Kein Paar wie wir - Roman

Kein Paar wie wir - Roman

von: Eberhard Rathgeb

Carl Hanser Verlag München, 2013

ISBN: 9783446242715

Sprache: Deutsch

192 Seiten, Download: 1198 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Kein Paar wie wir - Roman



  4


Kaum waren sie wach, begannen sie miteinander zu reden. Sie redeten den ganzen Tag. Zwischen neun und zehn Uhr saßen sie am runden Wohnzimmertisch beim Frühstück. Den Tisch, die Stühle und die Vitrine, in der das alte und nicht mehr benutzte Tee- und Kaffeegeschirr verwahrt wurde, hatten sie aus dem Elternhaus mitgenommen.

»Sie lernen nichts mehr«, sagte Vika.

»Ah non.«

Ruth schüttelte den Kopf. Vika und sie hatten in der Schule viel lernen müssen.

Man kommt im Leben nicht weit, wenn man nichts weiß, dachte sie.

»Sie können keine Gedichte mehr auswendig aufsagen«, ergänzte Vika. »Keinen Goethe, keinen Schiller, keinen Mörike.«

»Keinen Mörike …«, sagte Ruth leise.

Sie hatte alle Gedichte vergessen, die sie einmal auswendig gewusst hatte. Ihr Gedächtnis war schlecht, und es wurde immer schlechter, aber das war nicht schlimm, solange sich Vika erinnerte. Ständig sprachen sie über ihr vergangenes Leben. Sie waren Wühlmäuse, unablässig wälzten sie die Vergangenheit wie Erde um, unterhöhlten die Gegenwart, und auf diese Weise verloren die Tage die Schwere der Eintönigkeit und wurden leichter. Andere ihres Alters, die alleine waren oder nicht miteinander zu reden wussten, waren den zähen Stunden der Langeweile ausgeliefert.

»Zehn, zwanzig Gedichte, das ist doch nicht zu viel verlangt«, insistierte Vika.

Was haben sie bloß in ihren Köpfen, dachte sie. Was ist da draußen los. Die Politiker sind korrupt, die Wirtschaft stagniert. Aber kaum einer geht auf die Straße, um zu protestieren. Es bleibt ruhig. Keine Demonstrationen, keine Polizei, es fallen keine Schüsse. Diese Zeiten sind vorbei.

»Du kannst es. Du kannst noch Gedichte auswendig aufsagen.«

Vika hat ein gutes Gedächtnis, dachte Ruth. Sie vergisst nichts. Was sie gelernt hat, das behält sie.

Die weiße Tischdecke war an manchen Stellen zerschlissen. Auch bei den Eltern hatte eine weiße Decke auf dem Esstisch gelegen. Sie fuhr mit der Hand darüber.

Ein Esstisch muss eine weiße Decke haben, dachte sie. Man erkennt ein gutes Restaurant schon daran, ob es weiße Tischdecken hat. Wenn wir ausgingen, dann nur in gute Restaurants.

»Die jungen Leute sitzen den ganzen Tag vor dem Computer«, sagte Vika.

Sie aß langsam, in kleinen Häppchen. Ruth saß ihr gegenüber. Sie hatten ihre angestammten Plätze. Nie setzten sie sich auf andere Plätze, nie nebeneinander. Für sie war es am besten, wenn sie einander gegenübersaßen.

Sie wirkt müde, dachte Vika. Sie müsste sich mehr bewegen, sie müsste an die frische Luft gehen, aber sie verlässt die Wohnung nicht. Sie hat Angst, auf die Straße zu gehen. Sie hat Angst, wieder zu stolpern. Ich konnte sie nicht halten, sie ist zu schwer, ich bin zu schwach. Ein Glück, dass sie sich keinen Knochen brach. Ein verstauchter Fuß, Schürfungen, mehr war es nicht. Man muss achtgeben, wohin man tritt, wenn man alt ist.

