Mutter, wann stirbst du endlich? - Wenn die Pflege der kranken Eltern zur Zerreißprobe wird

Mutter, wann stirbst du endlich? - Wenn die Pflege der kranken Eltern zur Zerreißprobe wird

von: Martina Rosenberg

Blanvalet, 2012

ISBN: 9783641096755

Sprache: Deutsch

272 Seiten, Download: 547 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Mutter, wann stirbst du endlich? - Wenn die Pflege der kranken Eltern zur Zerreißprobe wird



Abschied

Die Lichter im Hafen von Heraklion werden immer kleiner. Ich stehe mit meinem Mann und unserer vierjährigen Tochter an der Reling des Schiffes. Wir starren auf die immer winziger werdende Insel Kreta. Aus dem Lautsprecher hinter uns quäkt eine Stimme: »Welcome on board …« In der warmen Abendluft vermischt sich intensiver Dieselgestank mit dem Geruch von Oregano und Pommes frites aus dem Selfservice nebenan. Stampfende Motorengeräusche im Hintergrund und die blechern klingende Sirtaki-Musik aus dem Lautsprecher machen eine Unterhaltung zwischen Jens und mir unmöglich. So hängen wir zu dritt unseren Gedanken nach.

Wir sind froh, endlich nach Deutschland zurückzukommen. Das Auto ist vollgepackt mit unseren Sachen, der Hund hätte fast nicht mehr hineingepasst. Er musste sich auf die Rückbank quetschen, er sieht ganz unglücklich aus.

»Mama!«, ruft Lena aufgeregt und zeigt auf die anderen Schiffe im Hafen.

Das zweite Schiff folgt uns mit einigem Abstand. Es läuft gerade aus dem Hafen aus und zieht eine riesige Rauchwolke hinter sich her. Lena hüpft vergnügt hin und her und unser Hund mit ihr. Sugar ist eine kretische Mischung aus Dobermann und Schäferhund, mit viel Temperament und viel Bellpotenzial.

»Feuer!«, schreit Lena auf einmal panisch.

Sie missversteht die Rauchsäule und sucht eine Erklärung. Um die Situation etwas zu entspannen, nimmt Jens den Hund an die Leine und geht mit ihm auf das Oberdeck, während ich mich mit Lena in das Innere des Schiffes begebe, wo es etwas ruhiger ist.

»Nein«, tröste ich sie, »das ist nur der Dieselmotor des Schiffes, der eine Menge Rauch ausstößt. Mach dir keine Sorgen.«

So schnell sie sich aufregt, beruhigt sie sich auch wieder. Später schläft sie vor Erschöpfung auf zwei zusammengestellten Stühlen ein.

Hinter uns liegen zwölf Jahre Kreta. Die finanzielle Stabilität, die ein Paar, besonders wenn das erste Kind da ist, braucht, kann Griechenland uns nicht mehr bieten. Die letzten Jahre waren turbulent. Wir wussten nie, ob wir am kommenden Tag vielleicht pleite sein würden und unsere Rechnungen nicht mehr zahlen könnten. Damit wird jetzt Schluss sein. Jens und ich wollen zurück nach Deutschland und eine stabile Zukunft für unsere kleine Familie aufbauen.

Die Entscheidung

Im Winter zuvor war die Entscheidung gefallen. Wir saßen mit meinen Eltern bei einem Glas Wein in deren Wohnzimmer und erzählten Geschichten aus Kreta. Auch, dass wir einen Umzug nach Süddeutschland planen.

»Na dann«, meinte meine Mutter. »Wenn ihr möchtet, könnt ihr in die Wohnung in den ersten Stock ziehen. Dein Bruder will ausziehen, er hat vor zu bauen.«

Verschmitzt schaute sie zu meinem Vater hinüber, der wie unbeteiligt in sein Weinglas grinste. Jens und ich waren überrascht. Die Wohnung würde frei! Was für ein Zufall.

