Der Bibliothekar, der lieber dement war als zu Hause bei seiner Frau - Roman

Der Bibliothekar, der lieber dement war als zu Hause bei seiner Frau - Roman

von: Dimitri Verhulst

Luchterhand Literaturverlag, 2014

ISBN: 9783641131326

Sprache: Deutsch

144 Seiten, Download: 828 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

geeignet für: geeignet für alle DRM-fähigen eReader geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones Online-Lesen


 

eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Der Bibliothekar, der lieber dement war als zu Hause bei seiner Frau - Roman



Ich gehe über den Styx und packe ein: eine Tube Zahnpasta (kleiner Scherz am Rande) …

*

Obwohl die Tat selbst vollkommener Absicht entspringt, geht es mir sehr gegen den Strich, dass ich jede Nacht wieder ins Bett scheiße. Mich zu dieser entwürdigenden Aktion
zu erniedrigen ist wahrlich die unangenehmste Konsequenz des ziemlich verrückten Wegs, den ich auf meine alten Tage gewählt habe. Doch ich würde das Pflegepersonal misstrauisch machen, wenn ich mein Nachtzeug unbeschmutzt ließe. Um nicht aus der Rolle des senilen Alten zu fallen, habe ich keine andere Wahl, als mir in regel-
mäßigen Abständen in die Windeln zu machen. Denn das ist es in der Tat: eine Rolle. So dement, wie ich die Außenwelt glauben zu machen versuche, bin ich überhaupt nicht!

An meinem Hintern hat die Harnsäure ihr ätzendes Werk schon begonnen, und ich muss sagen: Mir sind angenehmere Empfindungen bekannt. Die Salben, mit denen die Mollige, genannt Sonja, und ihre Kollegin Aischa mir jeden Tag die Kehrseite einschmieren, während sie die schnucklige Figur des Kukident-Haftcreme-Vertreters diskutieren, der dieses Haus mit seinen Produkten beliefert, helfen kein bisschen. Aber nochmals: Dieses inkontinente Verhalten lässt sich unter keinen Umständen aus meinem Drehbuch entfernen. Man stelle sich vor, was geschähe, wenn plötzlich entdeckt würde, dass ich die Demenz schon seit Monaten nur spiele! Dass ich seit vielen, vielen Wochen schon nur unverständliches Zeug vor mich hin brabble oder apathisch in meinem Rollstuhl hin und her schaukle, während ich noch, um nur ein Beispiel zu nennen, jede Frage des politischen Zeitgeschehens problemlos erläutern könnte. Die Krankenkasse würde sich betrogen, ja bestohlen fühlen und mich vor Gericht zerren; das Personal, vor allem das weibliche, des Geriatriezentrums Winterlicht käme sich missbraucht vor, in seiner Ehre verletzt und würde mir womöglich am liebsten den Schädel einschlagen. Das Mitleid, das meine Kinder bisher noch gerade so für mich aufbringen, würde in unendliche Scham für ihren Vater umschlagen, und meine Gattin, das Miststück – falls sie mich überlebt, und das wird sie bestimmt –, wird mein Grab mit Unmengen von Vogelfutter bestreuen, so dass auch auf mein Andenken noch gebührend geschissen werde.

Darum also: Nein, es gibt keine Alternative. Alle Brücken hinter mir sind verbrannt, es bleibt kein Weg zurück. Einmal in der Altenklapsmühle, immer in der Altenklapsmühle. Meine Entscheidung habe ich mit klarem Bewusstsein getroffen. Das soll aber nicht heißen, dass von all den Aspekten, die zur glaubwürdigen Darstellung eines verwirrten Greises gehören, die Rückkehr zum kindlichen Zustand mangelnder Stubenreinheit mir nicht dennoch am schwersten fiele. Oft geschieht es mit Tränen in den Augen, dass ich mir nachts die Därme auspresse. Mangel an Willenskraft kann mir in den vergangenen Monaten niemand mehr vorwerfen, aber wenn ich so in meinem eigenen klebrigen Dreck liege, sind mir schon mehrfach Zweifel an meinem Unterfangen gekommen. Jene seltenen Momente, in denen ich mich frage: »Ist es das wirklich wert? Bin ich nicht vielleicht doch zu weit gegangen?«

Inzwischen habe ich die definitive Antwort auf diese Fragen gefunden. Zum Glück.

