Der Horizont - Roman

Der Horizont - Roman

von: Patrick Modiano

Paul Zsolnay Verlag, 2013

ISBN: 9783446244399

Sprache: Deutsch

176 Seiten, Download: 3518 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Der Horizont - Roman



Seit einiger Zeit dachte Bosmans an gewisse Episoden seiner Jugend, folgenlose, jäh abgebrochene Episoden, namenlose Gesichter, flüchtige Begegnungen. Das alles gehörte zu einer fernen Vergangenheit, doch weil diese kurzen Sequenzen nicht verbunden waren mit dem Rest seines Lebens, blieben sie in der Schwebe, in einer ewigen Gegenwart. Er würde nicht aufhören, sich Fragen zu stellen, und er würde nie eine Antwort erhalten. Diese Bruchstücke würden für ihn immer rätselhaft sein. Er hatte angefangen, eine Liste anzulegen, und trotz allem versucht, Bezugspunkte wiederzufinden: ein Datum, einen genauen Ort, einen Namen, dessen Schreibweise er nicht mehr wusste. Er hatte sich ein Notizbuch aus schwarzem Moleskin gekauft, das er in der Innentasche seines Jacketts trug, was ihm erlaubte, zu jeder beliebigen Tageszeit Aufzeichnungen zu machen, jedesmal, wenn ihm eine seiner lückenhaften Erinnerungen durch den Kopf ging. Er hatte den Eindruck, sich in einem Geduldspiel zu üben. Doch während er den Lauf der Zeit zurückverfolgte, spürte er zuweilen ein Bedauern: Warum hatte er diesen Weg eingeschlagen und nicht einen anderen? Warum hatte er zugelassen, dass sich dieses Gesicht oder jene Silhouette, die eine lustige Pelzkappe trug und ein Hündchen an der Leine führte, im Unbekannten verlor? Schwindel erfasste ihn bei dem Gedanken an das, was hätte sein können und nicht gewesen war.

Diese Erinnerungsfetzen bezogen sich auf die Jahre, in denen das Leben voller Kreuzungspunkte ist und so viele Alleen sich vor einem auftun, dass man die Qual der Wahl hat. Die Wörter, mit denen er sein Notizbuch füllte, gemahnten an den Artikel über »dunkle Materie«, den er an eine Zeitschrift für Astronomie geschickt hatte. Er fühlte nur allzugut, was alles, hinter den genauen Ereignissen und vertrauten Gesichtern, zu dunkler Materie geworden war: kurze Begegnungen, verpasste Rendezvous, verlorene Briefe, Vornamen und Telefonnummern, die in einem alten Taschenkalender stehen und die man vergessen hat, und all die Frauen und Männer, deren Wege man gekreuzt hat, ohne es überhaupt zu wissen. Wie in der Astronomie war diese dunkle Materie gewaltiger als der sichtbare Teil des Lebens. Sie war unendlich. Und er, er verzeichnete in seinem Notizbuch ein paar schwach flimmernde Lichtpunkte in der Tiefe dieser Finsternis. So schwach flimmerten diese Lichtpunkte, dass er die Augen schloss und sich konzentrierte, auf der Suche nach einem bedeutungsschweren Detail, das ihm erlauben würde, das Ganze wiederherzustellen, doch es gab kein Ganzes, nur Splitter, Sternenstaub. Gern wäre er eingetaucht in diese dunkle Materie, hätte die abgerissenen Fäden einen nach dem andern wieder miteinander verknotet, ja, wäre umgekehrt, um die Schatten festzuhalten und mehr über sie zu erfahren. Unmöglich. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als die Namen wiederzufinden. Oder auch die Vornamen. Sie wirkten wie Magnete. Sie förderten wirre Eindrücke zutage, die nur schwer zu erhellen waren. Gehörten sie dem Traum oder der Wirklichkeit?