Sie selbst war noch gut auf den Beinen. Sie lief langsam, aber sicher, sie sah jede Unebenheit auf dem Bürgersteig. Der Verkehr störte sie nicht, er machte sie nicht nervös. Noch vor zwei Jahren war sie Auto gefahren. Sie war vorsichtig, ging nur bei Fußgängerampeln über die Straße.

»Vor dem Computer, wo sonst«, sagte Ruth. »Die jungen Leute sind ganz besessen vom Computer.«

Die Tischdecke trug das Monogramm der Familie. Die Mutter hatte es gestickt, in alle Servietten und in alle Tischdecken. Die Servietten steckten in silbernen Ringen und lagen bei den Mahlzeiten neben den Tellern, sauber, frisch gebügelt. Alles hatte seinen Platz, nirgends fand sich ein Staubkorn, ein Krümel. Keine Unordnung und kein Überfluss.

»Wir besitzen keinen Computer«, sagte Vika. »Das hätte uns noch gefehlt, dass wir uns einen Computer kauften. In unserem Alter.«

Wozu, dachte sie, brauchen wir beiden alten Frauen einen Computer. Noch kann ich laufen. Noch gehe ich auf die Straße.

Sie hatten ein Telefon, sie hörten Radio.

»Wir haben nie einen vermisst«, stimmte ihr Ruth zu.

»Auch keinen Fernseher.«

»Das Leben ist zu kurz, um es vor einem Fernseher zu verbringen«, sagte Ruth.

Wir hören täglich Nachrichten, dachten sie. Wir sitzen in unserem Bunker und hören, was draußen vor sich geht. Die Deutsche Welle. Man muss wissen, was um einen herum passiert. Man kann sich nicht vor der Welt abschotten. Wer nichts weiß, kann sich nicht vorsehen. Sie werden das Land ruinieren.

Ruth blickte auf ihre weichen Hände, die kraftlos neben dem Teller lagen, dann sah sie ihre Schwester an.

Ohne sie, dachte Ruth, wüsste ich nicht weiter. Der Ring ist ein Erbstück. Nach uns kommt nichts. Niemand. Es wird alles verloren gehen. Wir werden entrümpelt. Wir sollten die guten Sachen vorher verschenken. Aber an wen? Die Bilder. Der Schmuck.

»Das Fernsehprogramm ist schlecht«, sagte Vika und wischte mit der Hand die Brotkrümel zusammen, die neben ihren Teller gefallen waren.

Zuhause hatten wir eine Tischbürste, dachte sie. Wir schüttelten die schweren Tischdecken nicht aus, sondern bürsteten die Krümel mit einer Tischbürste weg. Eine silberne Tischbürste.

»Seit Jahren haben wir nicht mehr ferngesehen«, sagte Ruth. Ihre Stimme klang belegt.

»Haben wir etwas verpasst?«, fragte Vika triumphierend.

Was ist mit ihrer Stimme, dachte sie. Sie darf sich nicht erkälten. Eine Lungenentzündung in unserem Alter ist tödlich. Die Heiserkeit kommt vom Ventilator. Wir sollten ihn nicht so oft anmachen.

»Nichts haben wir verpasst«, sagte Ruth.

Sie strich sich über das Haar. Die Armreifen klapperten.

Erbstücke, dachte sie.

»Möchtest du noch ein Toastbrot?«, fragte Vika und reichte ihr den Korb.

»Ja«, sagte Ruth.

»Und noch eine Tasse Tee?«

»Ja, schenk mir bitte noch eine Tasse Tee ein.«

Jeden Tag fragte sie ihre Schwester, ob sie noch ein Toastbrot essen und noch eine Tasse Tee trinken wolle. Immer sagte Ruth, ja, sie wolle noch eine Tasse Tee trinken und noch ein Toastbrot essen, und Vika reichte ihr den Brotkorb und schenkte ihr Tee ein. Was auch immer sie machten, sie hatten es schon einmal gemacht. Nur die Nachrichten waren neu. Die beiden Schwestern kannten einander gut, sie würden sich nicht mehr ändern, bei ihnen blieb alles beim Alten. Aber die Welt draußen bewegte sich, und oft ängstigten sie sich vor der Unruhe, die sich in ihnen ausbreitete, wenn sie Nachrichten hörten. Dann waren sie froh, drinnen zu sein, in ihren vier Wänden. Zu viel Bewegung ging über ihre Kräfte.