Die Pillen, die uns die Weißjacken hier jeden Tag eintrichtern, tragen sicher ihr Teil dazu bei, doch in der vergangenen Nacht bin ich nicht ein einziges Mal wach geworden. Geratzt wie ein Toter. Mit anderen Worten: Ich konnte mich nicht dazu bringen, der pflegenden Zunft mit meiner allnächtlichen Portion Faeces zu dienen.

Jedoch.

Heute Morgen platzte die mollige Sonja bei mir herein, hektisch wie immer – unglaublich, wie rundlich sie bleibt, wenn man bedenkt, wie gejagt sie in einem fort hin und her wieselt –, zog meine Vorhänge beiseite und krähte: »Aufstehen, Désiré! Ein neuer Tag, ein neues Glück!«

Da spürte ich es. Zu meinem Erstaunen. Ich hatte ins Bett gekackt! Völlig spontan! Halleluja. Mein Körper hatte die Aufgabe übernommen, zu der sich mein Wille diesmal nicht hatte herbeilassen können.

»Désiré, hörst du? Aufstehen, mein Junge!«

Ich stieß hervor: »Mutter, Mutter, die Kühe müssen noch kalben!«, was der molligen Sonja ein herzliches Lachen entlockte. Ihr Lachen ist herrlich, wie das vieler Dicker. Sie rief: »Die Kühe haben schon gekalbt, Désiré. Wollen wir mal nachsehen? Gleich nach dem Frühstück, im Stall? Und dann im Garten die Vögel füttern – hörst du’s da draußen? Sie tirilieren schon, weil sie sich auf dich freuen! Aber erst müssen wir uns schön waschen, damit die Damen im Speisesaal wieder sagen können, was für ein hübscher Kerl du nach all den Jahren noch bist.« Und – hepp! – warf sie meine Beine in die Höhe und tauchte den Waschlappen in eine Schüssel mit lauwarmem Wasser.

»Impropria est salutare aliquis qui cacat«, kreischte ich. Unpassend womöglich für einen Demenzkranken, aber ich johlte es dennoch, glücklich wie das Kind, dem ich mich
jeden Tag hier etwas mehr annähern muss.

Impropria est salutare aliquis qui cacat: Unhöflich ist es, jemanden zu grüßen, der gerade im Begriff steht zu scheißen. Erasmus von Rotterdam.

Worauf die mollige Sonja: »Na, Désiré, jetzt bin ich aber platt! Du und die Bibel?«

Ein neuer Tag, in der Tat, doch er brachte kein Glück.

Nackt, blitzblank geschrubbt und nach Desinfektionsseife duftend, lag ich auf dem Bett, die mollige Sonja inspizierte gespielt feierlich meinen Schrank, und sie rief – auch das eine unangenehme Begleiterscheinung meiner verfrühten Selbsteinweisung ins Altersheim: Immer dieses grässliche Schreien! Das Personal, offenbar davon ausgehend, dass jedes ihrer ergrauten Schäfchen stocktaub ist, hat nach fünf Jahren Beruf Schwielen auf den Stimmbändern. Manche Pfleger sind es derart gewöhnt, ständig zu brüllen und zu blöken, dass sie kein Gespräch in normalem Stimmvolumen mehr zustande bringen. Auch ihre Partner und Kinder werden in einem fort angeblafft; liebevoll meistens, aber trotzdem.