Mérovée? Ein Name oder ein Spitzname? Man durfte sich nicht allzusehr darauf konzentrieren, aus Furcht, das Flimmern könnte ein für allemal erlöschen. Mérovée. So tun, als denke man an etwas anderes, das einzige Mittel, damit die Erinnerung ganz von alleine klarer wird, auf natürliche Weise, ohne Zwang. Mérovée.

Er ging die Avenue de l’Opéra entlang, abends gegen sieben. Lag es an der Uhrzeit, an diesem Viertel nahe der Grands Boulevards und der Börse? Mérovées Gesicht tauchte vor ihm auf. Ein junger Mann mit blonden Locken und einem Gilet. Er sah ihn sogar als Groom gekleidet – einer von diesen Grooms vor Restauranteingängen oder an den Rezeptionen der Grandhotels, mit ihren Mienen frühzeitig gealterter Kinder. Auch er, dieser Mérovée, hatte ein trotz seiner Jugend verwelktes Gesicht. Angeblich vergisst man Stimmen. Und trotzdem hörte er noch den Klang seiner Stimme – ein metallischer Klang, ein gezierter Ton, in dem er Unverschämtheiten sagte, die sich anhören sollten wie von einem Gassenjungen oder einem Dandy. Und dann plötzlich Greisengelächter. Es war unweit der Börse, abends gegen sieben, kurz nach Büroschluss. Von überallher strömten die Angestellten in dichten Gruppen, und es waren so viele, dass sie einen auf dem Trottoir schubsten und dass man mitgerissen wurde in ihrer Flut. Dieser Mérovée und zwei, drei andere Personen derselben Gruppe kamen aus dem Gebäude. Ein dicker, weißhäutiger Bursche, unzertrennlich von Mérovée, hing immerzu mit verschüchterter und zugleich bewundernder Miene an seinen Lippen. Ein Blonder mit knochigem Gesicht trug eine getönte Brille und einen Siegelring und schwieg die meiste Zeit. Der älteste von ihnen mochte etwa fünfunddreißig sein. An sein Gesicht erinnerte sich Bosmans deutlicher als an das von Mérovée, ein aufgedunsenes Gesicht, eine kurze Nase, durch die er einen Bulldoggenschädel bekam, unter dem glatt nach hinten gebürsteten brünetten Haar. Er lächelte nie und gab sich sehr autoritär. Bosmans hatte zu verstehen geglaubt, dass er ihr Büroleiter war. Er redete streng mit ihnen, als sei er für ihre Erziehung verantwortlich, und die anderen hörten ihm zu, wie brave Schüler. Nur hin und wieder erlaubte sich Mérovée eine unverschämte Bemerkung. An die anderen Gruppenmitglieder erinnerte sich Bosmans nicht. Schatten. Das Unbehagen, das dieser Name, Mérovée, bei ihm auslöste; er spürte es von neuem, nachdem zwei Wörter wieder in seinem Gedächtnis aufgetaucht waren: die »Fröhliche Bande«.

Eines Abends, als Bosmans wie gewöhnlich vor dem Gebäude auf Margaret Le Coz gewartet hatte, waren Mérovée, der Büroleiter und der Blonde mit der getönten Brille als erste herausgekommen und auf ihn zugegangen. Der Büroleiter hatte ihn ohne Umschweife gefragt:

»Wollen Sie der Fröhlichen Bande angehören?«

Und Mérovée hatte sein Greisengelächter angestimmt. Bosmans wusste nicht, was er antworten sollte. Die Fröhliche Bande? Der andere, immer noch mit seinem strengen Gesicht, mit seinem harten Blick, hatte gesagt: »Das sind wir, die Fröhliche Bande«, und Bosmans hatte das eher komisch gefunden, wegen des schaurigen Tons, den er angeschlagen hatte. Doch während er die drei an jenem Abend betrachtete, hatte er sich vorgestellt, wie sie mit dicken Knüppeln in der Hand über die Boulevards zogen und von Zeit zu Zeit überraschend auf einen Passanten einschlugen. Und jedesmal hätte man Mérovées piepsiges Lachen gehört. Er hatte ihnen gesagt:

