Martha und die Ihren

Martha und die Ihren

von: Lukas Hartmann

Diogenes, 2024

ISBN: 9783257614633

Sprache: Deutsch

304 Seiten, Download: 1108 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Martha und die Ihren




In diesem Haus kann ein kleines Kind nachts einfach verschwinden. Niemand weiß, wohin. Unheimlich ist es im Dunkeln, nicht einmal die Hand sieht man vor den Augen, erst wenn es hell wird, kommt sie wieder zum Vorschein, Martha liegt dann neben Frieda und Klara stumm da. Sie wohnen ja im Finsterboden, so heißt es hier. Die Matratze ist hart und schmal. Im Winter steigt nur wenig Wärme zur Dachkammer, da tut es gut, sich an die Schwestern zu schmiegen. Aber Klara flüstert Martha manchmal unheimliche Dinge ins Ohr, vom Großen ohne Kopf, der herumschleicht, bevor es Tag wird. Man sieht ihn nicht. Da sperrt Martha ihre Ohren zu, sie hat gelernt, wie man das macht. Auf der Matratze nebenan liegen die drei Brüder unter der geflickten Decke, zwei mit dem Kopf oben, einer unten, der hat manchmal die Füße der anderen im Gesicht, das gibt zu lachen oder zu schimpfen. Emil, der Älteste, flucht manchmal sogar laut. Als der Vater noch auf den Beinen war, hat er Emil deswegen geschlagen, Gott darf man nicht lästern. Jetzt muss der Ätti schon lange unten neben dem Ofen liegen, er klagt über Schmerzen, kann sich kaum bewegen. Aber der Ofen wird nicht richtig warm, sie wohnen hier und haben zu wenig Holz. Das Kleinholz, das die Kinder im Wald sammeln, reicht nicht aus.

»Wir sollten mit Kohle heizen«, sagt die Mutter, »aber Kohle ist zu teuer für unsereinen.«

Einer kommt manchmal mitten in der Nacht,

den ich nicht sehe. Aber er macht Geräusche, ganz leise,

und doch lauter als der Wind draußen,

lauter als das Atmen vom Ätti.

Als der Vater noch gesund war und herumzog, um mit der Rute Wasser aufzuspüren und Brunnen zu bauen, bekam er dafür Geld von den Bauern, größere und kleine Münzen, die er den Kindern zeigte. Dann wollte er, wie schon oft, einen Schacht sprengen, die Explosion kam zu früh und warf ihn um, sie hat ein Bein verletzt, es blieb krumm, strecken kann er es nicht mehr. Seit diesem Unfall kommt kaum noch Geld ins Haus. »Medikamente sind zu teuer«, sagt die Mutter, »den Doktor können wir uns nicht leisten.« Aber sie macht für den Vater Umschläge aus Heilpflanzen, die das Eitern verhindern. Sie hilft benachbarten Bauern mit der Wäsche gegen Brot, manchmal ein Stück Fleisch, die älteren Buben bewachen das Vieh auf der Weide, bekommen dafür eine Münze. Oder sie lesen bei den Bauern Obst aus dem Gras, das sie behalten dürfen und ungern mit den Jüngeren teilen, außer Karl, der fast immer schweigt, er hat eine Vorliebe für Martha, die Zweitjüngste, die aber die Kleinste ist, zwei Finger kleiner als Frieda.

Der Ätti stöhnt oft, manchmal setzt sich Martha neben ihn, hält eine Weile seine Hand. Das tue ihm gut, sagt er, lächelt sogar wie früher, als er den Kindern Geschichten erzählte, von Zwergen im Wald, die miteinander streiten und sich in den Bach schubsen, bis sie vor einem jungen Fuchs davonlaufen. Er machte das Geschrei der Zwerge mit hoher Stimme nach und brachte die Kinder zum Lachen. Nun ist er zu müde für solche Geschichten. Vielleicht stirbt er bald, das hat Klara nachts Martha ins Ohr geflüstert, sie wollte es nicht hören und stellte sich taub. Wie mochte es Martha früher, wenn der Ätti mit seiner rauen Hand über ihre Wange strich, wenn er sie hochhob, als wäre sie federleicht, und hin- und herwiegte. Alle wollten hochgehoben werden, sogar die Großen, und sie warfen ihm vor, er bevorzuge Martheli, das sei ungerecht. »Das macht er«, sagte Emil, »weil du so klein und zart bist.« Aber zäh ist Martha auch mit ihren sieben Jahren, und lesen hat sie von den Älteren gelernt, wenn sie um den Küchentisch herumsaßen und ihr die Buchstaben beibrachten. Martha mochte das runde O, aber auch das M, ihren Anfangsbuchstaben. Das Schreiben ergab sich dann wie von selbst. Die Lehrerin oben im Schulhaus staunte, als sie feststellte, dass Martha die Buchstaben schon kannte; aber sie ist geizig mit Lob, das sagen alle, und sie duldet kein Geschwätz. Darum senkt Martha den Kopf und presst die Lippen zusammen, wenn das Fräulein Bigler vor ihr steht und ihre Schrift kontrolliert. Die Buchstaben seien zu flüchtig geschrieben, tadelt das Fräulein, aber auch wenn Martha sich Mühe gibt, sind sie nie gerade genug.

Das M möchte ich gerne einmal

über die ganze Seite schreiben

wie eine Tür, die sich öffnet.

Aber da bekäme ich eine Strafarbeit.