Die mollige Sonja rief also, in gesundheitsgefährdender Lautstärke: »Heut ziehen wir uns unseren schönsten Anzug an, was, Désiré? Und weißt du, warum?«

»Was denn?«

»Warum wir heut unseren schönsten Anzug anziehen?«

»Ah ja!«

»Weißt du, warum?«

»Ja.«

»Warum, Désiré?«

»Ja.«

»Weil wir heute Geburtstag haben! Und wie alt werden wir? Weißt du das?«

Ihre ewige erste Person Plural ging mir auf die Nerven. Eine bizarre Gewohnheit. Hatte man ihr das in der Ausbildung beigebracht? Wenn ja, war ich neugierig auf die Philosophie hinter diesem Lehrsatz.

»Vierundsiebzig, Désiré! Wenn das kein schönes Alter ist!«

Mit meinen vierundsiebzig gehöre ich definitiv zum jungen Gemüse in der Pflegeeinrichtung. Jeder unter achtzig gilt hier mehr oder weniger als Pechvogel. Jemand, der von Mutter Natur zwar vielleicht eine ordentliche Portion Grips mitbekommen hat, geeignet, die kompliziertesten Dinge zu ergründen und allerhand Wissenswertes zu behalten, nur leider mit enttäuschend begrenztem Haltbarkeitsdatum.

Zum Beispiel Etienne. Etienne Thijs von Zimmer 18. Ebenfalls noch keine fünfundsiebzig. Im früheren Leben ein genialer Kopf, Professor der Biologie, bahnbrechend auf dem Gebiet der Resistenzforschung bei Antibiotika, doch jetzt so plemplem wie der Hintern Ludwigs von Bayern. All seine Kleidung zieht er grundsätzlich verkehrt herum an, und er hat ein Album, in das er die schönsten Abbildungen aus Miau! klebt, der Monatszeitschrift für den Katzenliebhaber. Traurig. Seine Frau, die tausendmal dümmer, aber geistig normal ist (wo hab ich das schon mal gehört?), hat bereits einen anderen, einen ehemaligen Metzger. Besucht sie ihren Mann, lässt sie sich vom Geliebten begleiten. Professor Thijs kriegt ja doch nichts mehr mit, und darüber können alle Seiten nur froh sein.

Die verrückteste Figur des Geriatriezentrums Winterlicht allerdings ist Professor Thijs nicht. Diese Ehre gebührt Walter de Bodt, mehr als ein Säkulum alt, kahl, knochig, die Haut eine Landkarte von Leberflecken, oft im khakifarbenen Armeepyjama in seinem Rollstuhl sitzend. (Gern würde ich ihm den Spitznamen »Lagerkommandant Alzheimer« verpassen, doch da ich außer mir so gut wie keinen Gesprächspartner mehr habe, ist so ein Deckname irgendwie witzlos.) Respekt hat de Bodt nur vor unserem Direktor, einem »Pflegemanager«, wie das im Neusprech der Branche so wundervoll heißt, den er stets mit gestrecktem rechtem Arm und, wenn sein Gebiss ordentlich sitzt, einem markigen »Heil!« begrüßt.

Nur selten ist es ein Geschenk, die Jugend ein zweites Mal erleben zu müssen.

Und wer als verwirrter Siebziger nicht zu den Pechvögeln gezählt wird, dem wirft man vor, seinen prekären Zustand verdient zu haben. Man wird verdächtigt, im Leben zu wenig Fischöl zu sich genommen zu haben und zu wenig Nüsse. Soaps zog man Büchern mit komplizierten Plots vor, trank mehr Alkohol, als den Hirnzellen zuträglich sein konnte, war sich für Kreuzworträtsel zu schade und las nie eine fremdsprachige Zeitung. Man hat sein Hirn selbst faul und müde gemacht, der Mühe, sich immer wieder technischen Neuerungen zu stellen, wollte man sich nicht unterziehen. Dass man dement wurde, hat man sich mit anderen Worten selbst zuzuschreiben! So schauen manche einen an.

So schaut meine Frau mich an. Wenn sie mich besucht – was, Gott sei Dank, immer seltener vorkommt.

Es ist mein erster Geburtstag hier in der Anstalt, und er gefällt mir....

Kategorien

Service

Info/Kontakt