röcke, jede auf ihre Weise. Von einer solchen Urgewalt war der Tanz, daß die Tauben ringsumher erschrocken aufflogen, andere Tauben mitrissen und sich das ganze Feld mitsamt dem angrenzenden Wald in einen einzigen Vogelsturm verwandelte, der mit Getöse auf die Gemeinde herniederfuhr. Die jedoch hielt stand, indem alle ihre aufgeschlagenen Meßbücher über den Kopf hoben. Ihren Anstand vergessend, banden sich die Frauen die Röcke hoch. Rosenkränze oder Skapuliere vorgestreckt, schritten sie voran und sangen das Ave Maria in den Sturm der Flügelschläge. Mooshum, der die unteren Gliedmaßen einer Frau nur selten zu Gesicht bekam, machte sich zunutze, daß sein Bruder vollauf damit beschäftigt war, das Weihrauchfaß am Brennen zu halten, und blieb hinter den anderen zurück. Entzückt vom Anblick der nackten, strammen, stampfenden braunen Frauenbeine, ließ er den Leuchter sinken, der keine Kerzen trug und den ihm der Bruder nur deshalb gegeben hatte, damit er sein Gesicht schützen konnte. Und kaum hatte er den Leuchter sinken lassen, wurde er von einer Taube an der Stirn getroffen, die mit einer solchen Wucht vom Himmel fuhr, als wäre sie von Gott gesandt, um ihn mit Blindheit zu schlagen und fürderhin vor der Sünde des Glotzens zu bewahren.

An diesem Punkt seiner Geschichte geriet Mooshum so in Fahrt, daß er uns die Gottesstrafe vorführte und sich zu unserem großen Vergnügen auf den Boden warf. Er spielte uns seinen Zusammenbruch vor, dann öffnete er die Augen, hob den Kopf und starrte ins Leere, wo er erneut sah, wie ihm der Heilige Geist erschien – offenbar nicht als weiße Taube unter all den braunen, sondern in der irdischen Gestalt eines Mädchenkörpers.

Unsere Familie steht im Ruf, zu unsterblichen Romanzen zu neigen. Selbst mein Vater, ein eher gesetzt wirkender Naturkundelehrer, ließ sich von einem einzigen verheißungsvollen Blick meiner Mutter durch den ganzen Zweiten Weltkrieg tragen. Ihre Schwester Geraldine wurde vom Lächeln eines jungen Mannes überwältigt, der im Zug an ihr vorüberfuhr. Sie winkte ihm aus dem Graben zu, in dem sie Beeren pflückte, und obwohl sie nicht einmal wußte, ob er zurückgewinkt hatte, trieb sie irgend etwas dazu, bis zum Dunkelwerden weiterzupflücken, an Ort...

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