Die Mutter ist ihr fremder als der Vater, sie hat so viel zu tun, schaut manchmal durch die Kinder hindurch in die Ferne, als ob sie durchsichtig wären. Die Mädchen helfen ihr beim Waschen und Zusammenlegen der trockenen Hosen und Röcke. Aber manchmal scheint es, als ob sie ihre Hilfe gar nicht bemerkt, als ob jemand in ihr drin sie lähmt. Frieda versucht, sie am Rockzipfel hierhin und dorthin zu ziehen, die großen Buben maulen, wenn ihnen etwas verboten wird, und plötzlich schimpft sie laut mit ihnen, während der Vater stumm auf dem Sofa liegt. Nur selten hört man einen Seufzer von ihm. In letzter Zeit sagt er oft, wenn Martha bei ihm sitzt und seine Hand hält, sie solle ihn wärmen, aber ihre Hand wird so kalt von seiner, dass sie sich zu fürchten beginnt.

In der Suppe, die die Kinder abends löffeln, schwimmt kaum mehr Fleisch, sie ist dünn, hat keine Fettaugen, schmeckt nach Salz, davon haben sie noch genug. Aber satt wird man nicht davon. Es ist auch nicht klug, auf dem Schulweg unreife Äpfel aufzusammeln und in sie hineinzubeißen. Obwohl die Älteren davor warnen, ist Martha manchmal so hungrig, dass sie doch davon isst, danach bekommt sie Bauchweh. Eine Nachbarin vom übernächsten Hof weiter oben, Brigitte, bringt ihnen manchmal eine Schüssel Haferbrei, das ist dann für die Kinder schon fast ein Festessen, vor allem wenn Brigitte Zucker und Zimt darübergestreut hat. Die sechs Kinder verteilen den Brei gerecht, sie zählen die Löffel nach Altersjahren, im Rechnen sind sie alle geschickt. Martha bekommt sieben gestrichene Löffel, Karl elf, aber wenn er satt ist, gibt er den Jüngeren von seiner Portion, und er freut sich, wie dankbar sie sind. »Wir müssen zusammenhalten«, sagt er dann, und sie stimmen ihm zu. Die Mutter steht schweigend dabei, und niemand weiß, ob sie überhaupt noch isst. Sie werde immer dünner, flüstert Klara der Schwester in der Dunkelheit zu, sie sollten beten, dann helfe ihnen der liebe Gott. Sie murmeln fast unhörbar ihr Abendgebet, das, wie die nächsten Tage zeigen, doch nichts nützt.

Ein Mann von der Gemeinde kommt an einem Samstag im Herbst vorbei, er weicht den Pfützen auf dem Vorplatz aus, über seinem Bauch hängt eine Uhrenkette. Er scheucht die Kinder ins Freie, er wolle mit der Mutter reden. Die zwei stehen dann drinnen beim Fenster, man sieht ihre Umrisse, hört ein Gemurmel, der Vater ist zu schwach, um sich einzumischen. Dann geht der gewichtige Mann wieder, er scheint zornig zu sein, tritt nun sogar in die Pfützen. »Er will euch zu anderen Leuten geben«, sagt die Mutter zu den Kindern, »das will ich nicht.« Und dann fügt sie, kaum vernehmlich, hinzu: »Aber wir bekommen von der Gemeinde jetzt ein Armengeld.« Sie öffnet ihre Faust, in der Hand liegen zwei große Münzen. »Fünf‌liber«, sagt Karl beinahe ehrfürchtig. Für einen Fünf‌liber, das weiß Martha, bekommt man am Waldfest zwei große Lebkuchen und zwei Tafeln Schokolade, genug zum Teilen für die ganze Familie, denn das sind sie ja, die Nydeggers, eine Familie, auch wenn sie, das habe der Fürsorger gesagt, der Gemeinde auf der Tasche liegt. »Wir brauchen jetzt Mehl und Zucker«, sagt Klara. »Salz haben wir noch. Unterhemden für den Winter wären auch nötig, aber dafür reicht das Geld nicht.« Klara und Martha werden mit der Mutter ins Oberdorf gehen und beim Krämer das Nötigste einkaufen. Es ist fast so, als ob sie das Kommando übernommen hätten, denn die Mutter schweigt und nickt. Die Kinder stehen um die Mutter herum, der Vater scheint zu lauschen, aber er sagt nichts, er ist nahezu stumm geworden, nur ab und zu einen Schmerzenslaut lässt er hören, den Martha kaum aushält, denn sie möchte dem Vater, der auch immer übler riecht, die Schmerzen nehmen und kann es nicht. Die Schwestern waschen ihn, er schaudert vor dem kalten Brunnenwasser zurück, versucht, sie abzuwehren, aber sie knöpfen ihm das Hemd auf, säubern ihm den Oberkörper, für die Notdurft schiebt ihm die Mutter mit Mühe eine flache Schüssel unter den Hintern, leert sie dann draußen auf den Haufen mit Unrat. Einen richtigen Mist gibt es nicht, am Anfang hatten sie noch Kaninchen und Hühner, die sind nun seit Monaten verschwunden. Die Wahrheit ist, und das weiß Martha genau: Die Mutter hat die Tiere den Nachbarn verkauft.

Die Jungen, die Küken, habe ich manchmal

in die Hand genommen, sie waren so weich und warm.

Ihr Herz hat geklopft, das spürten meine Finger.

Ich legte sie zurück ins Nest. Sie haben mich beschützt.

Zwei Tage ist es her, da hat der Vater am Morgen aufgehört zu atmen, er sei nun nicht mehr unter ihnen, sagt die Mutter, als Martha hinter Frieda die steile Treppe vom Gaden hinuntersteigt. »Vielleicht ist es besser so«, murmelt die Mutter, sie murmelt noch etwas, das vielleicht ein Gebet ist. »Man muss die Gemeinde benachrichtigen«, sagt sie dann und schickt Karl, der sich in der Umgebung auskennt, mit der Todesnachricht zum Gemeindehaus. Die Kinder wissen nicht, wie sie sich verhalten sollen, Frieda und Klara beginnen zu weinen,...

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