»Wie hoch soll denn die Miete sein?«, wagte ich zu fragen.

»Nun, wir finden eine faire Lösung«, sagte meine Mutter.

Später am Abend, wir saßen allein in der Dachgeschosswohnung, diskutierten wir das Angebot. Ich schaute durch die Balkontür auf die Lichter am gegenüberliegenden Ufer des Sees. Sollten wir tatsächlich in das Haus einziehen, in dem ich groß geworden war?

»Ich bin mir nicht sicher, ob es klappen wird mit meinen Eltern«, begann ich.

»Ich habe meinerseits keine Bedenken«, konterte Jens. »Aber letztendlich bist du diejenige, die entscheiden muss, ob sie hier langfristig wieder wohnen will.«

Die ganze Nacht lag ich wach, und meine Gedanken kreisten um diese eine Sache. Meine Freiheit in Kreta habe ich genossen, dennoch haben mich die Großfamilien in Kreta beeindruckt. Ich dachte an meine griechischen Freunde. Viele von ihnen wohnten mit den Eltern, Großeltern und Kindern in einem Haus. Das Modell des Mehrgenerationenhaushalts unter einem Dach funktionierte gut in Griechenland. Jede fünfte Familie lebte dort mit mindestens zwei Generationen unter einem Dach.

Beim Frühstück konfrontierte ich Jens mit meinen Überlegungen: »Eine Zweckgemeinschaft mit meinen Eltern kann ich mir schon vorstellen. Wir helfen uns gegenseitig und profitieren beide davon. Das könnte mir gefallen. Ich denke, wir werden uns vertragen.«

Er strich gerade das Marmeladenbrötchen für Lena, die ihn dabei aufmerksam beobachtete.

»Wir übernehmen die Wohnung und sehen dann, ob es uns gefällt und ob wir mit der Situation zurechtkommen«, sagte Jens. »Es muss ja nicht für immer sein.«

Selbstverständlich musste nichts für die Ewigkeit sein. Da waren wir uns schon immer einig gewesen. Und eine Großfamilie könnte auch in Deutschland funktionieren. Bisher lebte hier nur etwa eine von hundert Familien auf diese Art zusammen, wir waren uns schnell einig, dass wir diese Quote erhöhen wollten. Noch am Frühstückstisch trafen wir unsere Entscheidung gemeinsam mit unserer Tochter, die wie erwartet begeistert auf die Nachricht reagierte, obwohl sie in ihrem Alter die Tragweite kaum begreifen konnte. Im November war Ende der Saison in Griechenland, die meisten Hotels schlossen, und wir könnten zurück nach Deutschland und die Wohnung übernehmen.

Hastig trank ich meinen Kaffee aus, ich wollte nicht mehr warten, es meinen Eltern mitzuteilen.

»Ich geh mal runter und sag ihnen Bescheid«, rief ich Jens zu und war schon weg.

»Das ist ja prima!« Meine Mutter wirkte erleichtert. »Da freue ich mich wirklich.«

Plötzlich ging mir ein Gedanke durch den Kopf: Was wäre gewesen, wenn wir Nein gesagt hätten? Hätte ich das überhaupt gewagt? Ein Mieter wäre laut meiner Eltern überhaupt nicht infrage gekommen!

»Was hättet ihr denn eigentlich gemacht, wenn wir die Wohnung nicht übernommen hätten?«, fragte ich dann doch.

»Och«, gab meine Mutter zurück, »da will ich gar nicht drüber nachdenken.« Geschäftig bearbeitete sie mit dem Trockentuch das Geschirr.

»Wir hätten das Haus verkauft!«, rief mein Vater und grinste mal wieder.

Er saß im Esszimmer und las Zeitung. Ich habe immer den Eindruck, er hört gar nicht zu, aber völlig unerwartet kommt dann ein bissiger Kommentar von ihm.