»Tee ist viel bekömmlicher als Kaffee«, sagte Vika, während sie sich auf dem Stuhl zurechtrückte. Sie stütze sich mit dem Ellbogen auf dem Tisch ab, zog sich auf diese Weise in die Höhe, als befürchtete sie, unter dem Tisch zu verschwinden.

»Gut, dass wir keinen Kaffee trinken«, bestätigte Ruth.

»Seit Jahren trinken wir keinen Kaffee.«

Es ist alles eine Frage der Gewohnheit und der Disziplin, dachte Vika. Man darf sich nicht gehen lassen, sonst verlottert man.

»Wegen des Herzens.«

»Wir essen auch keine Butter«, sagte Vika.

Margarine zum Frühstück, Olivenöl für den Salat, dachte sie.

»Wegen des Cholesterins«,sagte Ruth.

Sie aßen und schwiegen.

Wir sind gesund, dachte Vika. Noch sind wir gesund. Wir sind alt, aber gesund. Wir passen auf uns auf, ich passe auf uns beide auf. Man muss auf sich achtgeben, langsam essen, häufig kauen. Was hastig gemacht wird, das misslingt. Jedes Ding braucht seine Zeit. Wir sind vernünftig, wir können unseren Kopf gebrauchen, wir haben etwas gelernt, uns kann man nichts so leicht vormachen. Wir unterschreiben nur, was wir genau studiert haben. Ich zähle das Geld nach, das ich beim Einkaufen zurückerhalte. Wir lesen Zeitung.

»Wir wurden sofort in die englische Schule geschickt«, sagte sie.

Ein Glück, dachte sie, dass wir in die englische Schule gingen. Wo hätten wir besser Englisch lernen können als dort.

»Der Vater«, ergänzte Ruth, »verbot uns, in die deutsche Schule zu gehen. Er ahnte, was kommen würde.«

Nicht zu den Deutschen, nicht zu den Nazis, sagte er, dachte sie. Wir sprachen kein Wort Englisch, aber wir gingen sofort in die englische Schule. Recht hat er getan, uns dorthin zu schicken.

»Die englische Schule war die beste«, sagte Vika. »Keine andere Schule war besser als die englische. Wir sprachen bald perfekt Englisch. Als wären wir kleine Engländerinnen.«

Die Engländer waren die Erzfeinde der Nazis, dachte sie. Die Russen und die Engländer. Stalin und Churchill.

Sie schob den Teller von sich weg, sie war mit dem Frühstück fertig. Ein Toastbrot und eine Tasse Tee reichten ihr. Nie aß sie mehr. Sie war klein von Wuchs, sie brauchte nicht mehr zu sich zu nehmen. Sie achtete auf ihr Gewicht, auf die Kalorien. Ein Pfund zu viel war nicht gesund.

Es ist gesünder, dachte sie, wenig zu essen und das ideale Gewicht zu halten. Die Dicken sterben früher. Mutter war eine Ausnahme, sie war dick und wurde alt. Der Tod vergaß sie. Er übersah sie, weil sie immer in der Ecke saß und keinen Ton von sich gab. Der Tod kam ins Haus, fand sie nicht und ging wieder weg. Hätte sie etwas gesagt, hätte sie sich bewegt, hätte der Tod sie gefunden und mitgenommen.

»Unser Englisch war perfekt«, sagte Ruth.

Sie strich mit der Hand über ihren dunkelgrauen Rock. Man muss, dachte sie, gut gekleidet und frisiert sein. Man darf sich nicht gehen lassen. Man muss sich sehen lassen können, gerade wenn man nicht mehr aus dem Haus und unter Menschen geht. Wer gut gekleidet ist, der hält etwas auf sich, der verkommt nicht.

»Keiner kam darauf, dass wir Deutsche waren«, sagte Vika....

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