»Was die Fröhliche Bande betrifft … lassen Sie mir noch ein wenig Bedenkzeit.«

Die anderen schienen enttäuscht. Im Grunde hatte er sie kaum gekannt. Er war nicht öfter als fünf-, sechsmal allein mit ihnen zusammengewesen. Sie arbeiteten im selben Büro wie Margaret Le Coz, und von ihr waren sie ihm vorgestellt worden. Der Brünette mit dem Bulldoggenschädel war ihr Vorgesetzter, und sie musste freundlich zu ihm sein. An einem Samstagnachmittag hatte er sie auf dem Boulevard des Capucines getroffen, Mérovée, den Büroleiter und den Blonden mit der getönten Brille. Sie kamen aus einer Turnhalle. Mérovée hatte gedrängt, dass er auf »ein Glas und eine Makrone« mit ihnen komme. Er war auf der anderen Seite des Boulevards gelandet, an einem Tisch der Teestube La Marquise de Sévigné. Mérovée schien begeistert, dass er sie alle in dieses Lokal geschleppt hatte. Er rief eine der Kellnerinnen herbei, in Stammgastmanier, und bestellte mit schneidender Stimme »Tee und Makronen«. Die beiden anderen betrachteten ihn mit einer gewissen Nachsicht, was Bosmans bei dem Büroleiter erstaunt hatte, der ja normalerweise so streng war.

»Also, was unsere Fröhliche Bande angeht … haben Sie eine Entscheidung getroffen?«

Mérovée hatte Bosmans in barschem Ton die Frage gestellt, und dieser suchte nach einer Ausrede, um aufzustehen. Er hätte ihnen zum Beispiel sagen können, er müsse telefonieren gehen. Dann würde er sich davonschleichen. Aber er dachte an Margaret Le Coz, die ihre Bürokollegin war. Er lief Gefahr, ihnen jeden Abend wiederzubegegnen, wenn er sie abholte.

»Also, was ist, haben Sie Lust, Mitglied unserer Fröhlichen Bande zu werden?«

Mérovée drängte, immer aggressiver, als wollte er Bosmans herausfordern. Man hätte glauben können, die zwei anderen machten sich bereit, einem Boxkampf zu folgen, der Brünette mit dem Bulldoggenschädel zeigte ein feines Lächeln, der Blonde war völlig unbewegt hinter seiner getönten Brille.

»Wissen Sie«, hatte Bosmans mit ruhiger Stimme erklärt, »seit Internat und Kaserne mag ich keine Banden mehr.«

Mérovée hatte, von dieser Antwort aus der Fassung gebracht, sein Greisengelächter angestimmt. Sie hatten von etwas anderem gesprochen. Der Büroleiter hatte Bosmans mit ernster Stimme erklärt, dass sie zweimal pro Woche in die Turnhalle gingen. Sie trainierten mehrere Sportarten, darunter französisches Boxen und Judo. Sogar ein Fechtsaal mit Fechtlehrer sei vorhanden. Und samstags meldeten sie sich an zu einem »Crosslauf« oder einer »Aschenbahn« im Bois de Vincennes.

»Sie sollten mit uns Sport treiben …«

Bosmans hatte das Gefühl, er gebe ihm einen Befehl.

»Ich bin sicher, dass Sie nicht genug Sport treiben …«

Er schaute ihm gerade in die Augen, und Bosmans hatte Mühe, diesem Blick standzuhalten.

»Also, kommen Sie mit uns Sport treiben?«

Ein Lächeln erhellte sein dickes Bulldoggengesicht.

»Einverstanden mit einem Tag nächste Woche? Ich melde Sie in der Rue Caumartin an?«

Diesmal wusste Bosmans nicht mehr, was er antworten sollte. Ja, diese...

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