Demenz - Land des Vergessens - Ein literarischer Erfahrungsbericht

Demenz - Land des Vergessens - Ein literarischer Erfahrungsbericht

von: Rita Lamm

Mabuse-Verlag, 2023

ISBN: 9783863216771

Sprache: Deutsch

119 Seiten, Download: 582 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Demenz - Land des Vergessens - Ein literarischer Erfahrungsbericht



Kapitel 1: Reisevorbereitungen


Dieses Buch möchte eine Einladung sein


Dieses Buch, das Sie vielleicht gerade in einer Buchhandlung in die Hand genommen haben, möchte eine Einladung sein. Vielleicht kennen Sie jemanden mit Demenz, vielleicht ist in Ihrer Familie, in Ihrem Freundeskreis jemand, der die Diagnose Demenz gestellt bekommen hat, und Sie denken mit gemischten Gefühlen an diesen Menschen und an Ihre Beziehung, an die Zukunft.

Sie fragen sich:

Wie soll ich damit umgehen?

Wie wird es sein, sich immer wieder mit diesem Wissen und der sich verändernden Situation zu begegnen?

Wie gehe ich mit der Ehefrau meines besten Freundes um?

Wie werden die vertrauten gemeinsamen Unternehmungen sich verändern? Sind sie überhaupt noch möglich?

Was kommt da auf uns alle zu?

In Deutschland gibt es zurzeit mehr als 1,6 Millionen Menschen mit Demenz. Laut Bundesgesundheitsministerium erkrankt weltweit alle drei Sekunden ein Mensch an Demenz. So ist es nicht verwunderlich, dass auch Sie früher oder später mit dieser Art von Sein in Berührung kommen. Mit diesem Buch möchte ich Sie mitnehmen und auf einem besonderen Weg begleiten. Es ist ein Weg in eine Welt, die viele fürchten und vielen ein großes Unbehagen bereitet.

Er ist voller Hindernisse und bringt uns in Situationen, die man nicht unbedingt erleben möchte. Aber wie auf jedem Weg gibt es auch positive Erlebnisse, wie auf jeder Wanderung gibt es auch schöne Aussichten und sonnige und bereichernde Erfahrungen.

Das Thema Demenz ist ein Lebensbereich, mit dem man eher nichts zu tun haben möchte. Aber vielleicht gelingt es Ihnen, eine andere Herangehensweise zu finden. Vielleicht gelingt es Ihnen, mehr zu erfahren über das Wesen der Begegnung zweier Menschen unter diesem Himmel, über das Lachen und das Weinen, das Zusammensein irgendwo zwischen Himmel und Erde. Ich möchte Ihnen von unvergesslichen Momenten erzählen, die sehr berührend waren, und von Begegnungen großer Intensität und Nähe.

Woher ich die Erfahrung habe, um dieses Buch zu schreiben?


Ich war und bin nah dran an dem Thema und ich kann aus einem reichen Fundus von alltäglichen und praxisnahen Erfahrungen schöpfen.

Ich kann aus der Perspektive der betroffenen An- und Zugehörigen erzählen.

Mein Vater litt fast zwölf Jahre lang an einer SAE; eine degenerative Hirnerkrankung, bei der kleinste Blutgefäße „verkalken“ und viele Fähigkeiten zunehmend verloren gehen. Ich begleitete ihn viele Jahre, vom Beginn der Erkrankung mit psychischen Leiden wie Depressionen, Ängsten, Wahnvorstellungen bis hin zu dem sogenannten Immigrieren (dem In-sich-Zurückziehen) und den endlosen Tagen und Nächten allein in einem Zimmer im Pflegeheim. Als er im Sterben lag, saßen meine Familie und ich eine Woche lang an seinem Bett und waren schließlich um ihn, als er starb.

Mehrere Jahre arbeitete ich als Pflegefachkraft in einer Wohngruppe für Menschen mit Demenz. In dieser intensiven Zeit bekam ich vermutlich nur den Hauch einer Ahnung, wie Menschen mit Demenz sich selbst und andere erleben. Viele der Personen, von denen ich erzählen werde, sind inzwischen verstorben.

Die Zeit, in der ich in der Demenz-WG arbeitete, war für mich eine neue besondere berufliche Herausforderung, aber auch eine neue zwischenmenschliche Erfahrung. Durch die professionelle Sicht auf die Themen Demenz und Altern erfuhr ich einen Perspektivwechsel, der mir sehr half, mit der Erkrankung meines Vaters besser klarzukommen. Es wurde mir möglich, ihn viel mehr so zu lassen, wie er war, ihn da zu lassen, wo er war. Irgendwo zwischen den Welten. Ich konnte seine Situation, seine Form des Seins und das, was es mit uns als Familie machte, viel besser akzeptieren, ja annehmen.

Auf meinen Touren von Haus zu Haus in der häuslichen oder auch ambulanten Pflege sah ich, wie viel Angehörige leisten und wie ihre Liebe, ihre Bereitschaft, sich für die Betroffenen aufzuopfern, sie manchmal langsam und stetig auslaugte. Ich sah, wie sie jede Stunde, Tag und Nacht, rund um die Uhr, über Jahre für ihre Liebsten da waren. Gemeinsam suchten wir nach Wegen, um den Alltag zu gestalten und Freiräume und Erholungsphasen zu schaffen für die Pflegenden. Gemeinsam überlegten wir, wie wir die Möbel umstellen konnten, um Stürze zu vermeiden, um das Zuhause den veränderten Fähigkeiten der Person mit Demenz anzupassen, damit sie länger zu Hause leben konnten und nicht ins Heim mussten.