»Das wäre tatsächlich auch eine Möglichkeit«, konterte ich frech. »Aber das könnt ihr ja dann immer noch machen, falls wir wieder ausziehen sollten.«

Meine Mutter verzog das Gesicht. »Nur über meine Leiche«, schimpfte sie. Sie wollte sich ganz offensichtlich nicht die Laune von uns verderben lassen und hantierte weiter mit ihrem Geschirr.

Ich setzte mich zu meinem Vater und hoffte auf ein persönliches Gespräch. »Was sagst du denn dazu? Gefällt dir die Idee auch?«

Er blickte mich an und wirkte leicht irritiert. Vor ihm stand, wie jeden Morgen, seine zweite Tasse Kaffee mit einem Schuss Milch und Süßstoff. Sein Blick sprach für sich: Direkte Fragen mochte er nicht. Dinge wie diese klärte immer seine Frau für ihn. Überhaupt mochte er persönliche Gespräche nicht gern, zumindest mit mir und meinen Geschwistern nicht. Um sich seine Verlegenheit nicht anmerken zu lassen, lachte er gern mal am falschen Platz, wo es eigentlich nichts zu lachen gab. Es hatte sich in den letzten fünfunddreißig Jahren nichts geändert. Der Dialog mit seinen Kindern fiel ihm immer noch schwer. Vor allem, wenn es um etwas Persönliches ging.

»Deine Mutter hat dir doch schon gesagt, dass es eine prima Idee ist, oder?« Und wie eh und je unterbrach er die Konversation mit einer blöden Bemerkung: »Es sind mir dann zwar fast etwas zu viele Frauen im Haus, aber ich muss das wohl aushalten. Haha!«

Sein Lachen lenkte die Aufmerksamkeit meiner Mutter auf uns. Sie kam aus der Küche und fragte: »Was ist denn hier los? Was gibt’s denn da zu lachen?«

»Nichts«, sagte ich und ging grübelnd wieder nach oben.

Es war immer dasselbe mit ihm. Ich kam einfach nicht an ihn ran. Dabei hätte er doch ganz normal antworten können. Mein Vater war und blieb der Macho in der Familie. Meine Mutter gehörte zu der Generation, in der die Frauen dem Mann hundertprozentig den Rücken freihielten. Sie kümmerte sich um die Kinder und deren Erziehung, das Haus, die Finanzen und alles, was zum Leben einer Familie mit drei Kindern dazugehörte. Mein Vater kümmerte sich ausschließlich um seine Arbeit. Immerhin war er Schulleiter und hatte viel zu tun. Wenn er, gestresst von der Schule, am Mittagstisch saß, mussten alle mucksmäuschenstill sein.

Jens und Lena waren mit dem Hund in den Garten gegangen. Draußen lag Schnee, und die beiden hatten sich den Schlitten geholt. Sugar hatte die Aufgabe, den Schlitten zu ziehen, während Lena quietschend versuchte, sich darauf festzuhalten. Mein Blick ruhte auf dem Garten, in dem ich groß geworden war, und ich erinnerte mich an ein Ereignis, das bezeichnend war für die angespannte Atmosphäre zu Hause: Meine Eltern und ich aßen zu Mittag, ohne zu sprechen. Ich verursachte versehentlich mit meiner Gabel auf dem Teller ein hässliches Quietschgeräusch, was dazu führte, dass mein Vater aufstand, wutentbrannt die Serviette auf den Tisch warf und davonrauschte. Zurück blieben meine etwas überraschte und um Verständnis heischende Mutter und ich als völlig schockierte Tochter.

Seine Nerven lagen viele Male blank, wenn er von der Schule kam. Meine Mutter versuchte dies immer auszugleichen. Sie warnte uns Kinder schon oft vor der Heimkehr des Vaters mit den Worten: »Seid bitte rücksichtsvoll und plappert nicht gleich los. Vati hatte einen anstrengenden Vormittag und braucht Ruhe.«

Das sah dann eben so...

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