Alt sein und alt werden, gebrechlich werden, ist, obwohl wir in einer stark alternden Gesellschaft leben, noch immer ein Tabubereich. Wenn es überhaupt geht, möchte ich den Betroffenen eine Stimme geben. All diesen Menschen, die in Seniorenheimen, Pflegeheimen, Seniorenresidenzen, Altenheimen oder wie die Verwahrungsorte für unsere Eltern und alternden Verwandten noch genannt werden, leben, die sich verloren und alleingelassen und unverstanden fühlen.

Kein klassischer Ratgeber


Dieses Buch soll kein „typischer Ratgeber“ mit Regeln von eins bis zehn sein: Wenn dies ist, tue dies usw. Es soll ein Türöffner sein, ein Schlüssel zum Herzen, zum eigenen und zu dem des Gegenübers. Wenn es gelingen würde, die Tür auch nur einen Spalt breit zu öffnen, wäre ich schon sehr froh.

Ich möchte nicht alles, was mit dem Thema Demenz und Alter zu tun hat, schönreden und bunt anmalen. Es soll auch keine Gefühlsduselei sein, wenn ich von berührenden Momenten spreche oder von bewegenden Erlebnissen. Demenz hat so viele Facetten! Ich möchte keine akademische Arbeit verfassen, Menschen mit Demenz darstellen oder gar klassifizieren und die verschiedenen Formen beschreiben. Dies ist in ihrer Vielfältigkeit und durch die persönlichen Schicksale gar nicht möglich.

Viele Seiten des Buches erzählen kleine Geschichten und Gedanken, die sich bildreich aneinanderreihen und mit Leich tigkeit gelesen werden können. So kann aus einzelnen Momenten und Begebenheiten ein Gesamtbild, ein Mosaik zusammenwachsen, und man kann sich in vielem wiederfinden. Mein Wunsch wäre es, dass Sie sich etwas verstanden, getröstet und gestärkt fühlen.

Auch möchte ich über meine Kolleg:innen, also Pflegende, Alltagsbetreuer:innen, Altenpfleger:innen, Gesundheits- und Krankenpfleger:innen sprechen, von deren besonderer Situation, ihrer „emotionalen“ Leistung und ihrem manchmal fast übermenschlichen Beitrag für eine wärmere und herzlichere Atmosphäre in Senioreneinrichtungen. Ich hoffe, dass auch sie sich hier gesehen und verstanden fühlen und sich wertvolle Tipps holen können.

Ich möchte in diesem Buch den An- und Zugehörigen einen großen Raum geben, über ihre manchmal übermächtigen Gefühle sprechen, Dinge benennen, die so mancher im stillen Kämmerlein mit sich ausmacht oder kaum aushält.

Ich möchte ihnen Hinweise geben, wo und wie man sich wertvolle Hilfe und Unterstützung holen kann.

Was man so denkt, über Menschen mit Demenz


In unserer Gesellschaft, die ihren Fokus auf Leistung, äußerlich sichtbare Werte, Gewinnmaximierung gesetzt hat, passen Menschen mit Demenz nicht in das Alltagsgeschehen, nicht ins Bild. Ja, sie scheinen wie eine große Zumutung, wie eine unfassbare Herausforderung. Menschen mit Demenz stören. Man versteht sie nicht. Sie sind wie Sand im Getriebe. Sie scheinen wie eine unheilvolle Bedrohung und wie eine Mahnung, die man nicht hören will. Sie bringen uns mit etwas in Kontakt, sie sprechen etwas in uns an, das wir nicht gebrauchen können, mit dem wir uns nicht auseinandersetzen wollen.

Wir wollen geistig fit sein, wir wollen alles verstehen und organisieren können, unser eigenes Leben regeln können. Die Veränderungen unserer Zeit erfassen und adäquat agieren und reagieren können. Wir wollen auf der (geistigen/mentalen) Höhe sein. So leben, dass wir alles gestalten können. So leben, dass wir auch neue Ideen und Aufgaben oder Herausforderungen unserer Zeit locker erfassen und verstehen können. Wir wollen up to date sein.

Menschen mit Demenz zeigen uns, wie es ist, nicht mehr zu funktionieren. Menschen mit Demenz sind die Verräter:innen unserer Errungenschaften, sie sind die, die sich eine Flucht erlauben, aus den Normen ausbrechen, die sie uns womöglich selbst ein Leben lang eingebläut haben.

Sie sind die, die flüchten, aus festen Strukturen, aus dem Status, alles zu wissen und zu können, aus dem Bild, alle Aufgaben unseres Lebens bewältigen zu können, auf alle Fragen eine Antwort zu haben. Sie sind die Gesellschaftsflüchtigen. Sie sind die, die uns verlassen, ganz still und heimlich oder laut und vehement, mit Geschrei und Flüchen Tag für Tag, Nacht für Nacht, über die Jahre …

Dabei gibt es doch den Spruch: „Keiner verlässt den Saal!“ Der Vater war doch immer verlässlich, er hat mich Treue und Pflichtbewusstsein und Korrektheit gelehrt. Auf ihn war ein Leben...

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